Praktischer- und logischerweise lest Ihr vor diesem Artikel Teil 1 und Teil 2 der Irrfahrt durch Sachsen.
Ihr erinnert Euch, wir waren im Fluchtmuseum, und ich war gerade dabei, Euch über die spektakulärste Idee zu erzählen, mittels derer die Gefangenen aus Colditz entkommen wollten:
Ein ziemlich verrückter Fluchtplan wurde nicht mehr umgesetzt, weil das Lager im April 1945 von der US-Armee befreit wurde: Die Gefangenen hatten ein Segelflugzeug gebaut, mit dem sie vom Dach des Schlosses ins Tal gleiten wollten.

Die Gefangenen errichteten im Dachstuhl eine Werkstatt, die sie mit einer falschen Wand verbargen. Dann bauten sie aus Holz und Bettlaken den Gleiter. Keiner von ihnen hatte jemals ein Flugzeug gebaut, aber in der Gefängnisbibliothek fanden sich zwei Bücher über „Aircraft Design“.
Der Plan war, nach Fertigstellung des Flugzeugs die Wand zu durchbrechen, aufs Dach zu klettern, dort aus Tischen eine Startrampe zu bauen und irgendwie das Flugzeug hochzuhieven. An den Segler sollte eine gefüllte Badewanne gebunden werden, die dann vom Dach geworfen und so das Flugzeug beschleunigen würde.
Ich will jetzt nicht den Berufspessimisten geben, aber mir fallen auf Anhieb 78 Dinge ein, die schief gehen könnten. Die Leute, die den Segelgleiter nachbauen, um zu beweisen, dass er flugtauglich wäre, ignorieren geflissentlich, dass die Gefangenen niemals tagelang mit schweren Werkzeugen ganz offen auf dem Dach arbeiten hätten können. Außerdem verwenden sie Werkzeuge, Materialien und Berechnungsmethoden, die damals nicht zur Verfügung standen.
Mein Historikerherz blutet bei solchen Geschichtsgimmicks und wünscht den Fernsehfuzzis einen Sendeplatz nach Mitternacht. Echt, das ist so ein Schmu, da geht mir der Hut hoch. Wie gut, dass Ihr auf meinem Blog gelandet seid, wo Seriosität und Wissenschaftlichkeit regieren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Schloss Colditz zuerst ein Krankenhaus, später ein Altenheim. Die Geschichte um das Kriegsgefangenenlager wurde verschwiegen. Ich war ja nicht dabei, aber ich glaube, in der DDR waren Flucht und insbesondere das Überwinden von Mauern oder das Graben von Tunneln generell nicht so positiv besetzt.

Ich will jetzt kein Fass aufmachen, aber wenn man in Friedenszeiten die Flucht der eigenen Bevölkerung härter bestraft als die Nazis die Flucht aus einem Kriegsgefangenenlager bestraft haben, dann ist vielleicht der moralische Kompass durcheinander geraten.
Ebenfalls durcheinander geraten ist mein nicht vorhandener Reiseplan. Colditz hat zwar einen Bahnhof, aber der ist inaktiv. Wahrscheinlich, um Fluchten – oder, auch möglich in Ostdeutschland, die Ankunft von Flüchtlingen – zu verhindern.

Diesmal geht das Trampen noch zäher. Für eine vom internationalen Tourismus abhängige Stadt sind die Menschen hier nicht gerade hilfsbereit. Ich muss nach Grimma, weil dort der nächste funktionierende Bahnhof sein soll, und vielleicht blicken die Fahrerinnen und Fahrer deshalb besonders grimmig drein.
Ich denke schon wieder daran, zu Fuß zu gehen, als ein Fahrer zurückkommt, der bereits vor ein paar Minuten an mir vorbeigefahren ist.
„Es tut mir leid, dass ich zuerst nicht angehalten habe“, entschuldigt er sich. „Ich bin wohl schon zu deutsch geworden. Bei uns zuhause hält man sofort, wenn jemand an der Straße steht.“
Da muss ich natürlich fragen, woher er kommt.
„Tschetschenien“, sagt er, und spricht es ganz sanft und leise aus. Wie wenn er weiß, welche Wucht das Wort an sich hat.


Das ist ja so eine Region, bei der einem sofort allerhand Assoziationen durch den Kopf flackern, obwohl man eigentlich nichts Genaues weiß. Fast so wie Sachsen, also. Nur dass die Menschen im Kaukasus hilfsbereiter zu sein scheinen.
Dschamil erzählt stolz, dass er nächste Woche den Test zur Einbürgerung in Deutschland hat. Weil er tagtäglich dafür übt, dürfte er derzeit auf einem besseren Wissensstand sein als die meisten Deutschen. Wenn Ihr das nicht glaubt, macht doch mal den Probetest. Und wenn Ihr Euer Wissen über Tschetschenien auffrischen wollt, empfehle ich dieses Interview.
Weil ich ihm erzählt habe, dass ich nur einen Bahnhof suche, um mit dem 49-Euro-Ticket weiterzureisen, fährt mich der freundliche Tschetschene in Grimma direkt zum Bahnhof, obwohl er selbst ganz woanders hin muss.
„Passt es hier?“ fragt er besorgt, als er mich direkt vor dem Bahnhof absetzt.
„Ja klar“, sage ich und bedanke mich herzlich. Erst als ich aussteige, merke ich den Grund seiner Besorgnis. Der Bahnhof von Grimma sieht tatsächlich aus wie der Bahnhof von Grosny zu seiner schlimmsten Zeit.
Sogar der Bahnhof von Grosny ist mittlerweile wieder in besserem Zustand.

Leider ist der Rest von Grosny in einem hässlichen Diktatorenkitschzustand, schlimmer noch als Aserbaidschan.

Nicht nur Kriege, auch Architekten können Städte zerstören. Man sollte viel mehr von dieser Bande einsperren. Schade, dass wir das Kriegsverbrechergefängnis in Spandau schon abgerissen haben.
Der Pilot der Eisenbahn von Grimma nach Leipzig ist nett. Er hat noch 30 Minuten Pause, sperrt jedoch schon den Zug für die wartenden Passagiere auf. „Aber machen Sie keinen Unfug“, sagt er und geht, um sich einen Kaffee zu suchen. Und tatsächlich versucht niemand, die Lokomotive kurzzuschließen, was zeigt, wie weit man kommt, wenn man einfach nur nett um etwas Kooperation bittet. So schön könnte das menschliche Zusammenleben sein. Als er zurückkommt, hilft er den Menschen vor dem Fahrscheinautomaten und gibt ihnen Ratschläge für kostensparende Tickets.
Er ist das diametrale Gegenteil des Mannes, der im Hauptbahnhof Leipzig am Informationsschalter sitzt. Ich stand da mal in der Schlange und konnte die „Auskünfte“ mitbekommen, die er den Passagieren vor mir gab:
„Ne.“
„Das geht nicht.“
„Weiß ich nicht.“
„Schauen Sie im Internet nach.“
Ich versuchte es trotzdem und bekam immerhin „da müssen Sie morgen wiederkommen“ zu hören. Selbst wenn ich mich anstrenge, kann ich nicht so grummelig sein.
Der Zug fährt durch Großsteinberg, was mir nichts sagt. Dann durch Naunhof, was mir auch nichts sagt. Als nächstes kommt Beucha, und da fällt mir ganz akut ein und auf, dass schon lange mein Beuchlein schmerzt und sich vor Hunger windet. Beucha klingt nach irgendwie nach Essen, da steige ich aus.
Und tatsächlich, gleich neben dem Bahnhof wartet das Gasthaus Feldschlösschen.

Nur sieht es mittlerweile so aus:

An der Hauptstraße wirbt die einzige Werbetafel des Ortes für Grabmale und Grabsteine. An einem Hofeingang steht noch immer das Schild „LPG Friedrich Engels Beucha-Brandis“. Das Rathaus verfällt.

Ein Zettel am Gemeindeamt informiert, dass einmal im Monat der Friedensrichter vorbeikommt.
Weil ich kein sächsischer Jurist bin, kenne ich den Begriff nur aus dem Wilden Westen. Ich stelle mir vor, wie einmal im Monat Roy Bean in den Ort reitet, irgendjemanden hängt (deshalb die Reklame für Grabstätten), zu viel trinkt und wieder nach Hause reitet.

Aber es stellt sich heraus, dass „Friedensrichter“ die Leute sind, die nach dem Sächsischen Schieds- und Gütestellengesetz zwischen verfeindeten Nachbarn und sonstigen Streithanseln schlichten sollen. Ohne Waffengewalt und Galgen, soweit ich das verstanden habe.
In der Mitte von Beucha ist ein großes Loch. Wie dieses berühmte Loch in Turkmenistan, wo ständig das Feuer lodert. Das Tor zur Hölle. Da fällt mir ein: Eine Bekannte aus Turkmenistan hat mir mal erzählt, dass mein Blog dort zensiert sei. Das trauen die sich auch nur, weil mein Blog so klein ist! Also, bitte teilt diesen Blog ganz eifrig mit Euren Freunden und Feinden, auf Facebook und Instagraph, damit dieses sympathische Land und die hochgeschätzte Familie Berdimuhamedow ihre Entscheidung vielleicht noch einmal überdenken.


Der Ursprung dieses mittlerweile mit Wasser vollgelaufenen Lochs liegt, wie bei so vielen mittlerweile mit Wasser zugelaufenen Löchern in der Region, im Bergbau. In Beucha wurde Granitporphyr abgebaut, mit dem dann in Leipzig unter anderem der Hauptbahnhof, das Alte Rathaus, das Gewandhaus, das Bundesverwaltungsgericht und das Völkerschlachtdenkmal gebaut bzw. verziert wurden.


Das ist zwar blöd für Beucha (weil ständig Betrunkene ins Loch torkeln), aber die einzige andere Quelle für rötlich schimmernden Stein wäre auf der anderen Seite der Welt gewesen: der Ayers Rock in Australien.

Und wenn man den abbaut, dann würde die Erdachse kippen, weil auf der Südhalbkugel das Gegengewicht fehlte. Deshalb ist es auch so gefährlich, wenn die Antarktis schmilzt. Nicht nur wegen des Wassers, das Miami und Rotterdam – und damit zwei Städte, um deren Verlust es vielleicht gar nicht so schade ist – vernichten wird, sondern vor allem wegen des Gewichtsverlusts am Südpol.
Kurz gesagt: Wir werden bald alle sterben.
Deshalb will ich Euch die wenige verbleibende Lebenszeit nicht noch stehlen, indem ich erzähle, dass ich eben diesen Ayers Rock einst bestiegen habe. Es war 1992, in der Jugend, der ungestümen Zeit, wo man sich noch keine Gedanken darum machte, auf den Heiligtümern eines anderen Volkes herumzutrampeln. Ich hoffe, dass ich das heute nicht mehr machen würde. Aber mittlerweile bin ich sowieso eher der Typ, der Berge von unten bestaunt und sich lieber eine Zigarre anzündet. Wobei das in Australien ja auch böse enden kann.

Aber zurück zu unserer kleinen Zugreise, bevor ich noch mehr von Kängurus oder von Waldbränden erzähle. Der nächste Bahnhof ist in Borsdorf, und die paar Kilometer dorthin gehe ich einfach zu Fuß, bevor ich mich und Euch mit missglückten Trampversuchen deprimiere.
Am Bahnhof in Borsdorf ruft ein Mädchen ganz verzweifelt ins Telefon:
„Ich brauche noch einen Blumenstrauß!“
Oh, anscheinend ist jemand gestorben. Traurig.
„Es ist Sonntag, die Läden sind alle geschlossen.“
„Nein, die Läden am Bahnhof sind auch schon seit 18 Uhr geschlossen.“
Und dann stellt sich heraus, dass doch niemand gestorben ist. Es ist nur Muttertag. Und nicht nur irgendein ein Muttertag, sondern der 100. in Deutschland gefeierte und gefürchtete Muttertag, eigentlich der perfekte Anlass für meine kleine Geschichtsreihe „Vor hundert Jahren …“. Erfunden wurde er übrigens tatsächlich vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber. Offizieller Feiertag wurde er dann 1933 unter den Nazis, weshalb sich heutzutage keine Mutter grämen sollte, wenn ihre Kinder diesen faschistisch-kapitalistischen Bullshit nicht zelebrieren wollen.
„Ach so, vielleicht an der Tankstelle.“
Na, da wurde noch eine Lösung für ein liebloses Mitbringsel gefunden. Sonst hätte ich dem Fräulein einfach einen Abstecher zum Südfriedhof empfohlen. Die Toten haben ja nichts mehr von der dortigen Blütenpracht.
Die S3 nach Leipzig fährt vorbei am Völkerschlachtdenkmal. So schließt sich der Kreis, und ich kann Euch umfassende Ausführungen zu Napoleon, zur Leipziger Buchmesse, zu Godzilla und zu den verschwundenen Massengräbern ersparen und auf meinen diesbezüglichen Artikel verweisen.

Die Bahn-Sicherheitsangestellten liefern sich einen Kampf mit den Radfahrern, die unbedingt ihre geliebten Fahrräder mit in den Zug nehmen wollen. Der Schaffner sieht es locker, solange noch Platz ist, aber die beiden Schlagstockmänner wollen am liebsten losschlagen.
Als ich an der Haltestelle Leipzig-MDR aussteige und wirklich Dutzende von Fahrrädern einsteigen wollen, erkenne aber auch ich das Platzproblem. Und ganz ehrlich: Wenn Ihr ein Fahrrad habt, dann fahrt halt damit. Man nimmt ja auch nicht sein Auto oder sein Pferd mit in den Zug.
Um diese Haltestelle gibt es tolle Industrieruinen, von der früheren Großmarkthalle, dem Kohlrabizirkus, über das Panometer, bis zu dem ausrangierten Rangierwerk, in dem ich nicht allein zu sein scheine. Denn von irgendwoher tönt Musik, von anderswo eine Unterhaltung, und die Cannabispflanzen sprießen, weil ihnen die Legalisierungspläne zu kompliziert sind, einfach wild drauf los.
Ich will mich noch weiter umsehen und herumklettern, alles erkunden und erzählen. Aber da erspähe ich das MDR-Hochhaus und spüre, dass es Zeit für das Sandmännchen ist.

„Nun schnell ins Bett und schlaft recht schön“, das funktioniert vorzüglich nach so einem planlosen, aber am Ende überraschend runden Tag.
Probiert es doch mal aus: Einfach morgen „aus Versehen“ nicht den Bus oder Zug zur Arbeit, sondern den in die Gegenrichtung nehmen. Und dann gespannt sein, wie weit Ihr kommt, wohin es Euch treibt, wen man unterwegs trifft, und was man alles entdeckt. Dafür wurde das Deutschlandticket schließlich erfunden. Wie „Easy Rider“, nur mit den Öffis statt mit den Töff-Töffis.


Praktische Tipps:
- Solange der Bahnhof in Colditz nicht reaktiviert wird, kommt man z.B. von den Bahnhöfen Grimma oder Bad Lausick mit dem Bus nach Colditz.
- Man kann auch direkt im Schloss in der dortigen Jugendherberge übernachten. Trotz des Namens ist das auch für Erwachsene zulässig, nur ein bisschen teurer.
- Das Schloss ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet und frei zugänglich. Eintritt (4 Euro) muss man nur für das Fluchtmuseum zahlen.
- Führungen finden im Sommer um 10:30, 13 und 15 Uhr sowie im Winter um 11 und 14 Uhr statt. Das kostet 10 Euro extra, aber wenn Ihr die Chance habt, lasst Euch das nicht entgehen! Dabei kommt Ihr nämlich in die Teile des Schlosses, die sonst nicht frei zugänglich sind.
- Wenn Ihr Euch richtig gruseln wollt, könnt Ihr noch ins Dentalmuseum gehen. Krankenkassenbonusheft nicht vergessen, denn das Museum zählt wie ein Zahnarztbesuch.
Links:
- Weitere Ausflüge mit der Eisenbahn und per Anhalter.
- Mehr Reisen durch Deutschland und durch die Geschichte.
- Und wenn sich ein paar barmherzige Spenderinnen und Spender für diesen Spontanitätsblog finden, kann ich mir einen weiteren Monat des Deutschlandtickets leisten. Dafür gibt’s dann Postkarten aus der sächsischen Pampa!