„Aber wenn Du mal alt bist, dann wirst Du froh sein, wenn Du nicht alleine bist.“ Dieses Argument hielt ich immer für das dümmste der allesamt nicht überzeugenden Argumente der Heiratsbefürworter, die in mir Eheverweigerer eine Gefahr für Moral, Abendland, Fortpflanzung der menschlichen Rasse oder traditionelle Familienbilder und Lebensplanungen sahen. Seit ich es zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich diesem „Altsein“ um weitere 20 Jahre angenähert. Aber noch immer bereitet mir die Vorstellung des Alleinseins mehr Freude als Angst, im Alter genauso wie im Jetzt. Solange ich einen regelmäßigen Nachschub an Büchern habe, wird mir nicht langweilig. Die Welt ist groß und spannend, da brauche ich niemandem im Wohnzimmer zu sitzen haben, die mir jeden Tag die gleichen Fragen stellt oder auch nach Dekaden des ergebnislosen Lamentierens noch meinen Kleidungsstil kritisiert.
Diese Argumentationslinie, die ich „Partnerschaft als Altersvorsorge“ nenne, klingt mir zu sehr nach einer Versicherung. Diejenigen Bekannten, die mir damit die Vorzüge der Ehe verdeutlichen wollten, schauten dabei zu oft so bedrückt drein, wie wenn sie wüßten, daß 30 Jahre Unfreiheit versicherungsmathematisch die bei weitem nicht sichere Aussicht auf potentielle Einsamkeitslinderung ab 65 nicht wert sind. Bezeichnenderweise muß ich mir dieses Argument nie anhören, wenn ein Paar zusammen auftritt. Selbst dem größten Gefühlstrampel wäre dann nämlich klar, wie armselig es ist, über den Partner zu sagen: „Es stimmt schon, daß ich mich jetzt für lange Zeit in der freien Entfaltung meiner Persönlichkeit einschränken muß, und ja, manchmal ist sie auch wirklich nervig. Aber wenn ich alt bin, muß ich mir dafür nicht selbst die Insulinspritzen geben.“
Ich hingegen lebe eher nach dem Motto „I will cross that bridge when I get there“. Wenn ich also mal mit 85 Jahren das Bedürfnis habe, den Frühstückstisch anstatt mit der Zeitung mit einer Person zu teilen, dann werde ich mich eben dann auf die Suche machen.
Ähnliches muß ich mir über mein Vagabundenleben anhören. Als ich 2009 aus Deutschland ausgewandert bin, hörten sich die meisten Verabschiedungen in etwa so an: „Na, dann bis in einem Jahr oder so, wenn Du wieder zurückkommst“. Den unausgesprochenen Nachsatz „und wenn Du wieder zur Vernunft gekommen bist“ konnte ich deutlich mithören. Selbst jetzt, nachdem ich in vier Jahren in vier verschiedenen Ländern gelebt habe und noch immer keinerlei Drang zur Rückkehr nach Deutschland verspüre, muß ich mir bei jedem – zugegeben seltenen – Telefonat mit Familienangehörigen die gleiche Leier anhören: „Na, irgendwann wirst Du doch mal wieder seßhaft werden,“ verbunden mit der Hoffnung, daß ich nach Deutschland, am besten in den Heimatlandkreis, zurückziehe und wieder als Rechtsanwalt arbeite. Manche scheinen zu glauben, daß man ab einem bestimmten Alter nicht mehr reisen kann, darf oder will, sondern unbedingt eine Hypothek aufnehmen und einen Gemüsegarten anlegen muß. Eine Horrorvorstellung.
Aber jetzt, nach dieser Einleitung, deren Länge auch dem unerfahrendsten Leser deutlich macht, weshalb keine meiner Geschichten jemals einer professionellen Veröffentlichung anheim fallen wird, endlich zu dem, wovon ich eigentlich erzählen wollte:
Es war Mitte November. Die Tage waren schon kurz; die Zeit, in der die Sonne ausreichend Wärme gab, noch kürzer. Es war früher Nachmittag, und ich hatte nur zwei bis drei verbleibende Stunden, bis es kühler und dann dunkel werden würde. Also schnappte ich mir ein Buch und eine Zigarre und ging am Meer entlang, bis ich eine dasselbe überblickende Bank fand, die ich zu meiner temporären Bleibe erkor. An dieser Stelle sollte ich vermutlich erwähnen, daß ich in Sizilien wohne, und zwar direkt am Meer.
Ich las eine Novelle von Elio Vittorini, die sich langatmig und handlungsarm durch das Sizilien der 30er Jahre zog. Sie traf den Puls des ruhigen, ausklingenden Nachmittags. Die notwendige Würze verlieh eine starke Toscana-Zigarre. Meine Ruhe wurde nur einmal kurz unterbrochen durch ein spazierengehendes älteres Paar, das, nachdem es mich erblickt und meinen Gruß erwidert hatte, in offensichtlicher Enttäuschung darüber, daß die von ihnen angestrebte Bank von einem qualmenden Bücherwurm besetzt war, kehrt machte.
Einige Kapitel später und schon fast am Ende der Zigarre angekommen, wurde meine Ruhe das zweite Mal unterbrochen. Ein älterer Mann stoppte seine Fahrt, lehnte sein Fahrrad ans Geländer ein paar Meter seitlich vor mir und wahrte, auf das Meer blickend, einen Höflichkeitsabstand. Er war nicht mehr jung, aber er sah fit aus – und irgendwie glücklich. Als ich halb in die Ferne auf die Insel Stromboli, halb auf den pausiereden Radfahrer blickte, drehte er sich um.
„Ciao“ sagte er freundlich.
„Buonasera“ erwiderte ich, wie immer lieber einen Tick zu förmlich, aber mit einem ehrlichen Lächeln, das das Ausbleiben jeglichen Ärgers über die Unterbrechung meiner Lektüre verdeutlichte.
„Sie sind Student?“ fragte er mit einem Blick auf mein Buch. Mein Anfänger-Italienisch war nicht ausreichend, um zu erklären, daß ich zwar Student (der Politikwissenschaften) sei, daß das vorliegende Buch mit jenem Studium jedoch nichts zu tun habe, sondern allein der Erkundung der sizilianischen Literatur diente. Also bejahte ich die Frage.
Es schlossen sich die üblichen Fragen danach an, woher ich komme, wo ich studiere, was ich hier in Sizilien mache und so weiter. Wo immer ich hinkomme, wen immer ich auch treffe, es sind immer die gleichen Fragen. Ermüdend, aber in diesem Fall eine gute Gelegenheit, mein Italienisch einem Praxistest zu unterziehen. Die Unterhaltung war auch angenehmer als sonst, weil der Herr mich nicht nur wie so viele andere ausfragte, sondern ebenso bereitwillig von sich erzählte: Er heiße Paolo, komme aus Sizilien und habe in verschiedenen Orten Italiens als Italienisch-Lehrer gearbeitet.
Sympathisch fand ich, daß er immer wieder neugierig auf mein Buch blickte. Menschen, die sich für Bücher interessieren, sind gewöhnlich gute Menschen. Schließlich fragte er mich, was ich läse.
„Vittorini: Conversazione in Sicilia.“
„Ah, Elio Vittorini!“ Als der sizilianische Italienisch-Lehrer merkte, daß ein Ausländer sich der sizilianischen Literatur anzunähern versucht, hellte sich sein Gesicht noch mehr auf.
„Ma in inglese,“ füge ich erklärend hinzu, um jeder unangebrachten Verwunderung über die Diskrepanz zwischen meinem gesprochenen Italienisch und meinen vermeintlichen Lesefähigkeiten zuvorzukommen.
Paolo fragte, ob er einen Blick in das Buch werfen dürfe, was ich mit einer einladenden Geste, sich neben mich auf die Bank zu setzen, bejahte: „Si accomodi.“ Paolo erklärte, daß er mir wirklich nicht die Zeit stehlen wolle, und fragte ob ich ganz sicher sei. Er fügte hinzu, daß die Fortsetzung unserer Unterhaltung durchaus Vorteile für mein Italienisch mit sich brächte. Die Glut im Stummel meiner Zigarre war mittlerweile ausgegangen. Ich hielt ihn noch ein paar Minuten unschlüssig in der Hand, um ihn dann ins Gebüsch zu werfen. Zigarren sind ja rein organisch.
Im Laufe unserer weiteren Unterhaltung begann Paolo bald, mich freundlich darauf hinzuweisen, wenn ich Fehler machte, aber nicht ohne mehrfach nachzufragen, ob ich auch wirklich wolle, daß er mich verbessere. Ich war heilfroh darüber. Die meisten Leute sind nämlich entweder zu höflich, um mich auf meine Fehler aufmerksam zu machen, oder sie wechseln – wenn sie es können – einfach ins Englische oder ins Deutsche. Aus eigener Erfahrung mit Deutschlernenden weiß ich, wie mühsam es ist, mit jemandem zu sprechen, der Präpositionen falsch verwendet, den Plural falsch bildet, Adjektive nicht mit den dazugehörigen Substantiven abgleicht und noch über keine andere Zeitform als das Präsens verfügt.
Ein bei ersten Begegnungen dankbares sowie ein für Sprachanfänger leicht beherrschbares Thema ist das Reisen. Es paßte so gar nicht zu dem kleinen, älteren Herrn, der sein einfaches Fahrrad durch ein Dorf in Sizilien schob, aber Paolo erzählte, daß er eben durch Vietnam, Kambodscha und Thailand gereist sei. Auch in Australien sei er schon gewesen, ebenso in Amerika. Mit Begeisterung erzählte er von seinen mehrmonatigen Reisen um die Welt; mit Begeisterung hörte ich zu. Paolo geriet immer mehr ins Schwärmen, als er von seinen Abenteuern auf allen Kontinenten erzählte, bis er schließlich – mein Staunen bemerkend – mit einem breiten, ehrlichen Grinsen erklärte, wie er sich so ein Leben leisten könne:
„Ich habe keine Frau und keine Kinder.“ Die Zufriedenheit über diesen Zustand strahlte ihm aus den Augen.
„Ah! La libertà assoluta!“ Ich verstand vollkommen und lachte kenntnisreich, nicht nur aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Scheidungsanwalt, der das beste an diesem Job immer darin sah, Menschen ihre Freiheit wiederzugeben.
„L’indipendenza“ verbesserte oder ergänzte Paolo.
Da ich ebenfalls von meinen Reisen rund um die Welt erzählte und und an jenem Tag allein am Meer saß, nahm Paolo wohl an, daß ich über ebensolche Freiheit verfüge. Als ich auf seine Frage zugab, eine Freundin zu haben, war ihm die Überraschung anzusehen. In einem Ton, mit dem man einen Schwerkranken nach seinem Zustand fragt, erkundigte er sich: „Aber Du hast keine Kinder, oder?“
„No, no,“ erwiderte ich schnell. Erleichterung allenthalben.
Wir setzten meine Italienischstunde noch ein wenig fort. Am besten in Erinnerung ist mir, daß ich „a piede“ (Singular von Fuß) anstatt „a piedi“ (Plural) sagte als ich übers Wandern sprach. Paolo verdeutlichte diesen Fehler und wie „a piede“ verstanden würde, indem er aufstand und ein paar Schritte auf einem Bein hüpfte. Ein toller Lehrer!
Die heranziehenden, dunklen Unwetterwolken hingen so tief, daß die Stadt Milazzo trotz ihrer sich sonst in jedes Bild drängenden überdimensionierten Raffinerie nicht mehr zu sehen war. Es war höchste Zeit, sich zu verabschieden und aufzubrechen. Mann mit Fahrrad in die eine Richtung, Mann mit Buch in die andere Richtung.
Als ich nach Hause kam, wartete dort meine Freundin. In dem „Wo warst Du so lange?“ lag ein Unterton der Ungeduld. Ich erzählte ihr von der Begegnung mit Paolo und von den hilfreichen Lektionen in italienischer Grammatik, die ich erhalten hatte. Aber die zweite Lektion, die über Freiheit und Unabhängigkeit, war diejenige, die mir wirklich durch den Kopf ging.
Wunderbar! Hast du deinen Italienischlehrer noch einmal wieder gesehen?
Ja, ich habe ihn später noch einmal getroffen, als ich an der Strandpromenade in Spadafora entlang gejoggt bin. Es war ein sonniger Tag im Dezember und er kam mit wieder mit seinem alten Fahrrad entgegen. Er war auf dem Weg nach Milazzo (ca. 20 km), wo er sich ein Eis kaufen und die Sonne an der dortigen schönen Promenade genießen wollte. An den Lenker hatte er einen alten Walkman mit Kassettenspieler montiert, aus dem er sich während der Fahrt über Kopfhörer mit Musik versorgte.
Dein regulärer Itelienischlehrer ist er also nicht geworden… 😉
Diese undankbare Aufgabe will ich niemandem antun.
Hallo Andreas! (jetzt ganz offiziell…)
Mein Freund hat mir deinen Blog empfohlen. Er saß am Laptop und meinte ganz begeistert: „Ich HAB hier was für dich.“ Er hatte Recht, denn seitdem lese ich ihn durchgehend 🙂
Um zu der menschlichen „Lebens- und Pflegeversicherung“ zu kommen: so oder so ähnlich ist die Argumentation meiner Mutter, wenn sie versucht, mir die Idee vom eigenen Nachwuchs schmackhaft zu machen. Es ist immerzu das Argument: “ Aber wer kümmert sich um dich, wenn du alt bist! Wenn du keine Kinder hast, dann musst du ins Altersheim…“ Ich erzähle ihr dann regelmäßig, wie viele alte Menschen bereits dort sind, die durchaus Kinder haben.
Man kann doch den Menschen an seiner Seite (egal ob Kind oder Partner) nicht als kostenlose Pflegekraft „einkalkulieren“. Das sollte niemals das Argument für solche Entscheidungen sein. Kinder gehören einem nicht, und der Partner genauso wenig…
Liebe Grüße
Kasia
Hallo Kasia,
das ist hervorragend, dass sich dein Freund die Zeit im Internet vertrieben hat! Und ich habe zudem so noch deinen, ebenfalls interessanten Blog entdeckt.
Wie du, bin ich auch immer wieder schockiert, wieviele Menschen Kinder mit einer Art Eigentums- oder Versicherungskategorie betrachten. Und wie du richtig sagst, das klappt oft nicht. (Ich muss zugeben, ich selbst würde auch lieber nach Timbuktu abhauen, als mich um einen Pflegefall zu kümmern.)
Ähnlich dämlich finde ich die Kinderwunschbegründung „damit man nicht so allein ist“, wie wenn andere Menschen dazu da sind, einen zu unterhalten. Dafür gibt es doch Bücher! Und unsere Blogs.
Korrekt 🙂 Und mit mir hat sich meine Mutter in dieser Hinsicht auch nichts gutes getan, denn ich hocke nun in Mannheim, während sie in Warschau ist. So ist das Leben… 😉
Und dabei hat sie objektiv sicher bessere Gründe, Warschau für das Zentrum der Welt zu halten, als meine Eltern, die glauben, dass eine Kleinstadt oder gar ein Dorf in Bayern der Traumort für mein ganzes Leben sei. 😉
Glaub mir, würde meine Mutter in einem kleinen Dorf in Bayern hocken, würde sie es auch für das Zentrum der Welt halten 🙂