Flucht nach Colditz (Teil 3 von 3)

Praktischer- und logischerweise lest Ihr vor diesem Artikel Teil 1 und Teil 2 der Irrfahrt durch Sachsen.

Ihr erinnert Euch, wir waren im Fluchtmuseum, und ich war gerade dabei, Euch über die spektakulärste Idee zu erzählen, mittels derer die Gefangenen aus Colditz entkommen wollten:


Ein ziemlich verrückter Fluchtplan wurde nicht mehr umgesetzt, weil das Lager im April 1945 von der US-Armee befreit wurde: Die Gefangenen hatten ein Segelflugzeug gebaut, mit dem sie vom Dach des Schlosses ins Tal gleiten wollten.

Die Gefangenen errichteten im Dachstuhl eine Werkstatt, die sie mit einer falschen Wand verbargen. Dann bauten sie aus Holz und Bettlaken den Gleiter. Keiner von ihnen hatte jemals ein Flugzeug gebaut, aber in der Gefängnisbibliothek fanden sich zwei Bücher über „Aircraft Design“.

Der Plan war, nach Fertigstellung des Flugzeugs die Wand zu durchbrechen, aufs Dach zu klettern, dort aus Tischen eine Startrampe zu bauen und irgendwie das Flugzeug hochzuhieven. An den Segler sollte eine gefüllte Badewanne gebunden werden, die dann vom Dach geworfen und so das Flugzeug beschleunigen würde.

Ich will jetzt nicht den Berufspessimisten geben, aber mir fallen auf Anhieb 78 Dinge ein, die schief gehen könnten. Die Leute, die den Segelgleiter nachbauen, um zu beweisen, dass er flugtauglich wäre, ignorieren geflissentlich, dass die Gefangenen niemals tagelang mit schweren Werkzeugen ganz offen auf dem Dach arbeiten hätten können. Außerdem verwenden sie Werkzeuge, Materialien und Berechnungsmethoden, die damals nicht zur Verfügung standen.

Mein Historikerherz blutet bei solchen Geschichtsgimmicks und wünscht den Fernsehfuzzis einen Sendeplatz nach Mitternacht. Echt, das ist so ein Schmu, da geht mir der Hut hoch. Wie gut, dass Ihr auf meinem Blog gelandet seid, wo Seriosität und Wissenschaftlichkeit regieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Schloss Colditz zuerst ein Krankenhaus, später ein Altenheim. Die Geschichte um das Kriegsgefangenenlager wurde verschwiegen. Ich war ja nicht dabei, aber ich glaube, in der DDR waren Flucht und insbesondere das Überwinden von Mauern oder das Graben von Tunneln generell nicht so positiv besetzt.

Ich will jetzt kein Fass aufmachen, aber wenn man in Friedenszeiten die Flucht der eigenen Bevölkerung härter bestraft als die Nazis die Flucht aus einem Kriegsgefangenenlager bestraft haben, dann ist vielleicht der moralische Kompass durcheinander geraten.

Ebenfalls durcheinander geraten ist mein nicht vorhandener Reiseplan. Colditz hat zwar einen Bahnhof, aber der ist inaktiv. Wahrscheinlich, um Fluchten – oder, auch möglich in Ostdeutschland, die Ankunft von Flüchtlingen – zu verhindern.

Diesmal geht das Trampen noch zäher. Für eine vom internationalen Tourismus abhängige Stadt sind die Menschen hier nicht gerade hilfsbereit. Ich muss nach Grimma, weil dort der nächste funktionierende Bahnhof sein soll, und vielleicht blicken die Fahrerinnen und Fahrer deshalb besonders grimmig drein.

Ich denke schon wieder daran, zu Fuß zu gehen, als ein Fahrer zurückkommt, der bereits vor ein paar Minuten an mir vorbeigefahren ist.

„Es tut mir leid, dass ich zuerst nicht angehalten habe“, entschuldigt er sich. „Ich bin wohl schon zu deutsch geworden. Bei uns zuhause hält man sofort, wenn jemand an der Straße steht.“

Da muss ich natürlich fragen, woher er kommt.

„Tschetschenien“, sagt er, und spricht es ganz sanft und leise aus. Wie wenn er weiß, welche Wucht das Wort an sich hat.

Das ist ja so eine Region, bei der einem sofort allerhand Assoziationen durch den Kopf flackern, obwohl man eigentlich nichts Genaues weiß. Fast so wie Sachsen, also. Nur dass die Menschen im Kaukasus hilfsbereiter zu sein scheinen.

Dschamil erzählt stolz, dass er nächste Woche den Test zur Einbürgerung in Deutschland hat. Weil er tagtäglich dafür übt, dürfte er derzeit auf einem besseren Wissensstand sein als die meisten Deutschen. Wenn Ihr das nicht glaubt, macht doch mal den Probetest. Und wenn Ihr Euer Wissen über Tschetschenien auffrischen wollt, empfehle ich dieses Interview.

Weil ich ihm erzählt habe, dass ich nur einen Bahnhof suche, um mit dem 49-Euro-Ticket weiterzureisen, fährt mich der freundliche Tschetschene in Grimma direkt zum Bahnhof, obwohl er selbst ganz woanders hin muss.

„Passt es hier?“ fragt er besorgt, als er mich direkt vor dem Bahnhof absetzt.

„Ja klar“, sage ich und bedanke mich herzlich. Erst als ich aussteige, merke ich den Grund seiner Besorgnis. Der Bahnhof von Grimma sieht tatsächlich aus wie der Bahnhof von Grosny zu seiner schlimmsten Zeit.

Sogar der Bahnhof von Grosny ist mittlerweile wieder in besserem Zustand.

Leider ist der Rest von Grosny in einem hässlichen Diktatorenkitschzustand, schlimmer noch als Aserbaidschan.

Nicht nur Kriege, auch Architekten können Städte zerstören. Man sollte viel mehr von dieser Bande einsperren. Schade, dass wir das Kriegsverbrechergefängnis in Spandau schon abgerissen haben.

Der Pilot der Eisenbahn von Grimma nach Leipzig ist nett. Er hat noch 30 Minuten Pause, sperrt jedoch schon den Zug für die wartenden Passagiere auf. „Aber machen Sie keinen Unfug“, sagt er und geht, um sich einen Kaffee zu suchen. Und tatsächlich versucht niemand, die Lokomotive kurzzuschließen, was zeigt, wie weit man kommt, wenn man einfach nur nett um etwas Kooperation bittet. So schön könnte das menschliche Zusammenleben sein. Als er zurückkommt, hilft er den Menschen vor dem Fahrscheinautomaten und gibt ihnen Ratschläge für kostensparende Tickets.

Er ist das diametrale Gegenteil des Mannes, der im Hauptbahnhof Leipzig am Informationsschalter sitzt. Ich stand da mal in der Schlange und konnte die „Auskünfte“ mitbekommen, die er den Passagieren vor mir gab:

„Ne.“

„Das geht nicht.“

„Weiß ich nicht.“

„Schauen Sie im Internet nach.“

Ich versuchte es trotzdem und bekam immerhin „da müssen Sie morgen wiederkommen“ zu hören. Selbst wenn ich mich anstrenge, kann ich nicht so grummelig sein.

Der Zug fährt durch Großsteinberg, was mir nichts sagt. Dann durch Naunhof, was mir auch nichts sagt. Als nächstes kommt Beucha, und da fällt mir ganz akut ein und auf, dass schon lange mein Beuchlein schmerzt und sich vor Hunger windet. Beucha klingt nach irgendwie nach Essen, da steige ich aus.

Und tatsächlich, gleich neben dem Bahnhof wartet das Gasthaus Feldschlösschen.

Nur sieht es mittlerweile so aus:

An der Hauptstraße wirbt die einzige Werbetafel des Ortes für Grabmale und Grabsteine. An einem Hofeingang steht noch immer das Schild „LPG Friedrich Engels Beucha-Brandis“. Das Rathaus verfällt.

Ein Zettel am Gemeindeamt informiert, dass einmal im Monat der Friedensrichter vorbeikommt.

Weil ich kein sächsischer Jurist bin, kenne ich den Begriff nur aus dem Wilden Westen. Ich stelle mir vor, wie einmal im Monat Roy Bean in den Ort reitet, irgendjemanden hängt (deshalb die Reklame für Grabstätten), zu viel trinkt und wieder nach Hause reitet.

Aber es stellt sich heraus, dass „Friedensrichter“ die Leute sind, die nach dem Sächsischen Schieds- und Gütestellengesetz zwischen verfeindeten Nachbarn und sonstigen Streithanseln schlichten sollen. Ohne Waffengewalt und Galgen, soweit ich das verstanden habe.

In der Mitte von Beucha ist ein großes Loch. Wie dieses berühmte Loch in Turkmenistan, wo ständig das Feuer lodert. Das Tor zur Hölle. Da fällt mir ein: Eine Bekannte aus Turkmenistan hat mir mal erzählt, dass mein Blog dort zensiert sei. Das trauen die sich auch nur, weil mein Blog so klein ist! Also, bitte teilt diesen Blog ganz eifrig mit Euren Freunden und Feinden, auf Facebook und Instagraph, damit dieses sympathische Land und die hochgeschätzte Familie Berdimuhamedow ihre Entscheidung vielleicht noch einmal überdenken.

Der Ursprung dieses mittlerweile mit Wasser vollgelaufenen Lochs liegt, wie bei so vielen mittlerweile mit Wasser zugelaufenen Löchern in der Region, im Bergbau. In Beucha wurde Granitporphyr abgebaut, mit dem dann in Leipzig unter anderem der Hauptbahnhof, das Alte Rathaus, das Gewandhaus, das Bundesverwaltungsgericht und das Völkerschlachtdenkmal gebaut bzw. verziert wurden.

Das ist zwar blöd für Beucha (weil ständig Betrunkene ins Loch torkeln), aber die einzige andere Quelle für rötlich schimmernden Stein wäre auf der anderen Seite der Welt gewesen: der Ayers Rock in Australien.

Und wenn man den abbaut, dann würde die Erdachse kippen, weil auf der Südhalbkugel das Gegengewicht fehlte. Deshalb ist es auch so gefährlich, wenn die Antarktis schmilzt. Nicht nur wegen des Wassers, das Miami und Rotterdam – und damit zwei Städte, um deren Verlust es vielleicht gar nicht so schade ist – vernichten wird, sondern vor allem wegen des Gewichtsverlusts am Südpol.

Kurz gesagt: Wir werden bald alle sterben.

Deshalb will ich Euch die wenige verbleibende Lebenszeit nicht noch stehlen, indem ich erzähle, dass ich eben diesen Ayers Rock einst bestiegen habe. Es war 1992, in der Jugend, der ungestümen Zeit, wo man sich noch keine Gedanken darum machte, auf den Heiligtümern eines anderen Volkes herumzutrampeln. Ich hoffe, dass ich das heute nicht mehr machen würde. Aber mittlerweile bin ich sowieso eher der Typ, der Berge von unten bestaunt und sich lieber eine Zigarre anzündet. Wobei das in Australien ja auch böse enden kann.

Aber zurück zu unserer kleinen Zugreise, bevor ich noch mehr von Kängurus oder von Waldbränden erzähle. Der nächste Bahnhof ist in Borsdorf, und die paar Kilometer dorthin gehe ich einfach zu Fuß, bevor ich mich und Euch mit missglückten Trampversuchen deprimiere.

Am Bahnhof in Borsdorf ruft ein Mädchen ganz verzweifelt ins Telefon:

„Ich brauche noch einen Blumenstrauß!“

Oh, anscheinend ist jemand gestorben. Traurig.

„Es ist Sonntag, die Läden sind alle geschlossen.“

„Nein, die Läden am Bahnhof sind auch schon seit 18 Uhr geschlossen.“

Und dann stellt sich heraus, dass doch niemand gestorben ist. Es ist nur Muttertag. Und nicht nur irgendein ein Muttertag, sondern der 100. in Deutschland gefeierte und gefürchtete Muttertag, eigentlich der perfekte Anlass für meine kleine Geschichtsreihe „Vor hundert Jahren …“. Erfunden wurde er übrigens tatsächlich vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber. Offizieller Feiertag wurde er dann 1933 unter den Nazis, weshalb sich heutzutage keine Mutter grämen sollte, wenn ihre Kinder diesen faschistisch-kapitalistischen Bullshit nicht zelebrieren wollen.

„Ach so, vielleicht an der Tankstelle.“

Na, da wurde noch eine Lösung für ein liebloses Mitbringsel gefunden. Sonst hätte ich dem Fräulein einfach einen Abstecher zum Südfriedhof empfohlen. Die Toten haben ja nichts mehr von der dortigen Blütenpracht.

Die S3 nach Leipzig fährt vorbei am Völkerschlachtdenkmal. So schließt sich der Kreis, und ich kann Euch umfassende Ausführungen zu Napoleon, zur Leipziger Buchmesse, zu Godzilla und zu den verschwundenen Massengräbern ersparen und auf meinen diesbezüglichen Artikel verweisen.

Die Bahn-Sicherheitsangestellten liefern sich einen Kampf mit den Radfahrern, die unbedingt ihre geliebten Fahrräder mit in den Zug nehmen wollen. Der Schaffner sieht es locker, solange noch Platz ist, aber die beiden Schlagstockmänner wollen am liebsten losschlagen.

Als ich an der Haltestelle Leipzig-MDR aussteige und wirklich Dutzende von Fahrrädern einsteigen wollen, erkenne aber auch ich das Platzproblem. Und ganz ehrlich: Wenn Ihr ein Fahrrad habt, dann fahrt halt damit. Man nimmt ja auch nicht sein Auto oder sein Pferd mit in den Zug.

Um diese Haltestelle gibt es tolle Industrieruinen, von der früheren Großmarkthalle, dem Kohlrabizirkus, über das Panometer, bis zu dem ausrangierten Rangierwerk, in dem ich nicht allein zu sein scheine. Denn von irgendwoher tönt Musik, von anderswo eine Unterhaltung, und die Cannabispflanzen sprießen, weil ihnen die Legalisierungspläne zu kompliziert sind, einfach wild drauf los.

Ich will mich noch weiter umsehen und herumklettern, alles erkunden und erzählen. Aber da erspähe ich das MDR-Hochhaus und spüre, dass es Zeit für das Sandmännchen ist.

„Nun schnell ins Bett und schlaft recht schön“, das funktioniert vorzüglich nach so einem planlosen, aber am Ende überraschend runden Tag.

Probiert es doch mal aus: Einfach morgen „aus Versehen“ nicht den Bus oder Zug zur Arbeit, sondern den in die Gegenrichtung nehmen. Und dann gespannt sein, wie weit Ihr kommt, wohin es Euch treibt, wen man unterwegs trifft, und was man alles entdeckt. Dafür wurde das Deutschlandticket schließlich erfunden. Wie „Easy Rider“, nur mit den Öffis statt mit den Töff-Töffis.

Sogar Dennis Hopper fährt jetzt lieber Bahn.

Praktische Tipps:

  • Solange der Bahnhof in Colditz nicht reaktiviert wird, kommt man z.B. von den Bahnhöfen Grimma oder Bad Lausick mit dem Bus nach Colditz.
  • Man kann auch direkt im Schloss in der dortigen Jugendherberge übernachten. Trotz des Namens ist das auch für Erwachsene zulässig, nur ein bisschen teurer.
  • Das Schloss ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet und frei zugänglich. Eintritt (4 Euro) muss man nur für das Fluchtmuseum zahlen.
  • Führungen finden im Sommer um 10:30, 13 und 15 Uhr sowie im Winter um 11 und 14 Uhr statt. Das kostet 10 Euro extra, aber wenn Ihr die Chance habt, lasst Euch das nicht entgehen! Dabei kommt Ihr nämlich in die Teile des Schlosses, die sonst nicht frei zugänglich sind.
  • Wenn Ihr Euch richtig gruseln wollt, könnt Ihr noch ins Dentalmuseum gehen. Krankenkassenbonusheft nicht vergessen, denn das Museum zählt wie ein Zahnarztbesuch.

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Flucht nach Colditz (Teil 2 von 3)

Praktischer- und logischerweise lest Ihr vor diesem Artikel Teil 1 der Irrfahrt durch Sachsen.

Ihr erinnert Euch, wir waren durch verschiedene Zufälle des Schicksals nach Colditz gelangt, wo, weil ich den Namen irgendwie im Hinterkopf habe, irgendetwas Wichtiges passiert sein muss, ich aber immer noch keine Ahnung habe, was es war.

Um das herauszufinden, erkunden wir jetzt das imposante, ja regelrecht bedrohlich wirkende Schloss:


Als ich in das kleine Museum im Schloss eintrete, um eine Eintrittskarte zu erwerben, weisen mich die beiden Damen dort hocherfreut darauf hin, dass ich fast pünktlich zu einer Führung durch das Schloss komme. Da sage ich nicht nein.

„Woher kommen Sie?“ fragt mich eine der Museumsangestellten freundlich.

„Aus Bayern.“

„Nicht aus Österreich?“ fragt sie, sichtlich enttäuscht, und ihre Kollegin erklärt: „Wir fragen nur für unsere Besucherstatistik.“

Ich erkläre, dass ich die Verwechslung nicht übel nehme, dass ich oft für einen Österreicher gehalten werde, und überlege, ob ich einen Anschluss-Witz machen soll. Besser nicht.

Wenn ich mal wieder international unterwegs bin, werde ich in ein österreichisches Konsulat spazieren und sagen, dass ich meinen Pass verloren habe. Mal sehen, wie leicht ich einen aus der sympathischen Alpenrepublik bekomme. Mein Name passt ja schon.

Die Führung beginnt dann auch mit dem Hinweis, dass 50% der Besucher von Schloss Colditz aus dem Ausland kommen, vor allem aus Großbritannien, USA, Frankreich, Südafrika, Australien. Als großer Historikkombinator schließe ich daraus, dass hier irgendwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben muss. Aber dazu später. Denn dieser Blog versteht sich – das ist Euch sicher schon wohltuend aufgefallen – dezidiert als Bollwerk gegen die Unsitte des ständig auf dem Zeitstrahl umherspringenden Themenwechsels.

Da fällt mir ein, dass ich heute noch gar nichts gegessen habe. Zu spät.

Also, das Schloss ist fast 1000 Jahre alt. Ich erzähle Euch trotzdem nichts von den Kaisern Heinrich III., Heinrich IV. und Barbarossa, weil ich da selbst nicht durchblicke. Die aktuelle Form des Schlosses ist die des Umbaus in der Renaissance, und es diente hauptsächlich als Jagdschloss für die sächsischen Kurfürsten. Ich weiß nicht, wieso man zum Jagen ein Schloss braucht, meiner Meinung nach tut es dafür auch ein Wald.

Aber die Kurfürsten hatten wohl zu viel Geld, denn mit dem Barock wurden angeblich schönere Schlösser gebaut, und keiner wollte mehr zum Jagen oder Urlauben nach Colditz fahren. 1787 wurde das gesamte Inventar verkauft, und Schloss Colditz stand leer und sinnlos herum.

Naja, über Geschmack soll man nicht streiten.

Ab da kann man eigentlich die gesamte Geschichte Deutschlands an diesem mir bisher unbekannten Schloss erzählen. 1803 wurde es ein Arbeitshaus, wo Landstreicher, Bettler und andere Randgruppen interniert wurden. Das hat man damals so gemacht, weil die Reichen dachten, die Armen wären arm, weil sie „charakterschwach“ wären und zum Arbeiten „erzogen“ (also gezwungen) werden müssten.

Das ist lustig, weil allein die Existenz des Schlosses den Armen tagtäglich die Vermögensungleichheit und damit die wahre Ursache ihrer Armut vor Augen führte.

Naja, eigentlich ist es gar nicht lustig, denn so viel weiter sind wir seither nicht gekommen. Noch immer wird insinuiert und propagiert, dass Arme selbst schuld an ihrer Armut seien. Dass die Aufgabe der Armutsbekämpfung bei den Arbeitsämtern beziehungsweise Jobcentern angesiedelt ist, verdeutlicht, wie institutionalisiert dieser Irrglaube ist. Dies ist – neben dem Glauben an das Wirtschaftswachstum – die große Lebenslüge unserer Gesellschaft, und wer daran rüttelt, muss weggesperrt oder sanktioniert werden.

In der Zwischenzeit wurde Schloss Colditz 1829 zur „Landesversorgungsanstalt für unheilbar Geisteskranke“, und 1926 wieder „Korrektionsanstalt“ für Bettler und Landstreicher. Wohin die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Randgruppen führt, sollte sich bald zeigen.

Schon am 21. März 1933 errichteten die Nazis in Schloss Colditz eines der ersten Konzentrationslager.

Inhaftiert wurden hier hauptsächlich KPD- und SPD-Politiker, was die Eile erklärte. Denn das Ermächtigungsgesetz wurde erst zwei Tage später im Reichstag verabschiedet, und die NSDAP wusste, dass Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten die einzigen waren, die sich ihnen entgegenstellen würden. Die Vorläuferparteien von CDU, CSU und FDP hingegen stimmten für die Diktatur. Wenn man die Begeisterung für den Autobahnbau teilt, ist alles andere eben nachranging.

Heinrich Lübke: „Ob mir das schaden wird, wenn ich Bundespräsident werden will?“

Ein Jahr später erhielten die Nazis das Gutachten einer Unternehmensberatung („Synergien bei der Endlösung“), das empfahl, die vielen Konzentrationslager zusammenzulegen, zu zentralisieren und zu rationalisieren. Das KZ Colditz wurde 1934 aufgelöst, die Häftlinge wurden in das KZ Sachsenburg verbracht.

Danach wurde nahtlos an die frühere Nutzung angeschlossen. Zuerst war Schloss Colditz ein Lager des Reichsarbeitsdienstes (auch so ein Konzept, das nicht totzukriegen ist), dann ab 1938 eine „Heil- und Pflegeanstalt“, die niemanden heilte oder pflegte.

Im kalten Keller des Schlosses befinden sich dazu eine Gedenkstätte und eine Namensliste der 84 Opfer, die hauptsächlich an Mangelernährung und an Tuberkulose starben.

Dieses absichtliche Sterbenlassen von „lebensunwertem Leben“ war der Vorläufer des späteren systematischen Massenmordes an Menschen mit körperlichen, psychologischen und seelischen Beeinträchtigungen, bekannt geworden als Aktion T4. Dazu kann ich Euch aber jetzt mit Einzelheiten verschonen, denn ich war letztes Jahr in einer dieser Mordanstalten, zufällig auch ein Schloss, und werde diesem Thema und Ort einen separaten Artikel widmen.

Aber noch ein letztes Kapitel Nazi-Geschichte bleibt zu erzählen, und das ist dasjenige, wofür Schloss Colditz berühmt ist. Zumindest im englischsprachigen Raum, wo es Dutzende von Büchern, Brettspielen, Computerspielen, Filmen und Fernsehserien zu Colditz gibt.

Ab Oktober 1939 war Schloss Colditz ein Lager für Kriegsgefangene. Aber nur für ganz besondere Kriegsgefangene. Nämlich nur für Offiziere. Und unter denen nur für diejenigen, die bereits aus anderen Kriegsgefangenenlagern im Reich zu fliehen versucht hatten – oder nach einem erfolgreichen Fluchtversuch erneut aufgegriffen worden waren.

Das Oflag IV C in Colditz galt als ausbruchsicher.

Die polnischen, französischen, belgischen, niederländischen, britischen, kanadischen, australischen, indischen und US-amerikanischen Offiziere hatten natürlich nur eines im Kopf: die Flucht.

Sowjetische Offiziere gab es in Colditz nicht, weil diese aufgrund der rassistisch motivierten Kriegsführung der Wehrmacht entweder gleich erschossen oder in Konzentrationslagern dem Hunger und Krankheiten überlassen oder aktiv ermordet wurden. Mit zwischen zwei und drei Millionen Toten sind die sowjetischen Kriegsgefangenen zahlenmäßig die zweitgrößte Opfergruppe der deutschen Vernichtungspolitik, werden aber bei der Erinnerung, bei der historischen Aufarbeitung und natürlich bei Entschädigungszahlungen weitgehend übergangen.

Colditz hingegen war ein Vorzeigelager. Die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung und des Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen wurden penibel eingehalten. Den Gefangenen waren Spaziergänge und die Ausübung von Sport gestattet. Sie durften Pakete erhalten. Sie durften ein eigens Orchester und ein Theater betreiben, sowie – das wäre mir besonders wichtig – eine Bibliothek unterhalten. Das Rote Kreuz durfte das Lager zu Inspektionen betreten.

Mitten in Sachsen, weit weg von allen Fronten, hätte man es sich mit Cricket, Büchern aus der Gefängnisbibliothek und Zigarren (gestattet nach Art. 11 III 2 des Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen von 1929) gut gehen lassen.

Kurioserweise regelt das Völkerrecht nicht nur den Tabakgenuss, das Aufgießen von Instantkaffee (Art. 11 II des Genfer Abkommens), die Errichtung von Testamenten (Art. 19 I HLKO) und die Arbeitszeiten inklusive Sonntagsruhe (Art. 30 des Genfer Abkommens), sondern – endlich zahlt sich aus, dass ich einen Teil meiner juristischen Ausbildung beim US Army JAG Corps absolviert habe – auch die Flucht. Die Flucht stellt zwar einen Verstoß gegen die Gefängnisdisziplin dar, aber die Regelungen dazu (Art. 8 III HLKO, Art. 47 I, 48 II, 50 II, 51, 52 II des Genfer Abkommens von 1929) machen deutlich, dass das Ganze doch eher sportlich gesehen wurde.

Sportlich, aber organisiert: Die Gefangenen wählten einen Fluchtoffizier, dem sämtliche Fluchtpläne zur Genehmigung vorgelegt werden mussten. Dieser entschied dann zusammen mit dem Fluchtkomitee, welche Ausbruchversuche am erfolgversprechenden waren, welche man gleichzeitig verfolgen konnte, und welche waghalsigen Pläne warten mussten, weil sie andere Fluchtversuche vereiteln würden.

Sogar die Deutschen spielten mit. Trotz mehr als 300 Ausbruchversuchen wurde nur einer der Flüchtenden erschossen. Den Briten Michael Sinclair erwischte im September 1944 eine Kugel – bei seinem siebten Fluchtversuch.

Die Fluchtversuche umfassten alles, was man sich denken kann – Tunnel graben, abseilen, im Wäschekorb verstecken – sowie alles, worauf man ohne gemeinsames Brainstorming im Fluchtkomitee nie käme.

Das hier zum Beispiel ist Airey Neave, ein britischer Offizier, der sich eine falsche deutsche Uniform schneiderte. Die Stoffe dafür konnten sich die Gefangenen schicken lassen, vorgeblich, um Kostüme für Theateraufführungen zu fabrizieren.

Allerdings scheiterte dieser Fluchtversuch, weil der Stoff dem echten nicht ähnlich genug war. Und man braucht ja nicht nur eine deutsche Uniform, sondern auch deutsche Papiere, deutsches Geld, und man muss ausreichend Deutsch sprechen, um an den „Kameraden“ am Tor vorbeizukommen. Wenn man dann draußen ist, befindet man sich mitten im Deutschen Reich, Tausende von Kilometern von zuhause entfernt, und man weiß, dass die gesamte Nazi-Maschinerie hinter einem her ist.

Umso erstaunlicher, dass Neave bei einem weiteren Fluchtversuch erfolgreich war. Er entkam zusammen mit dem Holländer Abraham Luteyn, der, wie alle Niederländer, fließend Deutsch sprach. Die beiden schafften es aus der Festung, vergruben ihre falschen deutschen Uniformen und gaben sich fortan als holländische Zwangsarbeiter aus. Mit dem Zug fuhren sie über Leipzig, Regensburg und Ulm. In der Zwischenzeit, weil sie ein paar Stunden auf den Anschlusszug warten mussten, gingen sie ins Kino, wo der Film höchstwahrscheinlich weniger spannend war als ihr eigenes Unterfangen. Am Fahrkartenschalter des Bahnhofs wurden sie als verdächtig aufgegriffen (auch ein Vorteil des jetzigen Deutschlandtickets) und in Polizeigewahrsam genommen. Von dort entkamen sie natürlich mit Leichtigkeit, gingen 40 km zu Fuß, bis sie sich wieder in einen Bahnhof trauten und nach Stockach fuhren.

Von dort marschierten sie weiter zu Fuß, durch tiefen Schnee, um in die Schweiz zu gelangen. Luteyn kannte die Route, weil er bei einem früheren Fluchtversuch bereits so weit gekommen und an der Grenze zur Schweiz festgenommen worden war. Ein übermütiger Gestapo-Offizier hatte ihm damals bei der Vernehmung eine bessere Fluchtroute vorgeschlagen, die er sich natürlich gemerkt hatte. Beim zweiten Mal klappte es.

Damit die fehlenden Kameraden beim Zählappell nicht auffielen, hatten die Gefangenen Handpuppen gebastelt, die zumindest aus der Ferne täuschend echt aussahen.

Airey Neave wurde dann Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, Abgeordneter in Westminster und dort von irischen Terroristen in die Luft gesprengt. So kann’s gehen im Leben, die wirkliche Gefahr lauert oft zuhause.

Andere Soldaten verkleideten sich als Frau oder kopierten Kleidung, Brille und sogar Gang des örtlichen Elektrikers, um zu entkommen. Die meisten flogen auf, meist weil sie bei der Kontrolle nicht ausreichend Deutsch sprachen.

Dennoch glückte mehr als 30 alliierten Offizieren die Flucht aus Colditz und aus dem Deutschen Reich.

Der verrückteste Fluchtplan jedoch – ach, da fällt mir ein, dass viele von Euch darum gebeten haben, dass meine Artikel kürzer und notfalls grausam zerstückelt und verstümmelt werden. Also, den waghalsigsten Fluchtplan aus dem Schloss Colditz gibt es dann in Teil 3.

Praktische Tipps:

  • Solange der Bahnhof in Colditz nicht reaktiviert wird, kommt man z.B. von den Bahnhöfen Grimma oder Bad Lausick mit dem Bus nach Colditz.
  • Man kann auch direkt im Schloss in der dortigen Jugendherberge übernachten. Trotz des Namens ist das auch für Erwachsene zulässig, nur ein bisschen teurer.
  • Das Schloss ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet und frei zugänglich. Eintritt (4 Euro) muss man nur für das Fluchtmuseum zahlen.
  • Führungen finden im Sommer um 10:30, 13 und 15 Uhr sowie im Winter um 11 und 14 Uhr statt. Das kostet 10 Euro extra, aber wenn Ihr die Chance habt, lasst Euch das nicht entgehen! Dabei kommt Ihr nämlich in die Teile des Schlosses, die sonst nicht frei zugänglich sind.
  • Wenn Ihr Euch richtig gruseln wollt, könnt Ihr noch ins Dentalmuseum gehen. Krankenkassenbonusheft nicht vergessen, denn das Museum zählt wie ein Zahnarztbesuch.

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Flucht nach Colditz (Teil 1 von 3)

Es ist schon Mitte Mai, und ich habe das 49-Euro-Ticket für diesen Monat noch kaum genutzt.

Wobei der Hauptnutzen dieser Bahn-, Bus- und Bim-Flatrate ja darin besteht, dass man nicht mehr aus Versehen von einem Verkehrsverbund in einen anderen fährt und dort zwar nicht ganz fahrscheinlos, aber mit einem falschen, um diese Uhrzeit oder gerade an diesem Tag oder mit Hund oder ohne Fahrrad oder mit Fahrrad aber ohne Helm nicht geltenden Fahrschein erwischt und anschließend eingeknastet wird. Ehrlich, das ist nicht übertrieben, in Deutschland sitzen Tausende von Menschen im Gefängnis, weil sie von dem Fahrscheinautomaten, den Tarifzonen und dem Bedienen des einen sowie dem Verständnis der anderen überfordert waren.

Ich habe mit Flatrates immer ein Problem, weil ich zu wenig konsumiere. Für ein Netflix-Abo sehe ich viel zu wenig von deren Schnulzen. Für Telefon-Flatrates kenne ich zu wenige Leute, mit denen ich stundenlang quatschen möchte. Und beim All-you-can-eat-Buffet bin ich schon nach zwei Vorspeisen satt. („All you can eat“ und „Flatrate“ darf man übrigens bald nicht mehr sagen, weil die italienische Regierung alle englischen Begriffe verbieten will.)

Also dachte ich mir eines schönen Sonntagmorgens im Mai: Heute fahre ich den ganzen Tag kreuz und quer durch Deutschland. Ganz ohne Plan. Ich nehme einfach immer den ersten Bus oder Zug, der des Weges kommt.

Als ich aus der Haustür trete, steht da schon ein Bus der Leipziger Verkehrsbetriebe. Linie 70. Die mag ich gerne, weil sie von Leipzig über Connewitz nach Markkleeberg führt. Darin komme ich mir immer vor wie in einem Bus, der in New York über die Bronx in die Hamptons fährt.

Am S-Bahnhof in Markkleeberg verlasse ich den Bus gleich wieder, denn so ein Bahnhof eröffnet ganz andere Welten, Dimensionen und Kapazitäten. Träume von Samarkand oder Singapur schlage ich mir erst aus dem Kopf, als mir einfällt, dass es Deutschlandticket und nicht Weltticket heißt. Selbst wenn die NPD versucht, mit der Forderung nach einem Deutschlandticket in den Grenzen von 1937 neue Wählerschichten zu erschließen, ganz so weit ginge es dann doch nicht.

Zwei Züge werden angezeigt, die S6 nach Geithain und die S4 nach Torgau.

Von Geithain habe ich noch nie gehört.

Torgau hingegen, na klar: Die Stadt an der Elbe, das Zusammentreffen sowjetischer und amerikanischer Truppen am 25. April 1945, das den endgültigen Sieg über Nazi-Deutschland und die Befreiung symbolisierte, und an das man sich in den Jahrzehnten des Kalten Krieges oft zurücksehnte.

In Torgau waren auch das Reichskriegsgericht und ein Wehrmachtsgefängnis, heute eine Gedenkstätte. Eine weitere Gedenkstätte in einem ehemaligen Heim, in dem die DDR Kinder und Jugendliche einsperrte. Schloss Hartenfels, das politische Zentrum der Reformation, die Geburtsstätte der Torgauer Artikel. Die Festung Torgau, Napoleon, und so weiter. So viel Geschichte an einem Ort, ich bin begeistert und voller Vorfreude. Und all das wegen des Plans, den erstbesten Zug zu nehmen. Ein Lob auf das Zufallsprinzip!

Am Bahnsteig ertönt eine Durchsage: „Die S4 nach Torgau muss wegen kurzfristigen Personalmangels leider ausfallen.“

Da kommt auch schon der Zug nach Geithain. Ich verfluche den Zufall, aber steige ein.

Das Fensterbrett, oder wie immer das im Zug heißt, ist mit einer abwischbaren Landkarte versehen, die anzeigt, dass in Geithain nicht nur die Fahrt, sondern auch die eisenbahnlich erschlossene Zivilisation endet.

Außerdem erspähe ich das etwas beunruhigende Wort „Mitteldeutschland“. Geografisch kann ich dazu nichts sagen, das ist wahrscheinlich ebenso umstritten wie beim Mittelpunkt Europas. Aber mich erinnert dieser Begriff immer an die Atlanten im Westdeutschland der 1950er Jahre, als man dort noch auf den Anschluss der Ostgebiete hoffte. Da war ja nach zwei verlorenen Weltkriegen einiges an Flurstücken flöten gegangen. Von diesen revanchistischen Gedanken kommt übrigens das beliebte deutsche Sprichwort: „Aller guten Dinge sind drei.“

Der Zug hält in Großdeuben, von dem man gar nichts sieht. Lärmschutzwand heißt das, aber vielleicht sollen auch die Passagiere vor dem Anblick von Großdeuben, das so groß nicht sein kann, geschützt werden. Ich bleibe sicherheitshalber sitzen.

In Böhlen blasen allerlei Kraft- und Chemiewerke irgendwelche giftigen Gase in die Luft, da steige ich besser auch nicht aus.

Vor Petergrube stehen die Plattenbauten im gelben Rapsfeld, richtig romantisch! Überhaupt ist die DDR-Architektur weit besser als ihr Ruf. Und wesentlich besser als die hässlichen Neubauwürfel, die der Kapitalismus überall hinklotzt und auskotzt.

In Frohburg befürchte ich als erklärter Gegner des Frohsinns schon das Schlimmste. Aber zum Glück steigen keine Clowns ein. Die sind im Osten ja gefährlich.

Und dann kommt schon Geithain. „Sie haben folgende Anschlussmöglichkeiten,“ macht sich eine Lautsprecherdurchsage daran, meine Weiterreiseoptionen aufzufächern, darzulegen und anzupreisen: „S6 nach Leipzig“.

„Und sonst?“ frage ich.

Nichts. Es ist eine richtige Endstation. So sieht sie auch aus. Der Bahnhof ist verfallen, abgesperrt und zugenagelt. „Sieg Heil“ hat ein Graffitiunkünstler an die Wand gesprüht.

Liebe Deutsche Bahn AG, es ist wunderbar, dass Ihr so viel Geld in neue Züge, knackige Werbesprüche und vor allem in astronomische Vorstandsgehälter investiert, aber insbesondere für Menschen, die Ihr zum ökologischen Um- und Einsteigen bewegen wollt, ist der nächstgelegene Bahnhof entscheidend für den ersten Eindruck.

Wenn jemand wegen des Klimawandels denkt, „okay, ich sehe mir diese Bahn mal an“, und dann zu einem Bahnhof kommt, wo keine Angestellten auffindbar sind, wo man weder Currywurst noch Tageszeitung erhält, und wo man es durchaus mit der Angst bekommen kann, dann machen diese Leute schnurstracks kehrt und assoziieren die Bahn fortan und fürderhin mit Sodom und Gomorrha.

Und die Bahnhöfe in den Metropolen sind nicht viel besser.

Aus Leipzig komme ich gerade, da will ich nicht gleich wieder hin. Also laufe ich ein paar Meter durch Geithain und merke recht schnell, dass die im Vergleich zu Endbahnhöfen wie Wladiwostok oder Ushuaia geringere Bekanntheit von Geithain nicht ganz unberechtigt ist. Selbst an der Endhaltestelle der Trambahn 71 in Wien ist mehr Leben.

Da sehe ich an der Straße einen Wegweiser: „Colditz 11 km“

„That rings a bell“, denke ich mir, solange man noch auf Englisch denken darf. Ich weiß nicht genau, was dort war. Aber es muss irgendetwas Geschichtig-Wichtiges sein, sonst hätte ich nicht davon gehört.

Ein Bus fährt nicht. Also stelle ich mich an die Straße, halte den Daumen raus und lächle freundlich in die Mai- und Morgensonne.

Mit wenig Erfolg. In 15 Minuten hält nur ein einziges Auto, aber die Fahrerin muss irgendwo anders hin.

Eine Viertelstunde war genau das Zeitlimit, das ich mir gegeben habe. Ansonsten würde ich die 11 km halt zu Fuß gehen. Ist ja nicht weit.

Aber das eine Auto warte ich noch ab, denn das sieht nach einem typischen Anhaltermitnehmer aus: Sehr alter Audi, offene Fenster statt Klimaanlage, junger Mann mit Bart.

Und tatsächlich: Er hält.

Er ist auf dem Weg, um seine Tochter abzuholen. Die hat die Nacht bei einer Freundin verbracht, weil in Colditz gestern Frühlingsfest war. Ah, deshalb ist heute endlich schönes Wetter! Jetzt fehlt nur noch die ukrainische Frühjahrsoffensive, und der Mai ist perfekt.

Der Fahrer erzählt, dass er früher in München gearbeitet habe, aber froh sei, jetzt wieder zuhause in Sachsen zu sein. Ostdeutsche ziehen nur für ein paar Jahre zum Geldverdienen nach Westdeutschland, so wie die Filipinos auf den Kreuzfahrtschiffen arbeiten, bis sie sich vom Ersparten ein Haus bauen können. (Auf den Philippinen, nicht auf dem Kreuzfahrtschiff. Obwohl diese Schiffe eigentlich groß genug wären.)

Irgendwie kommen wir, das passiert mir oft, auf Rumänien zu sprechen. Auch mein Chauffeur ist ein Fan dieses sympathischen Landes. Jeden Sommer fährt er zum Enduro-Fahren dorthin: „Da kann man noch kreuz und quer durch den Wald jagen, ohne dass man auf Mountainbiker aufpassen muss. Hier bei uns trifft man ja alle paar Meter jemanden mit Hund. Oder die Nordic Walker, die nicht rechtzeitig zur Seite springen.“ Die Rumänienreise als Motocross-Kolonialismus, sozusagen.

„Und was machen Sie in Colditz?“

Jetzt darf ich nicht die Wahrheit sagen. Denn wenn man als Tramper sagt, dass man kein bestimmtes Ziel hat oder einfach nur so zum Spaß rumgurkt, dann denken die Leute, man wolle sie ausrauben.

„Ach, ich wollte das schöne Wetter für einen Ausflug nutzen“, sage ich. Und dann, weil ein bisschen Risiko beim Wachwerden am frühen Morgen hilft: „Ich wollte mir die Burg ansehen. Und dann Spazieren gehen, immer am Fluss entlang.“ In Deutschland hat eigentlich jede Stadt einen Fluss und eine Burg.

„Das passt“, sagt er, „dann lasse ich sie an der Brücke raus.“

Na, da hatte ich aber Glück mit meiner Burg-und-Fluss-Wette. – Denkt mal an die Städte in Eurer Umgebung, das funktioniert fast überall in Deutschland und in Österreich. Lediglich in der Schweiz ersetze man die Burg durch einen Berg, weil Wilhelm Tell die Habsburger zum Teufel jagte und alle Burgen zerstörte. Aber wenn man in der Schweiz autostöppelt, macht man wahrscheinlich auch nichts falsch, wenn man sagt, man müsse zur Bank, um etwas aus dem Schließfach zu holen.

Die Ausstellung im Hof des Oase-Getränkemarktes ist wohl Teil des Festes.

Man merkt, dass man alt ist, wenn Autos, die man aus der Kindheit als ganz normale Autos kennt, mittlerweile als Oldtimer durchgehen. Und wenn ich das Publikum ansehe, kommen mir die Statistiken vom hiesigen Männerüberschuss in den Sinn. Ostdeutschland hat einen wesentlich krasseren Männerüberschuss als China oder Indien, obwohl dort weibliche Föten regelmäßig abgetrieben werden. Interessanterweise sind es gerade die von Abwanderung am stärksten betroffenen Regionen, in denen die Menschen am meisten gegen Zuwanderung protestieren. Vielleicht sind sie – ganz tief im Unterbewusstsein – sauer auf diejenigen, die weggezogen sind, und richten diesen Hass auf alles und jeden, was irgendwie mobil ist, seien es Migranten, Kosmopoliten oder Zugvögel.

Mein Versuch, an der Wanderkarte im Ort einen kleinen Spaziergang durch die Umgebung zu planen, scheitert daran, dass die Karte seit mehr als 200 Jahren nicht mehr aktualisiert wurde.

Eine traditionsbewusste Stadt, wie es scheint. Mit ein paar trostlosen, aber auch sehr schmucken Ecken. Hier aufgegebene Detailgeschäfte, dort liebevoll instandgehaltene Fachwerkhäuser.

Huch, was ist das? Aus dem Hof eines Häuschens, ja vielleicht eines Schlosses, düst eine Mercedes-Limousine. Die gleiche, die James Bond einst fuhr. Sogar mit der Ziffernfolge 007 im Kennzeichen.

Wenn das mal kein verstecktes Zeichen ist, dass ich mir dieses Schloss näher ansehen soll! Um das Ergebnis vorwegzunehmen: In diesem Gemäuer steckt mindestens so viel Geschichte wie in Torgau. Vielleicht ist das in Deutschland auch überall so, genauso wie die Burgen und die Flüsse.


Weil aus der überforderten Leserschaft schon oft die Auf- und Unterforderung kam, meine ausufernden Artikel in kleine und leicht genießbare Häppchen aufzuteilen, setze ich hier einen brutalen Cliffhanger ein. Die Geschichte des Spuk- und Geisterschlosses gibt es demnächst in Teil 2.

Bedankt Euch bei denen, die nicht eine Stunde am Stück stillsitzen und konzentriert lesen können.

Praktische Tipps:

  • Solange der Bahnhof in Colditz nicht reaktiviert wird, kommt man z.B. von den Bahnhöfen Grimma oder Bad Lausick mit dem Bus nach Colditz.
  • Man kann auch direkt im Schloss in der dortigen Jugendherberge übernachten. Trotz des Namens ist das auch für Erwachsene zulässig, nur ein bisschen teurer.
  • Das Schloss ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet und frei zugänglich. Eintritt (4 Euro) muss man nur für das Fluchtmuseum zahlen.
  • Führungen finden im Sommer um 10:30, 13 und 15 Uhr sowie im Winter um 11 und 14 Uhr statt. Das kostet 10 Euro extra, aber wenn Ihr die Chance habt, lasst Euch das nicht entgehen! Dabei kommt Ihr nämlich in die Teile des Schlosses, die sonst nicht frei zugänglich sind.
  • Wenn Ihr Euch richtig gruseln wollt, könnt Ihr noch ins Dentalmuseum gehen. Krankenkassenbonusheft nicht vergessen, denn das Museum zählt wie ein Zahnarztbesuch.

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Der Klimawandel ist in Leipzig angekommen.

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Was hat die Völkerschlacht mit dem Leipziger Stollen zu tun?

Ich bin zur Zeit in Markkleeberg. Hier gibt es einige Seen, am schönsten und am größten den Cospudener See. An dessen Westufer fühlt man sich wie am Baikalsee, am Ostufer wie in den Hamptons, alles in einem etwa zweistündigen Seeumrundungsspaziergang zu erkunden, der, ob man will oder nicht, immer an einer Eis- und an einer Pommesbude vorbeiführt. Der verbleibende freie Wille des Menschen beschränkt sich auf die Frage, welche der Köstlichkeiten man als erste einnimmt.

Außerdem hat man die Aussicht auf überraschend viele Türme. Kirchtürme, Eiffeltürme, Fabriktürme, Bürotürme, Aussichtstürme, Burgtürme, Windräder und sogar Pyramiden.

Auf der Bistumshöhe gibt es einen, den zu erklimmen, um Euch die beste Aussicht zu präsentieren, ich mir vornehme.

Aber mir wird bald so mulmig zumute, dass ich von den 35 Metern maximal die Hälfte schaffe, zitternd ein paar Fotos knipse, und ohne längeren Aufenthalt wieder zur Erde zurückkehre, wo mein Herz noch immer gegen den vertikalen Ausflug protestiert. Der Job als Ausguck hoch auf einem Segelschiffmast, das wäre eindeutig nichts für mich. Ich würde ständig vor Angst die Augen schließen, und dann wäre Kolumbus doch glatt an Amerika vorbeigefahren.

Unter all den Türmen ragt in der Ferne einer heraus, der ziemlich dominierend, klotzig und fett erscheint. Das muss etwas ganz Besonderes sein. Mein Interesse ist geweckt.

Wie viele meiner ständig geweckten Interessen wäre dieses wahrscheinlich im Strudel der alltäglichen Ablenkungen und Banalitäten untergegangen, wenn nicht Ina, eine in Leipzig lebende Leserin dieses Blogs, mich angerufen und zu einem Besuch des Völkerschlachtdenkmals eingeladen hätte. Das ist schön, denn es zeigt, dass sie eine wirklich aufmerksame Leserin ist und meine Interessen richtig einschätzt. Manchmal laden mich Leute nämlich zu so Dingen ein, von denen jeder Mitlesende wissen müsste, dass ich davon nichts halte, wie Golftourniere, Hochzeiten oder Treibjagden.

Das Völkerschlachtdenkmal heißt im Volksmund „Völki“, aber kleiner oder niedlicher wird es dadurch nicht. Je näher man kommt, umso bombastischer wirkt es.

Wenn man es mir nicht anders gesagt hätte, so würde ich denken, hier wird der gefallen Sowjetsoldaten gedacht. Ansonsten baute ja nur die UdSSR so gewaltige Monumente in gewaltigen Parks.

Man kann die Größe gar nicht ermessen, wenn nicht ein paar andere Besucher zufällig ins Bild laufen, um die Proportionen zu illustrieren. Die mutigen Jugendlichen, die auf den riesigen Stufen herumturnen, erkenne ich nur durch den Einsatz eines Zooms, so hoch oben im Himmel befinden sie sich. Mit bloßem Auge sehen sie aus wie bunte Vögel, die in einer Reihe sitzen, um den Sonnenuntergang zu begutachten und Pläne für die nächste Zugvogelreise zu schmieden.

Aber Ihr wollt nicht nur staunen, sondern etwas lernen. Also will ich etwas zum Hintergrund erklären:

Im Jahr 1813 dachte man, dass Napoleon erledigt war. Gerade war sein Russlandfeldzug krachend gescheitert. Der Rückzug war schmerzlich und schmählich gewesen. Der einstige Kaiser musste sich als Autor von langweiligen Büchern wie dem „Code civil“ durchschlagen.

Dem armen Mann war langweilig. Also wollte er nach Leipzig fahren. Da war die Buchmesse und auch sonst allerhand los. Leider gab es damals noch keine Zugverbindung, weil die Leipziger den schönsten Bahnhof Europas bauen wollten, was halt ein bisschen dauert. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen.

„Noch keinen Bahnhof, aber den Fußballverein nach einer Lokomotive benennen? Das ist frech“, erregte sich Napoleon, der sich auf einem seiner Feldzüge die Cholerika eingefangen hatte.

Ab einem bestimmten Alter ist es schwer, alte Gewohnheiten abzulegen, also sammelte Napoleon eine Armee von 190.000 buchmessebegeisterten Soldaten ein und zog Richtung Leipzig.

Die anderen Staaten, allen voran Preußen, Russland, Österreich, Schweden und Großbritannien, hatten mittlerweile genug von Napoleon und verbündeten sich. Endlich. Das war praktisch die Geburtsstunde der NATO – und erklärt die spätere NATO-Skepsis in Frankreich. Ich habe jetzt leider kein Bild davon gefunden, aber in meiner Kindheit in den 1970er und 1980er Jahren war in der Tagesschau, wenn die NATO-Karte eingeblendet wurde, Frankreich immer schraffiert, weil es eben nur halbherzig dabei war. Damals konnte mir das niemand erklären, weshalb ich jetzt Geschichte studiere.

Aber zurück zu eben jener Geschichte: Man traf sich also vom 16. bis zum 19. Oktober 1813 in Leipzig, um die Sache auszufechten. Vier Tage mussten reichen, ein langes Wochenende, denn mehr Zeit würden die späteren Reenactment-Fritzen nicht aufbringen können. (Oder habt Ihr schon mal gehört, dass jemand die 162 Tage von Stalingrad nachspielt? Na gut, russische Schulkinder vielleicht, aber die haben ja eh einen Knall dort.)

Außerdem konnten sich die beteiligten Armeen mehr als vier Tage nicht leisten.

Damals wurde nur bei Tageslicht gekämpft (mangels Flutlicht und wegen den – insbesondere bei den Franzosen – starken Gewerkschaften), abends mussten die Soldaten einquartiert und verköstigt werden. Für die Mannschaften genügte womöglich ein Zelt, die Niederländer (bis zu jener Vielvölkerschlacht von Frankreich besetzt) hatten sogar Campingwagen mitgebracht. Aber die Offiziere wollten ein Bett, ein Bad, einen Braten und eine Bouteille. (Daraus entwickelte sich das B&B-Business.)

Wer schon mal zu Kriegs- oder Messezeiten in Leipzig war, weiß, wie schnell die Betten knapp werden.

Damals war Leipzig noch ein wenig kleiner, so dass auf 40.000 Einwohner 555.000 Soldaten kamen. Nach vier Tagen waren einfach keine Lebensmittel – und vor allem keine Spirituosen – mehr da.

Außerdem hatten die vereinigten europäischen Alliierten gewonnen.

Napoleon war geschlagen und wurde nach Elba verbannt. Wobei sich „Verbannung“ schlimmer anhört, als es wirklich war. Napoleon durfte als Fürst über die ganze Insel herrschen und erhielt dafür jährlich zwei Millionen Francs. Ich will mich jetzt nicht vordrängen, aber dafür würde ich mich auch auf eine Insel im Mittelmeer setzen.

Aber zurück nach Leipzig, wo in jenen Oktobertagen im Jahr 1813 die bis dahin größte Schlacht der Weltgeschichte stattgefunden hatte. Ja, sogar bis heute – trotz zwischenzeitlichen zwei Weltkriegen – bleibt die Völkerschlacht das tödlichste Einzelereignis auf deutschem Boden, mit geschätzt bis zu 100.000 Toten. Nur in Dresden, der ewig zweiten Stadt hinter Leipzig, gibt es ein paar unverbesserliche Lokalpatrioten, die geschichtsverfälschend den Pokal des Massensterbens für sich beanspruchen.

Jedenfalls konnte man für so eine Riesensause keinen einfachen Gedenkstein aufstellen. Da musste schon etwas Bombastisches her!

Dabei gab es nur ein Problem: Leipzig liegt in Sachsen.

Und das Königreich Sachsen hatte, mit dem sicheren Gespür für historische Fettnäpfchen, zwar an der Schlacht von Leipzig teilgenommen – allerdings auf Seiten Napoleons. Der sächsische Ministerpräsident wich Fragen von Journalisten dazu zeitlebens aus, indem er auf „die Gefahren des Linksextremismus“ verwies.

Jahrzehntelang passierte nichts. Das ist eigentlich Standard in Deutschland, wenn man die Geschichte aufarbeiten müsste. Man lässt Gras über die Sache wachsen, wartet ein paar Generationen und konzentriert sich aufs Wirtschaftswachstum.

Und dann kam wieder ein Krieg, nämlich der von 1870/71. Deutschland gegen Frankreich, nur dass Deutschland erst entstehen musste, aber das war schließlich das Ergebnis jenes Krieges. Und diesmal gehörte sogar Sachsen zu Deutschland. „Das ist praktisch, das können wir später mal den Russen geben“, dachten sich die Hohenzollern und Wittelsbacher und wer sonst noch etwas im neuen Deutschen Reich zu sagen hatte.

Jedenfalls war es jetzt an der Zeit, große, stolze, monumentale Denkmäler im national-patriotischen Stil zu erbauen, und 1898 wurde der Grundstein für das Völkerschlachtdenkmal gelegt. 1913, zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht, wurde es eröffnet und versetzte ganz Deutschland in solch nationalen Taumel, dass die Nation wenige Monate später den Ersten Weltkrieg vom Zaun brach. Danke, Völki!

„Wir können auch hochgehen“, sagt Ina.

Ich suche noch nach einer Ausrede, die mich nicht vollkommen uncool aussehen lässt, aber da hat sie schon zwei Eintrittskarten erworben.

„Der Eingang ist beim Erzengel Michael“, sagt der Museumsmann, und ich muss zugeben, ich hätte den Türsteher nicht erkannt. Für mich sieht er eher aus wie Siegfried der Drachentöter oder sonst irgendein Mustergermane.

Überhaupt ist es ein interessanter Stilmix. Die Figuren sehr martialisch, kantig, muskulös. Viel mittelalterliche Symbolik mit Schwertern und Schildern und Ritterrüstungen. Aber die Reliefs in einer Mischung aus Jugendstil und sozialistischem Realismus avant la lettre.

Von außen sieht es so aus, wie wenn das ganze Denkmal aus vulkanischem Porphyrstein gemauert ist, der in der Abendsonne wunderbar rostbraun schimmert. Das wäre aber eine Riesenarbeit gewesen. Deshalb sind das Fundament und die tragenden Wände in Wirklichkeit aus schnödem Beton. Wie so ein Militärbunker, aber das passt ja zum deutschen Charakter, der hier gefeiert werden soll.

Trotzdem wurde so viel Granitporphyr ausgebuddelt, dass anderswo ganze Dörfer im Boden versanken.

Die Wände sind so dick, dass keine Handystrahlen durchdringen. Hier könnte man Abiturprüfungen durchführen, ohne dass die Kinder heimlich auf Wikipedia recherchieren. Denn dass die Abiturnoten immer besser werden, ist ja schon sehr verdächtig. (Außer für die jeweiligen Eltern natürlich, die alle überzeugt sind, dass ihre kleinen Racker Genies sind. Was die Frage aufwirft, wieso Genies nicht selbständig den Bus nehmen können, sondern von den Eltern in die Schule gefahren werden müssen.)

Die Statuen im Inneren stellen eine kuriose Kombination aus den Rittern der Tafelrunde, den zwölf Aposteln und Rübezahl dar.

Und immer höher geht es.

Insgesamt 500 Stufen. Die Wendeltreppe wird so eng, dass wir gerade noch durchpassen. Wenn man sich hier einen Döner mitbringt, um ihn ganz oben auf dem Monument zu verspeisen, würde man sich durch die Gewichts- und vor allem die Umfangszunahme den Rückweg versperren. So fordert die Völkerschlacht auch 200 Jahre später noch immer jährlich ein paar Tote.

Dafür hat man eine wirklich famose Aussicht. Auf der einen Seite über den „See der Tränen“ hinweg nach Leipzig, eine, wie einem aus der Vogelperspektive bitter bewusst wird, erschreckend ebene Stadt. Wie Las Vegas. Nur dass man in Leipzig zum Glücksspielen ins Bundesverwaltungsgericht geht.

Dafür gibt es auf der anderen Seite viel Grün, und das hebt die Stimmung gleich wieder.

Ganz in der Ferne das Kraftwerk Lippendorf, das die letzte Braunkohle verfeuert. In der Halbferne gemütliche Mehrfamilienhäuser. Und direkt zu Füßen des Völkerschlachtdenkmals ein Schloss in einem Wald.

„Was ist das?“ frage ich, total begeistert von dem An- und Ausblick.

„Das ist das Krematorium“, sagt Ina.

„Nein, ich meine nicht die rauchenden Schornsteine am Horizont, sondern das Schloss im Wald“, präzisiere ich.

„Ja, das ist das Krematorium“, erklärt Ina geduldig. Es gehöre zum Südfriedhof, dem größten Friedhof Leipzigs und gleichzeitig einem wunderschönen Park. Das merke ich mir, denn wie Ihr wisst, bin ich ein großer Fan von Friedhöfen, obwohl ich mir um das eigene Verscharren explizit kein Bohei wünsche.

Ganz viel Bohei gibt es hingegen im nahegelegenen Bruno-Plache-Stadion, woher der Wind den Schlachtenlärm, die Schmerzensschreie und die Jubelrufe einer Partie aus der Regionalliga Nordost trägt. Die Fans vom FC Lokomotive Leipzig haben einen Ruf als rechtsradikale Rowdys, aber 100.000 Tote an einem langen Wochenende, das schaffen sie dann doch nicht.

„Ist ja auch praktisch, dass der Friedhof gleich neben dem Schlachtfeld liegt“, kombiniere ich.

„Ich glaube nicht, dass das zusammenhängt“, sagt Ina. „Der Friedhof wurde erst 70 Jahre nach der Schlacht eröffnet.“

„Und wo sind dann die Gräber der 100.000 Soldaten?“

„Das weiß ich gar nicht“, wundert sich Ina selbst.

Wenn Leute, die sonst alles wissen, plötzlich Nichtwissen vorschützen, dann ist das verdächtig. Weil wir noch immer hoch oben auf dem schwindelerregenden Turm stehen, sage ich erst einmal nichts, nehme mir aber vor, der Sache gewohnt gründlich nachzugehen.

Die örtliche Presse meldet alle paar Jahre den Fund eines „Massengrabs“, wobei bisher insgesamt nur 200 Skelette gefunden wurden. 200 Tote, das sind nun wirklich keine Massen, insbesondere nicht bei so einer Jahrhundertschlacht. So viele Menschen sterben im impfskeptischen Sachsen ja schon allein jeden Tag aus Angst vor der Spritze. Und wo sind die anderen 999.800 Toten? Ganz offensichtlich soll hier etwas vertuscht werden.

Dabei zeigen historische Aufnahmen, dass die toten Soldaten, Pferde und Militärkatzen in Leipzig liegen gelassen wurden. Das war damals normal, weil die Armeeführung oft gar nicht wusste, wie die einzelnen Soldaten hießen oder woher sie kamen. Es gab noch keine Wehrpflicht, die Jungs waren einfach in irgendwelchen Spelunken (zwangs)rekrutiert worden. Mit dem Ende der Schlacht wurden sie entlassen und gingen nach Hause. Oder nach Südamerika, um für Simon Bolívar zu kämpfen.

Außerdem gab es noch kein Wahlrecht, so dass sich die Kaiser und Generäle für das gemeine Volk sowieso nicht interessierten. Und Kühltransporter für den Abtransport der Leichen waren auch noch nicht erfunden worden.

Stattdessen war es Brauch, dass die örtliche Bevölkerung die Toten vergrub. Teils aus Pietät, teils weil sie dazu gezwungen wurde, und natürlich zur Prävention von Seuchen. Einen guten Dünger gaben die Soldaten auch ab. Weil die Leipziger sie vorher durchgefüttert hatten, musste deshalb niemand ein schlechtes Gewissen haben. Und wenn man beim Leichenverbuddeln noch einen Säbel, ein paar Stiefel oder eine Schnupftabakdose abstauben konnte, umso besser. Schließlich war Leipzig Messestadt, da konnte man den Touristen allerhand echte und gefälschte Schlachtensouvenirs verkaufen.

Einmal im Monat könnt Ihr auf dem Agra-Flohmarkt in Markkleeberg auch heute noch Orden, Stahlhelme, Fahnen, Soldbücher, Wehrmachtsdolche u.s.w. erwerben. Überhaupt ist das ein fantastischer Trödelmarkt, sehr zu empfehlen! Ich weiß gar nicht, wieso Leute zum moralisch sehr fragwürdigen IKEA laufen, wenn sie hier stilvolle Möbel aus dem VEB Möbelkombinat kaufen können, für die keine Bäume mehr abgeholzt werden müssen. (Die IKEA-Möbel kamen ja sowieso aus der DDR.)

Aber ich will hier nicht abschweifen, insbesondere nicht nach Schweden, denn dorthin bin ich schon einmal abgeschweift oder abgeschwiffen, was zwar zum Schreiben lustig, aber zum Lesen mühsam ist, und uns außerdem weit weg vom eigentlichen Thema brächte, das da wäre – jetzt muss ich selbst kurz nachsehen -, ach ja, die Gefallenen der Völkerschlacht.

Ab 1819, also sechs Jahre nach der Schlacht, tauchten in den Zeitungen des europäischen Kontinents plötzlich massenweise Annoncen britischer Händler auf, die händeringend nach Knochen suchten. Sie verkündeten, dass sie alles Knochenmaterial aufkaufen würden, ohne Mengenbeschränkung und zu guten Preisen. Wegen der Nähe zu den Seehäfen wurden diese Anzeigen hauptsächlich in Norddeutschland, in den Niederlanden und in Frankreich geschaltet. Leipzig liegt bekanntlich nicht am Meer, aber der Knochenhandel schien so vielversprechend, dass die Leipziger begannen, einen Kanal zum Meer zu graben. (Wie mir das bei meiner eigentlich umfassenden Geschichte des Kanalbaus entgehen konnte, ist ein unverzeihliches Rätsel.)

Das tolle am Knochenhandel war, dass er unreguliert war. Es gab keine Ausfuhrsteuern, keine Einfuhrsteuern, keine Zölle. Es gab nicht einmal EU-Richtlinien oder -Verordnungen, die den Handel mit Knochen regulierten. (Deshalb waren die Briten damals noch glücklich.) Insbesondere für die Armen auf dem Kontinent war das eine lukrative Einnahmequelle. (Mitlesende FDP-Politiker ärgern sich jetzt, diese Information zu spät für die Verhandlungen über die Reform des Bürgergeldes erhalten zu haben.)

Die Bauern um Leipzig fanden es zudem nur fair, die Knochenberge wieder auszugraben und zu Geld zu machen. Schließlich hatten ihnen diese verfluchten Armeen 1813 die ganze Ernte zertrampelt und den Wein weggesoffen, so wie später alljährlich die Reenactment-Veranstaltungen.

Zu DDR-Zeiten hieß es natürlich nicht „Reenactment“, sondern „historische Darstellung in originalgetreuen Uniformen zum Zwecke der Traditionspflege“. Dass es so etwas während der deutschen Teilung im Osten gab, hat mich als Wessi überrascht. Aber insofern ist das Völkerschlachtdenkmal ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man an einem Bauwerk im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten, teils konträren Geschichtsbilder festmachen kann.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wollte der neue antifaschistische Staat das Völkerschlachtdenkmal natürlich sprengen, wie so vieles andere in Leipzig und anderswo. Aber der 300.000 Tonnen schweren Klotz ließ sich nicht sprengen, zumindest nicht mit konventionellen Mitteln. Also entwickelte die DDR eine Atombombe. (Das war vor dem Atomausstieg und zu einer Zeit, als man die Gefahren der Kernkraft gerne verniedlichte.) Es war schon alles in die Wege geleitet, die Evakuierung der Stadt geplant, die Fernsehkameras bereit, als – praktisch in letzter Minute – 1954 der Film „Godzilla“ in die Kinos kam und sehr plastisch vor den Gefahren des Atommissbrauchs warnte.

Auf der Suche nach einem Ausweg, der ohne ein zerstörerisches Krümelmonster auskäme, meldete sich ein kreativer Historiker im Politbüro mit der Lösung: Man würde das Völkerschlachtdenkmal stehenlassen, aber einfach anders interpretieren. Der preußisch-russische Sieg von 1813 war plötzlich das Vorbild für die deutsch-sowjetische Waffenbrüderschaft (die ja doch eher eine Pipeline-Brüderschaft war). Die germanischen Ritter waren sozialistische Helden. Napoleon war ein westlicher Imperialist, den man gemeinsam besiegt hatte.

DDR-Briefmarken würdigten nicht nur das eigentlich deutsch-nationale Völkerschlachtdenkmal, sondern auch den preußischen Generalfeldmarschall Fürst Blücher von Wahlstatt, den preußischen Feldmarschall Graf Neidhardt von Gneisenau, den preußischen General von Scharnhorst und das Lützowsche Freikorps – in den Reihen „Nationaler Befreiungskampf 1813“ und „Deutsche Patrioten“.

Vielleicht war die DDR das deutschere, ja das preußischere Deutschland?

Ich habe mich schon immer gefragt, wieso die Züge in der DDR unter der Marke „Deutsche Reichsbahn“ fuhren. Und Besucher aus aller Welt berichteten nach einem Besuch in der DDR sehr verstört von mit Stechschritt zur Schau gestelltem Militarismus, absurderweise vor dem „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus.“

Halt, das war das falsche Video.

Hier das richtige, aber die Ähnlichkeit ist verblüffend, oder? Ebenfalls verblüffend ist die Ähnlichkeit zu dieser bolivianischen Schulband, aber das ist jetzt wirklich ein anderes Thema.

Im Westen gab es so etwas nicht. Da waren ja alle Hippies und in Woodstock. Und wenn einer zur Bundeswehr ging, dann eigentlich nur, um einen gefütterten Parka für die damals noch kalten Winter abzustauben.

Das war so gang und gäbe, dass man mit der Ausstattung am ersten Tag schon Formularvordrucke für Verlustmeldungen in die Hand gedrückt bekam. Den Parka „verlor“ eigentlich jeder mindestens einmal in seiner Soldatenlaufbahn, dazu gerne die langen Unterhosen und das Kochgeschirr aus stabilem Blech. Ehrlich, mich wundert gar nicht, dass es jetzt bei der Bundeswehr enormen Materialmangel gibt.

Ich selbst habe nichts mitgehen lassen. Ich bin gar nicht erst hingegangen. Das war allerdings nicht mehr in Westdeutschland, sondern schon im wiedervereinigten Deutschland. Apropos Wiedervereinigung: Vielleicht ist am höheren Nazi-Anteil in Ostdeutschland doch nicht die Treuhand schuld, sondern der „unverkrampfte“ Umgang mit Nation und Deutschtum, den die DDR pflegte?

Am jährlichen Nachspielen der Völkerschlacht störte die Stasi auch nicht das Waffenklirren oder der Pulverdampf, sondern dass dazu Teilnehmer aus Westeuropa anreisten. Ein Franzose wollte für das Reenactment 1983 sogar ein „historisches Schussgerät“ einschmuggeln. Und die Belgier zerstörten „nach größerem Alkoholkonsum“ die Einrichtung einer Gastwirtschaft, wo übrigens, das immerhin sei zur Ehrenrettung der DDR gesagt, der Bismarckhering als „Delikatesshering“ verkauft und verzehrt wurde.

Aber zurück zum Thema: Was zum Teufel wollten die Briten mit all den Knochen?

Dazu muss man wissen: Knochen enthalten Phosphat. Und Phosphat ist ein guter Dünger.

Jahrhundertelang hatten die Briten (und viele andere Völker) die Felder dadurch gedüngt, dass sie ihre Nachttöpfe auf dem Acker ausleerten, um das möglichst wenig unappetitlich zu beschreiben. Wer auf dem Land wohnt, kennt das ja, Gülle, Jauche, das ganze eklige Zeug. Nun ergab es sich aber zu jener Zeit, dass die Industrielle Revolution die Menschen in die Städte lockte. Die Landflucht führte nicht nur dazu, dass es teilweise an Arbeitern für die Bewirtschaftung der Felder mangelte, sondern eben auch an menschlichem Dünger.

Deshalb die panische Suche nach Knochenmaterial.

Natürlich wollten die Händler eigentlich Pferde-, Rinder- und Walfischknochen. Aber zur Not tut’s auch ein Preuße oder ein Franzose. So genau sieht niemand hin, und es wird ja sowieso alles zu Knochenmehl zermalmt.

Das ging ein paar Jahre gut. Aber wie das immer so ist bei neuen Geschäftsfeldern, bald kommt die Regulierung. Es wurden Ausfuhrzölle erlassen. Es wurden Gesundheitsschutzvorschriften erlassen, nach denen die Zwischenlagerung von Knochen in der Wohnung verboten war. Und schließlich wurde das Öffnen von Gräbern verboten. (Zumindest von europäischen Gräbern. In Ägypten durfte man natürlich weiter graben, was das Zeug hielt. Deshalb leiden wir noch immer unter dem Fluch des alten Tutanchamun.)

Zu allem Überfluss wurde auch noch ein besserer Dünger entdeckt, nämlich Salpeter. Der kam aus der Wüste in Chile, aus der Stadt Humberstone, die ich bereits für Euch besucht habe.

An dem Tag wäre ich übrigens fast verdurstet. Die Atacama-Wüste ist wirklich so trocken, wie man immer hört. Irgendwann bringt mich das noch um, dass ich immer alles selbst überprüfen will. So wie damals in Bolivien, als ich testen wollte, wie sich Höhenkrankheit anfühlt. Oder wie in Montenegro, wo ich in dunkle Schächte kletterte und in einem geheimen U-Boot-Hafen herauskam. Mal sehen, was mir als Nächstes einfällt.

Aber zurück zu den Knochen. An die Stelle der britischen Landwirtschaft trat ab den 1830er Jahren die Zuckerindustrie als Großabnehmer für Skelette aller Art. Und jetzt wird es wirklich fantastisch, wie Politik, Kriege, Wirtschaft, Landwirtschaft, Wissenschaft und überhaupt alles zusammenhängt. Deshalb macht Geschichte so Spaß!

In Europa wurde ursprünglich kein Zucker produziert. Aller Zucker kam von den Zuckerrohrplantagen in der Karibik und aus anderen Kolonien, weswegen Zucker nicht nur schlecht für die Zähne, sondern auch verantwortlich für die Sklaverei ist. Im Rahmen der kleinen Auseinandersetzung, an deren Ende die Völkerschlacht stand, verhängte Napoleon 1806 die sogenannte Kontinentalsperre, eine Wirtschaftsblockade gegen Großbritannien und dessen Kolonien. Importierter Rohrzucker wurde unerschwinglich teuer.

Dummerweise hatten sich die Menschen in Europa schon an Zucker gewöhnt. (Macht ja schließlich süchtig, dieses Teufelszeug.) Also gingen findige Forscher daran, ein Substitut zu finden. Die deutschen Lebensmittelchemiker Andreas Sigismund Marggraf, Franz Carl Achard und Carl Scheibler experimentierten mit verschiedenen Rüben und veredelten die Runkel- schließlich zur Zuckerrübe. So profane Themen schleckten wir in der BRD ab, wenn wir eine Postkarte verschicken wollten. Da war nichts mit Patriotismus und nationalem Befreiungskampf.

Also wurden überall, wo es der gute Boden erlaubt, Zuckerrüben angebaut und zu Sirup gepresst. Um daraus den raffinierten weißen Zucker zu generieren, auf dem die verwöhnte Kundschaft besteht, muss man diesen jedoch filtern. Und diese Filterung geschieht mit – Ihr habt es schon geahnt – Knochenkohle. Die Zuckerindustrie benötigte massen- und tonnenweise Knochen, damit der Zucker rein und weiß aussieht.

Dass die Fabrik der Südzucker AG in Zeitz errichtet wurde, nur 40 km vom Ort der Völkerschlacht entfernt, war also kein Zufall. Überhaupt deckt sich die Karte der Zuckerrübenanbaugebiete und der Zuckerfabriken verdächtig mit den Orten großer Schlachten. (Das ganz im Westen ist wohl der Hürtgenwald, daran traf Napoleon ausnahmsweise keine Schuld.)

Wie Horaz schon sagte: „Süß ist es, fürs Vaterland zu sterben.“

Und jetzt wisst Ihr, warum der Puderzucker auf dem Leipziger Stollen immer so schön fein und weiß ist. Darüber, welche Knochen der Kinderschokolade ihren Namen gegeben haben, denkt man besser gar nicht nach.

Tut mir leid, falls ich Euch jetzt den Appetit verdorben habe. Ich selbst bin durch die lange Befassung mit diesem Thema abgehärtet und nehme etwaige Restbestände an Stollen und Schokolade gerne entgegen!

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Vor hundert Jahren fanden die Faschisten, dass Deutsch eine hässliche Sprache ist – April 1923: Italienisierung

Das Projekt dieser kleinen Geschichtsreihe, die sich jedes Mal freut wie ein Schnitzel, wenn aktuelle Ereignisse den Anlass geben, die Geschehnisse von vor genau hundert Jahren zu erörtern, wird tatkräftig unterstützt von der Republik Italien. (Leider nicht von der ebenfalls aus Italien stammenden weltbesten Zigarrenmanufaktur, obwohl diese neben Coca-Cola der passendste Sponsor für diesen gesundheitsbewussten Blog wäre.)

Letzten Oktober beging Italien den hundertsten Jahrestag der Machtübernahme Mussolinis, indem es eine Frau aus der Nachfolgepartei der Faschisten zur Ministerpräsidentin und einen offenen Mussolini-Verehrer zum Senatspräsidenten wählte. Das ist halt einfach ein Land mit Geschichtsbewusstsein!

Jetzt will ein Abgeordneter der Regierungspartei den Gebrauch englischer Begriffe im offiziellen, geschäftlichen und akademischen Bereich verbieten und unter Strafe stellen. Das lässt einerseits aufhorchen, als Touristen aus aller Welt bestätigen können, dass in Italien sowieso niemand Englisch spricht. Und andererseits nutzt es wieder eines jener geschichtsträchtigen Jubiläen. Denn vor genau 100 Jahren, im April 1923, begann der Kampf gegen die deutsche Sprache in Norditalien.

Ganz kurz zur Vorgeschichte, und ich verspreche, es diesmal wirklich kurz zu halten: Das einstmals große, stolze und wunderbare Tirol wurde am Ende des Ersten Weltkriegs (den Tirol verloren hatte) zwischen Österreich und Italien geteilt.

Österreich behielt Nordtirol und Osttirol, Italien bekam Südtirol.

Eigentlich sollte nach dem Ersten Weltkrieg das Selbstbestimmungsrecht der Völker gelten, weswegen überall Volksabstimmungen zur Frage der nationalen Zugehörigkeit (und zu wichtigeren Themen) durchgeführt wurden. Aber dieser einer der wilsonschen 14 Punkte galt nicht für Südtirol, weil man Italien irgendwie dafür belohnen musste, im Ersten Weltkrieg auf der richtigen Seite gestanden und in 12 vollkommen sinnlosen Isonzoschlachten gekämpft zu haben. Und jeder weiß, wie Italiener auszucken, wenn derartige Versprechen nicht eingehalten werden.

Die Grenze zog man einfach durch die Alpen, weil es am Brenner schon eine Tankstelle gab, die man leicht zu einem Grenzposten ausbauen konnte.

Und das war’s auch schon mit der Vorgeschichte, ungewohnt knapp und graubündig. Italien hatte jetzt also eine Region, die zwar landschaftlich wunderschön, aber wirtschaftlich nicht so der Hit war.

Und noch dazu waren 90% der Bevölkerung deutschsprachig. (Ich muss unbedingt erwähnen, dass es in Südtirol noch eine dritte Sprache gab und gibt, nämlich das Ladinische. Der Vereinfachung zuliebe und weil dessen Verbreitung auch innerhalb Südtirols auf einige finstere Täler begrenzt ist, ignoriere ich das heute jedoch vollständig. Purdenanza!) Ist ja auch logisch, schließlich waren sie bis vor kurzem Österreicher gewesen. Und wie die Leute so sind, zu allen Zeiten und überall auf der Welt, sie dachten sich: „Ach geh, Italienisch brauchen wir gar nicht erst zu lernen, wir kommen eh bald wieder zu Österreich.“ Wenn man zu faul ist, eine neue Sprache zu lernen, redet man sich gerne ein, die Weltgeschichte würde nach der eigenen Pfeife tanzen.

Tat sie aber nicht. Stattdessen gab Mussolini den Ton an, beziehungsweise in seinem Auftrag der italienische König, der am 27. April 1923 ein Dekret erließ, mit dem alle Ortschaften, Berge, Flüsse, Waldstücke, Bahnhöfe und Wirtshäuser in Südtirol italienische Namen erhielten.

Die Liste ging zurück auf ein schon vor dem Ersten Weltkrieg erstelltes Werk von Ettore Tolomei, der mit italienischen Bezeichnungen für jeden Stock und Stein südlich der Alpen den italienischen Anspruch auf diesen hübschen Landstrich untermauern wollte.

Teilweise italienisierte er einfach die deutschen Ortsnamen (Meran -> Merano, Brenner -> Brennero), teilweise griff er auf die lateinischen Namen früherer römischer Siedlungen zurück (Sterzing -> Vipiteno), teilweise übersetzte er die deutschen Namen (Mittewald -> Mezzaselva), und wo das nicht ging, zauberte er einfach einen neuen Namen aus dem Hut (Schlutzkrapfen -> Ravioli).

Gut, das sind bloß Namen, könnte man meinen. No big deal, wie man sagt, solange man noch Englisch sprechen darf. Schließlich heißt Karl-Marx-Stadt jetzt auch Chemnitz, und Stalinstadt wurde zu Eisenhüttenstadt. Die Post kommt trotzdem an, solange die Postleitzahl stimmt.

Aber es war natürlich nur der Anfang. Als nächstes wurden deutschsprachige Kindergärten und der deutschsprachige Schulunterricht verboten. Deutschsprachige Zeitungen wurden verboten. Italienisch wurde zur einzigen Behördensprache. Deutschsprachige Beamte wurden entlassen. Auf Grabsteinen waren keine deutschsprachigen Inschriften mehr erlaubt. Neubauten mussten im italienischen Stil erfolgen.

Zudem wurden Zehntausende von Italienern aus dem Süden in den Norden umgesiedelt, auch nicht immer ganz freiwillig. Die Italienischsprachigen bildeten zwar nie die Mehrheit in Südtirol, aber sie besetzten überwiegend alle wichtigen Funktionen, vom Briefträger bis zum Bürgermeister, vom Förster bis zum Finanzinspektor, von der Telefonistin bis zur Tierärztin.

Selbst in aktuellen Produktionen des italienischen Fernsehens ist es noch immer so, dass auch in Südtirol all diese Positionen von italienischen Muttersprachlern besetzt werden. Für die deutschsprachigen Südtiroler bleiben die Rollen der Holzfäller und Wilderer, sie sind ein bisschen tumb und haben keinerlei Gespür für Mode. (Okay, da ist was dran.)

„Aber der Bozen-Krimi!“ denkt Ihr jetzt, bis Euch einfällt, dass das eine deutsche Produktion ist. Die Deutschen behandeln Südtirol genauso von oben herab wie die Italiener und schicken eine Kommissarin aus Frankfurt, die natürlich alles besser weiß. Alle Italiener sind Mafiosi, und alle Südtiroler sind Terroristen. (Okay, da ist auch was dran, aber dazu später.)

Diese Fernsehserien sind schon grausam, aber noch härter traf die Bevölkerung in den 1920er Jahren das Verbot deutschsprachiger Kindergärten und Schulen. Viele Kinder sprachen zuhause nur Deutsch, hatten es also im italienischsprachigen Unterricht schwerer. Die deutschsprachigen Lehrerinnen und Lehrer konnten nicht immer ausreichend Italienisch, um ihre Stellen zu behalten. Sie wurden zu großen Teilen durch italienischsprachiges Lehrpersonal ersetzt.

Und da setzte eine beeindruckende Gegenbewegung ein: Die Südtiroler fingen an, parallel zum staatlichen ein geheimes Bildungssystem aufzubauen. Die Kinder gingen vormittags in die italienische Schule und nachmittags oder am Wochenende in die deutschsprachigen Geheimschulen, die sogenannten Katakombenschulen, weil sie oft im Keller eines Bauernhofs oder eines Pfarrhauses stattfanden. Immer gut versteckt und getarnt.

Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer erfolgte unter dem Vorwand von Nähkursen, von landwirtschaftlicher Fortbildung oder von kirchlichen Zusammentreffen. Deutsche und österreichische Schulbücher wurden über die Grenze geschmuggelt.

All das war natürlich illegal. Immer wieder flogen solche Geheimschulen auf, und die Organisatoren wurden zu Geldstrafen, Haftstrafen oder Verbannung nach Süditalien verurteilt.

Es gibt einen hervorragenden Roman aus der Sicht einer dieser Lehrerinnen, „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano. Wesentlich besser als alles, was Ihr im Fernsehen zu Südtirol findet, und eine uneingeschränkte Empfehlung für die nächste Südtirol-Reise!

Aber zuerst einmal reisen wir noch nicht über den Reschen- oder Brennerpass, sondern weiterhin kreuz und quer durch die Geschichte. Österreich, die natürliche Mutter- und Vaternation der Südtirolerinnen und Südtiroler, hatte in der Zwischenkriegszeit genug mit sich selbst zu tun, als dass es sich – über die Unterstützung der Katakombenschulen hinaus – tatkräftig in Italien eingemischt hätte. Aber 1938 wurde Österreich vom Deutschen Reich geschluckt, und plötzlich grenzte Südtirol an Nazi-Deutschland (weshalb Mussolini sogleich eine massive Grenzbefestigung bauen ließ).

Es gibt in der Geschichte der Menschheit zwei Staaten, mit denen man keine gemeinsame Grenze haben will: Nazi-Deutschland und Russland. Wenn du dich in dieser geografischen Lage befindest, kannst du dich gleich aufhängen.

Aber wir wollen nicht so weit vorgreifen.

Deutschland hatte sich also im März 1938 Österreich einverleibt – trotz heldenhaften Widerstands aller Österreicherinnen und Österreicher, wie wir wissen. Im Oktober 1938 hatte sich Deutschland das tschechische Sudentenland einverleibt. (Weil die Weltgemeinschaft beim Minsker, äh Münchner Abkommen der Meinung war, man müsse dem Aggressor auch ein bisschen entgegenkommen, um einen Zweiten Weltkrieg zu vermeiden.) Im März 1939 besetzte Deutschland den Rest Tschechiens. Im September 1939 griff Deutschland Polen an, und die ganzen leserbriefschreibenden Appeasement-Strategen waren entsetzt, dass ein Diktator das tut, was er jahrelang angekündigt hatte.

Die Deutschgesinnten unter den Südtirolern malten schon Hakenkreuzfahnen, um die „Befreier“ zu begrüßen, denn sicher würde die Wehrmacht auch sie „heim ins Reich“ holen.

Hitler hätte das Deutsche Reich tatsächlich gerne um Südtirol vergrößert, aber für Mussolini gab es kein zurück hinter die Alpengrenze, ja nicht einmal hinter die Zwangsitalienisierung. Das ganze wurde ein bisschen verkompliziert, weil Mussolini und Hitler ziemlich beste Freunde waren. Immerhin hatte Hitler seine politische Laufbahn als Mussolini-Imitator begonnen und den Maestro immer wieder kopiert, vom Marsch auf die Feldherrnhalle (dem voraussichtlich im November 1923 eine Episode dieser Geschichtsreihe gewidmet werden wird) bis zu den Uniformen und der Architektur. Ja, sogar die Idee, Dörfer von ethnischen Minderheiten umzubenennen, übernahmen die Nazis in Deutschland, hier gegen die Sorben gerichtet.

„Wenn ich groß bin, will ich auch Diktator werden!“

Um einen Krieg zwischen Deutschland und Italien zu vermeiden, vereinbarten die beiden im Sommer 1939 einen Deal, den man in Italien bald nicht mehr Deal nennen darf: Südtirol bleibt bei Italien, und Mussolini darf so viel italienisieren, wie er will. Dafür bekommen die deutschsprachigen Südtiroler die Option, bis zu einem bestimmten Stichtag ins Deutsche Reich auszuwandern.

Diese Frist war zuerst auf Dezember 1942, also mit drei Jahren Bedenkzeit, festgelegt worden, wurde dann aber nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hopplahopp auf Dezember 1939 vorgezogen.

Damit begann ein großes Drama in Südtirol, nämlich die Spaltung zwischen „Optanten“ und „Dableibern“. Auch dieses Thema wird in dem Roman von Marco Balzano ganz gut dargestellt, unter anderem an der Familie der Protagonistin, die deutschsprachig und keinesfalls eine Freundin der Italienisierung ist, die aber ihren Hof nicht für eine ungewisse Zukunft in einem Land, in dem sie noch nie war, aufgeben will. Es ist halt doch nicht alles Politik im Leben.

Außerdem fühlten sich viele Südtirolerinnen und Südtiroler verraten, weil mit der Option der Traum vom wiedervereinigten Tirol (sei es unabhängig, autonom, österreichisch oder deutsch) ganz offiziell aufgegeben wurde.

Die Nazis mussten also die Propagandamaschine heftig anwerfen, um eine möglichst hohe Quote an Heim-ins-Reich-Optanten zu gewinnen. Wegen der bereits durchgeführten Italienisierungspolitik Mussolinis war es nicht allzu schwer, den Teufel an die Wand zu malen. So wurde das Gerücht verbreitet, dass die „Dableiber“ nicht in Südtirol verbleiben dürften, sondern nach Süditalien, Sizilien oder gar ins italienisch besetzte Afrika umgesiedelt würden. (Mussolini garantierte, dass dies nicht passieren würde.) Außerdem wurden die „Dableiber“ als Vaterlandsverräter und Verräter am Deutschtum verhetzt, ausgegrenzt und teilweise verprügelt und terrorisiert.

Das Deutsche Reich versuchte, die Südtiroler mit einem weiteren Versprechen zu locken: Sie sollten nämlich als homogene Volksgruppe gemeinsam in einem für sie reservierten Gebiet angesiedelt werden, anstatt irgendwo in Pommern oder im Ruhrgebiet assimiliert zu werden. Als Gebiet dafür war, man glaubt es kaum, die Krim-Halbinsel im Schwarzen Meer ausersehen.

Na gut, ist sicher schön dort.

Aber ob das jetzt das Richtige für Südtiroler Bergbauern ist, ich weiß ja nicht. Und erstmal zur Krim kommen, das ist auch etwas komplizierter, als sich in den Zug nach München zu setzen. Außerdem – mich wundert, dass das niemandem auffiel – lag die Krim in der Sowjetunion, nicht in Deutschland.

Egal, die Nazis versprachen jedem das Blaue vom Himmel, da fielen auch ganz andere Volksgruppen darauf rein (siehe z.B. Kapitel 33 dieses Artikels).

Insgesamt entschieden sich 85% der Südtiroler für die Option zur Umsiedlung ins Deutsche Reich, allerdings geriet die tatsächliche Umsiedlung bald ins Stocken. Die Südtiroler merkten, dass an den vollmundigen Versprechungen eines zusammenhängenden Siedlungsgebiets nichts dran war. Stattdessen wurden sie verteilt und in hässlich-spießige Reihenhäuser gesteckt. Und die Männer wurden zur Wehrmacht eingezogen.

Und dann gab es da noch ein kleines Problem, nachdem ab Juli 1943 alliierte (und brasilianische) Truppen in Italien Urlaub machten und die Italiener in langen, aber freundlichen Gesprächen davon überzeugten, dass Faschismus doof ist. (Außerdem brachten sie vom Afrika-Feldzug die Camel-Zigaretten und aus den USA die vermaledeiten Anglizismen mit.)

Damit hatte nicht nur Italien die Seiten gewechselt. Jetzt standen sich auch Südtiroler aus dem gleichen Dorf, von denen der eine in der italienischen Armee, der andere bei der Wehrmacht diente, als Feinde gegenüber. Und gegenüber ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn sie waren ja oft in der gleichen Kaserne, schließlich waren sie bis September 1943 Verbündete. Bis man eines Morgens in der Zeitung las, dass man jetzt verfeindet sei.

Alles sehr verwirrend, ich weiß.

Aber die Deutschen hatten eine Lösung. Die gleiche, die sie immer haben: Sie erschossen die italienischen Soldaten, ermordeten sie in Konzentrationslagern oder brachten sie durch Zwangsarbeit um.

Das Unerklärlichste am 20. Jahrhundert ist für mich, wie unbekümmert die Deutschen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die Länder zum Urlauben fuhren, die sie vorher in Schutt und Asche gelegt hatten und wo sie reihenweise Massaker an der Zivilbevölkerung begangen hatten. Schade eigentlich, dass die Partisanen ihre Waffen schon an den Nagel gehängt hatten, die hätten durchaus noch ein paar Nazis am Strand erwischen können.

Aber zurück nach Südtirol: Im September 1943, nach dem Bruch des deutsch-italienischen Bündnisses, besetzte die Wehrmacht Nord-, Mittel- und Teile Süditaliens, also auch Südtirol.

Die Frage der Option und der Auswanderung war damit erledigt. Jetzt kam es allerdings durch die Gestapo und den ganzen Nazi-Apparat zu noch stärkeren Repressionen gegen die „Dableiber“.

Zusammenfassend kann man sagen: War echt ne blöde Zeit für die Südtiroler.

Aber am Ende siegt immer das Gute. Italien wird befreit. Der Marschall-Plan zahlt. Italien ist Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Alle werden gute Freunde. Sogar die Optanten und ihre Kinder dürfen wieder nach Südtirol, als sogenannte Rückoptanten.

Und, am wichtigsten, Südtirol bleibt zwar bei Italien, bekommt aber nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehende Autonomie. Deutsch ist neben Italienisch Amtssprache, und jeder Bürger kann mit den örtlichen und regionalen Behörden sowie vor Gericht auf Deutsch kommunizieren. Kindergärten und Schulen gibt es auch auf Deutsch, und an der Freien Universität Bozen kann man auf Italienisch, Deutsch und Englisch studieren. – Obwohl, das mit Englisch soll ja bald abgeschafft werden, wie wir eingangs erfahren haben.

Mittlerweile findet man an vielen Orten in Südtirol Schilder mit dem zweisprachigen Text:

8000 ‚Namen‘ von Dörfern, Bergen, Flüssen u.s.w. wurden im Südtirol im Prozess der Italianisierung des Landes von der faschistischen Diktatur gefälscht, um Südtirol gewaltsam zu italianisieren. Wir Italiener des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr aggressiv, sondern moderat und europäisch. Wir distanzieren uns vom Nationalismus und Imperialismus unserer Vorfahren. Bei den Südtirolern entschuldigen wir uns für das Kulturverbrechen Italiens durch die Fälschung tausender Namen in ihrem Land.

Also alles leiwand und ein wunderbares Beispiel für das friedliche Zusammenleben in der Europäischen Union.

Naja, nicht ganz.

Denn auch die italienische Republik nach dem Zweiten Weltkrieg setzte manche der faschistischen Projekte weiter um. Zum einen die Ansiedlung von Süditalienern, vor allem im Zusammenhang mit Industrieansiedlungen. Zum anderen Großprojekte, die ohne Konsultation der örtlichen Bevölkerung durchgezogen wurden, am bekanntesten die Flutung des Reschensees.

Genau um dieses Dorf Graun (bzw. Curon) geht es in dem Roman von Marco Balzano.

Ich selbst halte grundsätzlich wenig von so lokalen Protesten gegen Infrastrukturprojekte. Man kann eine Gesellschaft halt nicht ohne Eisenbahnstrecken, Kanäle, Stromtrassen und wahrscheinlich auch nicht ohne Stauseen entwickeln. Und da muss bitteschön nicht jedes Dorf so tun, wie wenn es ein Weltkulturerbe wäre, das keinesfalls umgesiedelt werden darf. (Das Dorf Graun gibt es heute auch noch, nur eben hundert Meter weiter.)

Diese Überbetonung von „Heimat“ ist ja doch sehr provinziell. Und eigentlich auch verlogen, denn natürlich nutzen die Betroffenen gerne die Elektrizität, solange sie nur anderswo produziert wird. Oder haben ein Haus voll Plastik- und Elektroschrott, der über Eisenbahnschienen oder über den Rhein-Main-Donau-Kanal zu ihnen ins Haus geliefert wird.

Aber in Südtirol wurden manche Leute richtig fuchtig gegen den Fortschritt, sauer auf Stauseen, böse auf Bahnlinien und erbost auf die Elektrizität. Südtiroler Terroristen sprengten bevorzugt Strommasten, einmal 37 in einer einzigen Nacht. Den Sprengstoff dafür bekamen sie wohl aus Österreich, das sich in diesem Punkt ausnahmsweise nicht – wie sonst immer – auf seine vorgebliche Neutralität berief.

Der „Freiheitskampf“ (keine Ahnung, was Freiheit ohne Strom bringen soll) eskalierte in den 1960er Jahren und zog allerhand Gesindel an. Rechtsextreme aus Österreich und Deutschland glaubten hier, die Schmach der verlorenen Weltkriege wettmachen und für ein pangermanisches Reich kämpfen zu können. Es kam zu Attentaten, Mordanschlägen, Folter in der Haft, gegenseitiger Unterwanderung, fast so schlimm wie in Nordirland.

Und dann kam 1968, die Studentenproteste, auch hier wieder Radikalisierung (diesmal waren die Drogen schuld). Terrorismus wurde von einer regionalen zu einer gesamtitalienischen Angelegenheit, was die Südtiroler sehr wurmte. Sie entschieden: „Wenn die Italiener jetzt auch Terrorismus machen, dann machen wir halt Tourismus.“ Die beiden Konzepte sind gar nicht so grundverschieden, aber das eine hat einen wesentlich besseren Ruf als das andere. Und nur für eines davon gibt es EU-Fördermittel.

So wurde Südtirol tatsächlich zu der wunderbaren Region, die wir heute kennen, mit immer mehr Autonomierechten seit den 1970er Jahren, mit glücklichen Kühen und mit ungespritzten Äpfeln.

Italienisierungsbestrebungen gibt es kaum mehr. Dafür nerven jetzt die Ultraseparatisten, die – ähnlich wie ihre Kollegen in Katalonien – Nationalisten in klein und genauso blind gegenüber ökonomischen, verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Realitäten sind.

Wenn solche Leute sagen „ich will aber kein Italiener sein“, dann kann ich nur antworten: „Glückwunsch, du hast das Prinzip des Staatsbürgerschaftsrechts verstanden.“ Niemand von uns sucht sich aus, wo, wann und mit welcher Staatsbürgerschaft er/sie geboren wird. Erst recht absurd wird es, wenn der gleiche Typ findet, dass man Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen kann, weil sie keine Italiener sind.

Und solange die Welt weitestgehend in Staaten organisiert ist, braucht man halt irgendeine Staatsbürgerschaft. Außerdem ist es doch jetzt wirklich Janker wie Hose, ob man italienischer oder österreichischer EU-Bürger ist. Man darf sich eh niederlassen, wo man will, wie ich schon oft bewiesen habe. Die Grenzen sind offen. Selbst das imposante Grenzhäuschen am Reschenpass steht heute sinnlos herum.

Ihr müsst beim Grenzübertritt in Zukunft nur darauf aufpassen, dass Ihr nicht aus Versehen ein englisches oder ein englisch klingendes Wort verwendet. Also kein hitchhiking oder Trampen mehr, sondern autostop.

Aber das funktioniert in Italien angeblich sowieso nicht so gut.

Ob das auch eine Hinterlassenschaft des Faschismus ist? Wir werden es bald erfahren, wenn die italienische Regierung sich weiter an der Politik von vor hundert Jahren orientiert.

„100 Jahre? Das ist doch kein Alter!“

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Hauptbahnhof Leipzig

Wahrscheinlich der schönste Bahnhof in Deutschland:

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Der Name ist Programm

Das ist mal eine stimmige Corporate Identity:

Fotografiert im sonst sehr schnieken und mondänen Markkleeberg in Sachsen.

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Reise zum Mittelpunkt Europas – Locus Perennis, Tschechien

Read this in English.

Für das Projekt „Reise zum Mittelpunkt Europas“ besuche ich alle Orte, die jemals von sich behauptet haben, der Mittelpunkt Europas oder der Europäischen Union zu sein. Und schreibe darüber.


Ihr erinnert Euch sicher noch an den Auftakt dieser Reihe, die wagemutige Reise in die Ukraine, über wackelige Holzbrücken und Kriegsfronten hinweg, wo ich unter Raketenbeschuss und im Geschützdonner diesen Hinkelstein von 1887 aufsuchte, der angeblich den Mittelpunkt Europas markiert.

Die Inschrift – Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum – war so mysteriös wie die Runenschrift von Arne Saknussemm, die einst Professor Lidenbrock und seinem Neffen Axel den Weg zum Mittelpunkt der Erde wies. Viele lateinunkundige Leserinnen und Leser haben sich daran schon die Zähne ausgebissen.

Heute gibt es – 620 km weiter westlich – endlich die Auflösung.

Und zwar dank des Hinweises einer Leserin, die sich mit leichten Sprachen wie Latein gar nicht erst abgibt, sondern gleich Tschechisch gelernt hat. Dadurch musste ich erfahren, dass meine Mittelpunktliste unvollständig war, und dass sich auf dem Boden der Tschechischen Republik so viele Mittelpunkte Europas befinden wie im Rest Europas zusammen. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass die Tschechen mein Projekt nicht ganz ernst nehmen und es absichtlich mit willkürlich gesetzten Punkten torpedieren.

Ich hingegen nehme immer alles ernst, weshalb ich eines frühen Ostermorgens den Bus von Budweis nach Lišov nehme. Es ist viel zu früh und zu kalt, oder das Dorf ist einfach zu klein, jedenfalls ist hier nichts los. Nur ein paar Frühaufsteher mit Hunden, die mich hundelosen Herumstreicher erkennbar verdächtig finden.

Wenn Ihr in ähnlichen Dörfern lebt, kennt Ihr das sicher aus der Lokalzeitung. Da stehen dann Berichte wie: „Am Sonntagmorgen wurde am Blumenweg in Hunzendorf ein Unbekannter beobachtet, der interessiert die Häuser betrachtete. Die Polizei bittet die Bevölkerung um höchste Vorsicht.“ So bildschirmfixiert sind die Menschen geworden, dass es schon verdächtig ist, wenn man nur mit offenen Augen durchs Land geht und die örtliche Holzschnitzkunst bewundert.

Aber eigentlich suche ich etwas anderes.

Eine Wanderkarte.

Ein Hinweisschild.

Eine Informationstafel.

Aber nichts. Ich irre umher, bis ich an einem Gartenzaun diesen Wegweiser finde.

„Středem louky k lesu“: Quer über die Wiese geht’s in den Wald.

Na, das ist ja mal eine Überraschung! Man zeige mir die mitteleuropäische Wiese, hinter der es keinen Wald gibt. Ein vollkommen überflüssiger Hinweis, so wie Holz in den Wald zu tragen, wie man auf Tschechisch sagt. Was wahrscheinlich sinnvoller ist als unser Eulen-nach-Athen-Spruch, denn wer kennt schon die aktuelle Eulensituation in der griechischen Hauptstadt? Die wird ja auch nicht jeden Tag in der Wettervorhersage bekannt gegeben.

Aber weil ich sonst keinen Hinweis finde, folge ich dem ominösen Wegweiser. Durch Wiesen, die nach dem Dauerregen wie Sümpfe wirken. Über ein geheimes Pipeline-Projekt, dessen Betreten streng verboten ist, das aber wegen der Osterfeiertage gerade nicht bewacht wird. Und endlich im angekündigten Wald vorbei an verdächtig-düsteren Hexenhäuschen, wie bei Hänsel und Gretel.

Immer tiefer verlaufe ich mich im Wald, bis sich plötzlich eine Lichtung auftut. Sie liegt etwas tiefer und ganz flach, wie ein Weiher. Umrahmt ist sie von kleinen Felsen, die so aussehen, wie wenn die Lichtung das Ergebnis einer Sprengung ist. Hohe Bäume schirmen sie auf allen Seiten gegen neugierige Blicke ab.

Und in der Mitte der Lichtung steht prominent ein Hinkelstein, eine Stele, ein Monument, ein Altar.

Drei Rehe äsen auf der Wiese, das saftige Gras sowie die ersten zarten Sonnenstrahlen genießend. Aber sobald sie mich hören, springen sie ins Gebüsch. (Auf dem ersten Foto könnt Ihr rechts von der Stele noch die drei weißen Popos erkennen.) Sie scheinen keine Besucher gewohnt zu sein. Oder nur Besucher, die sie abknallen wollen.

Und, auch wenn er farblich anders gestaltet ist, der Kenner erspäht sofort die Baugleichheit mit dem Modell in der Karpatenukraine. Wie die Entschlüsselung der Jahreszahl MDCCCLXXXIX ergibt, stammt dieses Denkmal ebenfalls aus der Habsburger Zeit, nämlich aus 1889. Es ist also zwei Jahre jünger als die gleiche Stele in Kruhlyj.

Warum sich der geografische Mittelpunkt Europas innerhalb von zwei Jahren um mehr als 600 km verschoben haben soll? Keine Ahnung. 1887 hat Frankreich irgendwas in Indochina getrieben.1888 hat der deutsche Kolonialismus ein bisschen in Sansibar und in Nauru herumgefuhrwerkt. (Ebenfalls 1888 wurde in Brasilien die Sklaverei abgeschafft, was jedoch eher für den geografischen Mittelpunkt Brasiliens relevant war.) 1889 wurde der Kilimandscharo als höchster Berg des Deutschen Reichs zum ersten Mal bestiegen, aber das mit den höchsten Bergen aller europäischen Länder ist eine andere Geschichte.

Zum Glück ist bei der hiesigen Stele die Inschrift weit besser erhalten (oder ausgebessert) als bei dem in den Karpaten gesetzten Stein.

Und so löst sich endlich das Rätsel: Die Inschrift ist identisch, aber auf der Stele in der Ukraine fehlen die letzten beiden Wörter „vocant erectum“. Kein Wunder, dass sich Linguisten, Historiker und Geographen seit Generationen gewundert und gestritten haben!

Der Text

Locus perennis diligentisimae cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura graduum meridionalium et parallelorum quam Europeam vocant erectum.

heißt so etwas wie

Dies ist ein dauerhafter und für die Ewigkeit festgehaltener Ort für die in Österreich-Ungarn durchgeführte Nivellierung während der Messung der europäischen Breiten- und Längengrade.

Da steht überhaupt nichts vom Mittelpunkt Europas. Es ist einfach nur ein Punkt zur Landvermessung.

Schon wieder ist ein Mythos zerstört, und eine lokale Tourismusbehörde schwer enttäuscht. Deswegen bekomme ich, im Gegensatz zu anderen Reisebloggern, niemals Einladungen zu Kreuzfahrten oder auf den neuen Wanderweg durch Bhutan. Und jetzt wisst Ihr auch, warum Ihr anderswo nie etwas Kritisches lest, sondern auf den Reiseseiten in der Zeitung immer alles schön und sonnig und wunderbar ist.

Tja, und ich stehe jetzt doof auf einer Lichtung im Wald und frage mich, was ich mit dem angebrochenen Tag machen soll. Für solche Fragen habe ich eine Standardlösung: Ich gehe zur nächsten Straße, halte den Daumen raus und sehe, wer mich mitnimmt.

Der „Locus perennis“ liegt nicht weit von der E 49, die von Magdeburg über Tschechien nach Wien führt. Die Straße ist hier ziemlich gerade, weshalb man gut beobachten kann, wie die Autos nach links und rechts schweifen, schwanken und kurven. Normalerweise deutet das auf akuten Handykonsum hin, aber die Autos hier kommen alle aus Budweis, also kann es auch am Bier liegen. Handy oder Hopfen, eigentlich ist es gehupft wie gesprungen, beides endet oft tödlich.

Nach nur 10 Minuten hält ein Fahrer, der bei etwa 100 km/h gerade sein Frühstück einnimmt und erst einmal den Beifahrersitz von Brot, Wurst, Käse, einem Gurkenglas, Eiern, einem Salzstreuer, Senf und Besteck freiräumt. Da speist jemand im Auto üppiger als ich zuhause. Der Feinschmecker fragt gar nicht, wohin ich muss, sondern will nur besorgt wissen, wie lange ich schon gewartet habe.

„Maximal 10 Minuten“, sage ich, was echt nicht viel ist. Er aber ist sichtlich enttäuscht.

„Und das an Ostern!“ echauffiert sich der Chauffeur. „Da fahren die Menschen in die Kirche, aber lassen andere am Straßenrand stehen.“

Und dann erklärt der Tscheche, der zum Glück eine Menge Fremdsprachen, darunter Deutsch, spricht, warum auch er ein bisschen Schlangenlinien fährt: „Ich habe nur zwei Stunden geschlafen. Und das schon seit einer Woche. Jede Nacht 2 Stunden, und dann wieder arbeiten.“

Er führt ein eher untypisches Gleitzeitkonto, denn er arbeitet sieben Monate am Stück und hat dann fünf Monate frei. Seine Saison hat gerade begonnen, denn in den Frühlings- und Sommermonaten fährt er durch Tschechien und die Slowakei, durch Deutschland und Österreich, bis nach Ungarn und Italien und sammelt Pollen.

„Ich fahre bis zu 1000 km an einem Tag“, sagt er, und es klingt erschöpft, nicht stolz.

Die Pollen sammelt er für ein Pharmaunternehmen, das daraus Medizin für Allergiker macht. Er beobachtet die Wettervorhersage und vor allem den Pollenkalender und fährt dann der Sonne entgegen und dem Regen davon. Kreuz und quer, ein bisschen wie meine Suche nach dem Mittelpunkt Europas.

Wahrscheinlich hat er schon mehr von diesen Mittelpunkten gesehen oder ist zumindest daran vorbeigefahren als ich. Und mit der Entzifferung der lateinischen Inschriften hätte er auch kein Problem, denn wenn wir an Bäumen vorbeifahren, bezeichnet er diese immer mit den lateinischen Namen: Betula pendula. Fraxinus excelsior. Salix caprea. Er erspäht diese Bäume auf Hunderte von Metern, so wie andere Leute eine Pommesbude.

Also, wenn Ihr ein Antihistaminikum einnehmt, um weiter mit großspurigen Wörtern um mich zu werfen, denkt an diesen armen Mann, der dafür europaweit auf die Bäume klettert.

Ich selbst habe übrigens keine Allergieprobleme mehr, seit mir ein Inka-Medizinmann in Südamerika ein Geheimnis verraten hat: „Gegen den Fluch der Birkenpolle hilft nur der Rauch der Tabakknolle.“

Am liebsten sind dem Pollensammler Wildbäume oder Bäume in öffentlichen Parks. Aber wenn er auf einem Privatgrundstück ein Prachtexemplar sieht, dann klingelt er und bittet um die Erlaubnis zur Pollenernte. Wenn die Leute zögern, bietet er Schokolade an. Wenn sie noch immer zögern, bietet er tschechisches Bier an. Und bei ganz harten Fällen und äußerst trächtigen Bäumen bietet er notfalls Geld an.

Was mich am meisten verdutzt: Selbst dann lehnen manche Leute noch ab.

Die nächste Stadt ist Třeboň, hier stehen die Birken zwischen den Plattenbauten am Ortseingang. Also quasi öffentlich, das ist perfekt. Er fragt, ob er mich noch zu irgendeinem Schloss oder so fahren soll. Wirklich nett. Aber ich denke an die Pollen und an die zwei Stunden Schlaf und bedanke mich sehr herzlich.

Ein paar Minuten später sitze ich schon im Park und merke, dass mich die blauen Blümchen mehr faszinieren als der feine Staub hoch oben im Geäst. Ich bin halt einfach ein Romantiker.

Weil ich nicht wusste, dass ich an dem Tag in Třeboň landen würde, laufe ich ein wenig ziellos umher.

Dabei übersehe ich wahrscheinlich vieles, finde aber immerhin die Bestätigung dafür, dass die Tschechische Republik – neben Italien und Portugal – zu den Ländern gehört, wo man eigentlich in jede beliebige Kleinstadt fahren kann. Egal, wo man hinkommt, es ist überall pittoresk.

Ehrlich, ich weiß nicht, warum alle Touristen in Tschechien nur nach Prag und nach Krumau (Český Krumlov) strömen. Letzteres ist schon hübsch, ich bin auf dieser Reise auch vorbei gekommen.

Aber die Leute, die nach Prag fliegen und dann 200 km nach Krumau fahren und all die anderen Städte links und rechts liegen lassen, die verstehe ich nicht. Das ist so wie die Touristen, die in Frankfurt landen und schnurstracks nach Neuschwanstein fahren, vorbei an mindestens 250 anderen Schlössern, die sie keines Blickes würdigen. Außerdem benötigen solche Orte die zusätzlichen Touristen so wenig wie Athen einen weiteren Eulenschwarm.

Für die Rückfahrt von Třeboň nach Budweis nehme ich die Eisenbahn. Die einfache Strecke wären circa 25 km nach Westen, aber der Zug fährt zuerst nach České Velenice (Böhmisch Gmünd) im Südosten, wo ich in einen anderen Zug zurück nach Westen umsteigen muss. Der Umweg von etwa 80 km ist notwendig, weil auch 100 Jahre nach dem Ende des Habsburger-Reiches alle Bahnlinien sternförmig von Wien ausgehen. – Womit die Frage, wo der Mittelpunkt Europas liegt, eigentlich geklärt wäre.


Trotz dieses unschlagbaren Arguments für Wien werde ich die Suche nach dem Mittelpunkt Europas fortsetzen. Bis Ende Mai bin ich noch örtlich gebunden, weil ich in Markkleeberg auf zwei Katzen aufpasse, aber danach kommen der Sommer und das 49-Euro-Ticket, so dass dem Erkunden all dieser abstrusen Punkte nichts mehr im Wege steht.

Werft doch mal einen Blick auf die Karte und die Liste der behaupteten Mittelpunkte. Wenn Ihr in der Nähe eines dieser Punkte lebt, würde ich mich nämlich freuen, Euch kennenzulernen!

Und die hochgeschätzten Unterstützerinnen und Unterstützer dieses Blogs bekommen von unterwegs eine Postkarte.

Möchtest du eine Postkarte?

Ihr wärt überrascht, herauszufinden, wie schwer es vielerorts geworden ist, noch Postkarten zu finden. Aber für Euch, geschätzte Leserinnen und Leser, mache ich mich auf die Suche nach diesen Relikten vergangener Zeiten.

€10.00

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Grüße vom Baikalsee

Birken und Wasser.

Wenn man nicht genau hinsieht, merkt man kaum den Unterschied zwischen Baikal- und Cospudener See.

Aber weil ich ungern wegen eines missverstandenen Scherzes für 10 Jahre in ein Straflager gehe oder tödlich vom Balkon stürze, verbringe ich die nächsten Wochen lieber im schönen Markkleeberg. Im Erdgeschoss. Mit zwei Katzen.

Sogar die Sonnenuntergänge sind wie in Sibirien.

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