Vor hundert Jahren wollten die Ökos, dass wir alle aufs Fahrrad umsteigen – Juni 1923: Bundesradfahrerdenkmal

Letztens war ich mit einem amerikanischen Freund in Bad Homburg, um ihn von dem Irrglauben abzubringen, dass das Wort „Bad“ vor deutschsprachigen Städtenamen dem englischen „bad“ entspräche und Besucher vor dem Besuch der jeweiligen Stadt warnen solle. Irgendein Doldi hatte dieses Gerücht in die Welt gesetzt und damit dem Tourismus in Deutschland fast irreparablen Schaden zugefügt. (Der Verfassungsschutz ermittelt.)

Mein Bekannter, für den Deutschland bis dahin aus Frankfurt und Berlin bestand, war ganz entzückt. Und dann regelrecht erschlagen, als ich ihm sagte, dass es allein in Deutschland etwa 350 solcher Kurorte gibt, und dass er bedenkenlos in jede Stadt fahren könne, die mit „Bad“ beginnt. Mein persönlicher Geheimtipp für Geschichtsbegeisterte ist Bad Arolsen.

Dabei liegen die schönsten Kurstädte Europas in anderen Ländern, von Marienbad in Tschechien bis Meran in Südtirol, von Sochumi in Abchasien bis Vichy in Frankreich. Da muss ich sowieso bald hin, weil zwei der europäischen Mittelpunktprätendenten ganz in der Nähe dieser historisch belasteten, dafür aber umso interessanteren Stadt liegen.

Wir haben sogar so viele Bäder in Europa, das manche einfach brach liegen und verfallen, wie Baile Herculane in Rumänien oder Kyselka in Tschechien.

Meine heutige Reise geht nach Bad Schmiedeberg, und aufgrund der langen Vorrede erwarte ich nur das Allerfeinste. Der Kurort liegt eigentlich am Eisenbahnnetz, aber es fahren keine Züge mehr. Ihr wisst, ich bin ein Verfechter der Eisenbahn, und ich könnte schon wieder fuchtig werden, aber die Ausdünnung des Schienenverkehrs hatten wir ja erst im März ausführlich behandelt.

Also steige ich am Bahnhof in Pratau aus. Der ist so armselig und trostlos, dass ich jegliche frühere Kritik an anderen Bahnhöfen zurücknehme.

Neben mir steigt nur eine weitere Frau aus. Sie ist eher klein, aber schleppt einen riesigen Seesack auf dem Rücken und zwei schwere Taschen in den Händen. Sie ächzt sichtbar unter der Last, und ich biete an, die beiden Taschen zu übernehmen.

Zufällig sucht sie auch den Überlandbus nach Bad Schmiedeberg, den wir nur mit Hilfe eines Einheimischen finden. In den folgenden 45 Minuten, die wir über die Felder Sachsen-Anhalts fahren, erfahre ich ungefragt die Lebensgeschichte inklusive Details zu Kindern, Hunden und Gebäudebrandversicherung der erzählfreudigen Frau aus Schwaben. Sie ist ganz baff, wie schnell es mit der Reha geklappt hat: Vor vier Monaten beantragt, vor zwei Monaten bewilligt, und vor drei Wochen den Termin bekommen. Die nächsten vier Wochen wird sie in Bad Schmiedeberg weilen und heilen. Sie will wieder Treppen steigen und Fahrrad fahren können. Gerade mit letzterem Wunsch ist sie hier goldrichtig, sage ich ihr vielsagend.

Ich frage, ob sie sich den Kurort aussuchen konnte.

„Nein,“ erklärt sie, „da kommt man einfach irgendwohin. Ich hatte vorher noch nie von Bad Schmiedeberg gehört.“

Ich finde das eigentlich ganz schön, wenn in ein ansonsten durchstrukturiertes Leben von Zeit zu Zeit der Zufall reinregiert. So erleben die Älteren und Kranken dank der Kur noch einmal den gleichen Kick wie einst, wenn der Brief von der Bundeswehr oder von der ZVS kam. Außerdem ist es besser für die Genesung, wenn man weit weg von Familie, Freunden und vor allem von der Arbeit ist. Hoffentlich nehmen sie den Insassen das Handy weg, sonst werden sich diese weiterhin mit den ganzen Banalitäten von zuhause quälen.

Ich bin nicht zur Kur, sondern darf ganz frei und ungezwungen durch das Städtchen laufen. Es ist ein über die Jahrhunderte zusammengewürfelter eklektischer Mix aus Mittelalter, Gotik, Barock, Romanik, Neoklassizismus, Renaissance und Jugendstil. Aber es passt. Wie in den Wohnungen von Menschen, die sich die Einrichtung auf dem Flohmarkt zusammenkaufen, aber dennoch stilvoller leben als die Massen in ihrem IKEA-Einheitsbrei.

Viele Touristen scheint es nicht nach Bad Schmiedeberg zu ziehen. Als ich im Park neben der Schule mein Frühstück einnehme, treibt die Lehrerin ihre Schüler nach draußen, um dem seltenen Gast ein Lied vorzuträllern. Ein Renter überquert die Straße, um mich mit dem Pioniergruß willkommen zu heißen. Und als ich das folgende Foto mache, kommt die Bürgermeisterin aus dem nebenan liegenden Rathaus und erklärt fröhlich und freundlich: „Wir haben noch viel schönere Häuser hier!“

Sie ist nicht zu beneiden um den Job. Die Entwicklung der Stadt hängt weitgehend davon ab, wie großzügig die Krankenkassen und Rentenversicherungsträger mit Kuren und Reha-Maßnahmen sind. Und ob die Eisenbahn die Strecke reaktiviert.

Das ist das Deprimierende an der Kommunalpolitik: Man kann sich abrackern bis zum Umfallen. Aber dann fördern der Bund oder das Land so Firmen wie Amazon mit Millionensubventionen für ihre Logistikzentren, und der Einzelhandel geht kaputt. Oder der Verkehrsminister, der alte Autofetischist, spart die Bahn kaputt, und die Jungen und Intellektuellen ziehen von der Klein- in die Großstadt, weil sie sonst nicht mehr zur Universität, ins Kino oder zu Ausstellungen kommen.

Beispiel Bad Schmiedeberg: Der letzte Bus fährt jetzt um 18:11 Uhr. Danach ist die Stadt abgeschnitten vom Rest der Welt. Ich habe keinen historischen Fahrplan gefunden, aber wahrscheinlich war die Stadt im 19. Jahrhundert unter der Preußischen Staatsbahn besser angebunden als heute.

Apropos Verkehrspolitik und Geschichte, da können wir endlich – wie es die Reihe „Vor hundert Jahren …“ verlangt – den Bogen in das Jahr 1923 schlagen. Damals nämlich stand Bad Schmiedeberg für einige Tage im Zentrum des Weltgeschehens. Aus ganz Deutschland eilten Radfahrer in damals noch nicht ganz so hässlichen Hosen wie heute herbei, um am 17. Juni 1923 im Kurpark das „Bundesdenkmal des Bundes Deutscher Radfahrer“ einzuweihen. Denn ohne Bundesverband und Bundesverbandsdenkmal einfach so Fahrrad zu fahren, das geht in Deutschland nicht. Das wäre Anarchie.

Wir wollen sehen, ob dieses Denkmal die inzwischen vergangenen 100 Jahre politischer Wirren überstanden hat, und wagen uns in den Kurpark. Die weitläufigen Grünflächen sind – neben der Abwesenheit von Arbeit und Familie – meiner Meinung nach der wahre Grund, warum die Kurgäste hier gesund werden. Diese ganzen Wässerchen und Moorbäder sind doch nur Schabernack.

Der Kurfürstenbrunnen in Bad Schmiedeberg preist zum Beispiel „fluoridhaltiges Natrium-Hydrogencarbonat-Sulfat-Wasser zur Behandlung von Osteoporose, funktionellen Magenstörungen, Harnverdünnung bei Nierensteinleiden und zur Kariesprophylaxe“ an. Ein Wundermittel, wie es sonst nur Homöopathen oder Coca-Cola zustande bringen.

Ich selbst habe mein eigenes Wundermittel, mit dem sich, wenn ich die sehnsuchtsvollen Blicke der Kurgäste richtig interpretiere, Millionen verdienen ließen.

Ich müsste mich nur mit einem der rüstigen Rentner zusammentun. Dieser gibt mich dann als seinen Neffen aus, der in einer Zigarrenfabrik auf Kuba als Prokurist arbeitet und die original Havannas durch Schmuggel nach Bad Schmiedeberg vor dem Ausverkauf an die karibisch-kapitalistische Treuhand rettet. Schon würden sich die Herzen und Geldbeutel der Ostrentner öffnen. „Noch eine Schachtel für die Revolution, Genosse!“

Und weil so viele Ladengeschäfte leer stehen, könnte ich zudem wieder eine Anwaltskanzlei eröffnen und mich auf Seniorenrecht spezialisieren. Aber die Anspielung versteht jetzt niemand, der nicht „Better call Saul“ gesehen hat.

Und wenn Ihr schon diese amerikanische Anwaltsserie nicht kennt, brauche ich mit „El Agente Topo“, dem allerschönsten und herzerwärmendsten Film über Seniorenheime, gar nicht erst zu kommen. Der lief nämlich nur in Chile in Kino.

Ein Kino gibt es in Bad Schmiedeberg nicht, aber die Gäste müssen sich nicht langweilen: Direkt an der Kurpromenade liegt die Stadtbibliothek. Für Notfälle außerhalb der Öffnungszeiten gibt es einen Bücherschrank, in dem der „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ausliegt, wirklich das perfekte Buch für einen Ort, an dem gebrechliche Menschen genug Zeit haben, um waghalsige Pläne für die kurze verbleibende Zukunft auszuhecken.

Überhaupt würde mich das interessieren, falls schon mal jemand von Euch für ein paar Wochen so eine Auszeit genommen hat: Nutzt man die Zeit, um über die grundlegenden Parameter seines Lebens nachzudenken? Lässt man sich danach scheiden oder kündigt die Arbeit? Verkauft man das Haus, um dafür nach Sardinien zu ziehen? Oder geht man einfach wieder zurück ins Büro oder in die Backstube und opfert den gerade erst rehabilitierten Körper erneut der kapitalistischen Ausbeutung? – Vielleicht sollte ich es selbst mal ausprobieren. Es soll ja auch Kuren zur Rauchentwöhnung geben.

Im Kurpark gibt es noch etwas, was leider mittlerweile aus vielen anderen Parks und öffentlichen Räumen verschwunden ist: Ein gut bestückter Zeitschriftenkiosk, der vom „Neuen Deutschland“ bis zu seichten Serienromanen alles bietet.

Schön, zu sehen, dass es noch Städte gibt, die auch an diejenigen von uns denken, die nicht ständig ein WLAN mit sich herumschleppen. Und die frisch erworbenen Druckerzeugnisse genießen die Gäste unter Palmen und an einem Teich, so dass sie sich in Sachsen-Anhalt ganz wie in Saint-Tropez fühlen können.

Ansonsten besteht das Kulturprogramm aus Yoga-Kursen, Konzerten, einem Wilhelm-Busch-Abend, Schachkursen und einer Euthanasie-Wanderung für die hoffnungslosen Fälle.

Da kann niemand sagen, er/sie wäre nicht gewarnt gewesen.

Der Kurpark ist übrigens der umgestaltete Garnisons-, Exerzier- und Reitplatz des Königlichen Magdeburgischen Dragonerregiments Nr. 6. Die Garnison zog 1878 aus Schmiedeberg (damals noch ohne Bad) ab, weil sie nach Stendal verlegt wurde. Das liegt auch in Sachsen-Anhalt, ist aber Hansestadt. Wusstet Ihr, dass es so weit von der Küste überhaupt Hansestädte gibt? Schon wieder etwas gelernt.

Der damalige Bürgermeister (von Schmiedeberg, nicht von Stendal) dachte sich: „Dann machen wir halt in Tourismus“, und noch im gleichen Jahr wurde das Eisenmoorbad eröffnet. Wirklich bemerkenswert, dass die Heilquellen immer genau dann und dort auftauchen, wenn eine ansonsten dem Untergang geweihte Stadt ein Marketingkonzept benötigt. – Vielleicht ist das mit den Hansestädten genauso an den Haaren herbeigezogen?

Und da steht es tatsächlich, frisch geputzt und mit einem Kranz zum 100-jährigen Jubiläumsfest: Das Bundesradfahrerdenkmal. Sehr velodramatisch, mit Stahlhelm, Eisernem Kreuz, Dornenzweigen und flammenden Fackeln.

Mir kommt der leise Verdacht, dass es hier gar nicht ums Radfahren geht. Und tatsächlich lautet die Inschrift: „Bund Deutscher Radfahrer e.V. in unwandelbarer Treue seinen im Weltkriege gefallenen Bundeskameraden“

Jetzt verstehe ich den Witz aus Erich Maria Remarques Inflationsroman „Der schwarze Obelisk“:

„Da sehen Sie es“, sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld. „Dadurch haben wir den Krieg verloren. Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.“

„Und die Radfahrer“, ergänzt Riesenfeld.

„Wieso die Radfahrer?“ fragt Heinrich erstaunt.

„Wieso die Juden?“ fragt Riesenfeld zurück.

Aber eigentlich ist es ja logisch, dass die deutschen Radfahrer glühende Weltkriegskämpfer waren. Bei ihnen kam zum (damals) weit verbreiteten Hass auf Frankreich der Hass auf die Tour de France dazu, die – obwohl das Fahrrad natürlich im Ingenieursländle Baden erfunden worden war – der Deutschlandrundfahrt an Bekanntheit und Renommee, an Fernsehgeldern und Dopingverstößen den Rang ablief.

Hannoversche Radfahr-Kompanie im Ersten Weltkrieg

Überhaupt sind Fahrräder so eng mit der Kriegsführung verwoben, dass man leider konstatieren muss: Wer radelt, unterstützt die Rüstungsindustrie.

Sogar die zunehmend populären Klappräder und E-Bikes sind ursprünglich für die Armee erfunden worden.

Die deutschen Radfahrer wollten endlich zur Tour de France und zum Giro d’Italia aufschließen. Aus diesem Grund musste zuerst Österreich erobert werden, so dass in dem dadurch flächenmäßig größer gewordenen Reich die Deutschlandrundfahrt zur Großdeutschlandfahrt werden konnte. Im Juni 1939 radelten die Männer über 5000 km durchs eigene Land, ab September dann auch im Ausland.

Wehrmacht in Lettland, Sommer 1941

Dafür – und für die Beteiligung an den Krankenmorden und an medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern – wurde der „Reichsradsportführer“ Viktor Brack 1948 gehängt. Die unmittelbare Nachkriegszeit, das waren die wenigen guten Jahre im 20. Jahrhundert, in denen die Justiz nicht auf dem rechten Auge kurz- und nachsichtig war.

Aus Protest dagegen stiegen die Deutschen aufs Auto um, machten die Stadtplanung autofreundlich und menschenunfreundlich, führen einen Kulturkampf um Radwege und fahren sich gegenseitig tot. 2.776 Verkehrstote im deutschen Straßenverkehr im letzten Jahr. Das sind sieben Tote pro Tag. Dazu 358.665 Verletzte bei Verkehrsunfällen. Pandemische Ausmaße.

Aber das hier ist ein Geschichtsblog, kein Blog zur Verkehrserziehung. Zu diesem Zweck gibt es bessere Medien.

Ich selbst bin eigentlich gar kein Radfahrer. Für kurze Strecken ist es mir zu umständlich, für lange Strecken zu anstrengend. Und dann muss man es immer absperren und sich merken, wo man geparkt hat. Außerdem bin ich grundsätzlich skeptisch gegenüber Privateigentum an Verkehrsmitteln. Ich finde es einfach wahnsinnig ineffizient, 24 Stunden am Tag Eigentum an etwas zu haben, was man vielleicht eine oder zwei Stunden nutzt. Da steht so viel totes Kapital herum, rostet vor sich hin, versperrt die Fluchtwege und geht kaputt. – Aus den gleichen Gründen sind Autos natürlich noch viel dämlicher.

Ich bin eher der Fußgänger. Da habe ich volle Flexibilität, kann mich quer durch den Wald schlagen, Flüsse durchqueren oder durch Tunnel kriechen. Ich muss mir nicht merken, wo ich losgegangen bin, und kann unterwegs einfach in den Bus steigen oder trampen. Außerdem kann ich beim Gehen nebenbei fotografieren und schreiben, was beim Auto- oder Radfahren schon schwierig ist.

Also gehe ich auch von Bad Schmiedeberg zu Fuß in den Wald. Ich bin auf der Suche nach dem Kaiser-Wilhelm-Turm, von dessen Spitze man angeblich sogar das Völkerschlachtdenkmal im 50 km entfernten Leipzig sehen kann. Außerdem gibt es dort einen Imbiss.

Man könnte meinen, dass man so einen Turm von weitem sieht. Aber – ich gebe das nur ungern zu – ich verlaufe mich. Immer tiefer gerate ich ins Gestrüpp. Schon wieder so eine Sache, die mit dem Auto oder Fahrrad nicht möglich wäre! Obwohl, es gibt sogar Leute, die damit durch den eigentlich undurchdringlichen Urwald zwischen Kolumbien und Panama fahren.

Die Dübener Heide verbirgt genauso viele Spuren längst vergangener Zeiten wie der Dschungel von Darién. Hoffentlich sind die Häuser so verlassen, wie sie aussehen.

Plötzlich höre ich Rufe aus dem Wald: „Oh, mein Gott!“ „Ach, du fettes Ei!“ „Das gibt’s doch nicht!“

Dann fallen Schüsse.

Niemand schreit. Also sehr gut getroffen. Oder nicht getroffen.

Ihr kennt mich, so eine Unsicherheit kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Ich krieche durch das Unterholz, ganz vorsichtig, auf jeden Ast am Boden achtend, die Ohren weit aufgesperrt.

Und dann erspähe ich es: Eine riesige militärische Anlage, mit so einem Abhörballon wie in Bad Aibling. (Nur ein Zufall, dass dieser NSA-Stützpunkt auch in einem Kurort versteckt war? Ich glaube kaum.)

Wenn das hier von Profis betrieben wird, dann haben sie mich eh schon entdeckt. Also würde ich mich jetzt verdächtiger machen, wenn ich wieder umkehre, denke ich in meiner Geheimagentenlogik. Wenn ich hingegen weiter herumschnüffle, kann ich mich noch immer als neugierig-naiver Tourist herausreden. (Das hat bisher schon einige Male geklappt. Beispiel 1. Beispiel 2.)

Außerdem sieht die Anlage verlassen aus.

Die Stimmen, die ich jetzt aus dem Komplex höre, sind also entweder die von bewaffneten Wächtern mit Kampfhunden oder von ebenso Neugierigen wie mir. Ersteres wäre blöd. In letzterem Fall werden die Jungs genauso viel Angst vor mir wie ich vor ihnen haben. Außerdem, so denke ich weiter in meiner Geheimagentenlogik, wäre ein Wächter sicher nur von einem Subunternehmer beauftragt, so dass ich ihm gegenüber einfach behaupten könnte, ich wäre der Eigentümer. Oder der Rechtsanwalt des Eigentümers. Oder vom Bauamt, Dezernat 17 B. Man muss nur selbstbewusst auftreten, und ich sehe sowieso immer so offiziell aus, selbst wenn ich landstreiche. (In dem Link geht es auch um eine NSA-Abhöranlage, aber ich schwöre, das ist Zufall, dass die mir immer beim Wandern im Weg stehen.)

Also trete ich mutig näher, und mir entfahren die gleichen Flüche, wie ich sie vorher von den Fremden gehört habe: „Das gibt’s doch nicht!“ rufe ich immer wieder, während ich durch zersplitterte Scheiben klettere, den Turm zur Wasserrutsche emporsteige, und versuche, möglichst wenig anzufassen und einzufangen.

Das hier war das „Basso“. Das erste Spaßbad in den neuen Bundesländern, eröffnet 1993. Als zertifizierter Misanthrop und Miesepeter hätte ich gleich sagen können, dass Spaßbäder noch schlimmer sind als normale Schwimmbäder. Aber die neuen Bundesländer waren jung und mussten ihre eigenen Fehler machen. (Vorsicht: Bald kommen die ersten von ihnen in die Faschismus-Trotzphase.)

Der größte Fehler war die Umstellung von der Plan- auf die Marktwirtschaft. Denn plötzlich wollte jede Gemeinde ihr eigenes Disney-World, während in einem zivilisierten Land einfach der beim Wirtschaftsministerium angesiedelte Planungsausschuss für wassermäßige Versorgung und Bespaßung der Bevölkerung ganz objektiv und wissenschaftlich ausrechnen würde, wie viele von diesen Bädern man braucht. Das Basso war wie gesagt das erste dieser Luftschlösser, aber bald darauf wurde in Bad Düben, nur 15 Kilometer entfernt, das Heide-Spa eröffnet. Und so machte es jede Stadt, von der Ostsee bis zum Erzgebirge. 90% der Baukosten wurden staatlich bezuschusst.

Das Basso wurde 2009 geschlossen. Die Stadt Bad Schmiedeberg saß auf einem Haufen Schulden (auch so eine dämliche marktwirtschaftliche Erfindung) und zahlte noch bis 2018 jährlich 600.000 Euro ab. Für ein Städtchen mit 9.000 Einwohnern ist das ziemlich viel.

Falls Ihr jetzt an das „Tropical Islands“ in Brandenburg denkt, dort war die Situation ein bisschen anders. In Briesen wurde eine Riesenhalle gebaut, in der Luftschiffe – wahrscheinlich wieder für den Krieg – zusammengeschraubt werden sollten. Die Cargolifter AG ging trotz Subventionen in Millionenhöhe insolvent. Das komische Karibikbad ist also nur die Nachnutzung, natürlich wieder heftig aus Steuermitteln finanziert.

Im Basso klärt sich jetzt auf, woher die „Schüsse“ kamen. Der Wind schlägt so heftig gegen die Plastikplane, dass es knallt. Und noch dazu haben die beiden Jungs einen Basketball mitgebracht. Es sind Lukas und ein Kollege Kameramann.

„Ich habe einen YouTube-Kanal, mit Unterhaltung speziell für junge Leute“, sagt er auf meine Frage. Ich finde, damit drückt er sehr diplomatisch seine Verwunderung darüber aus, warum ein alter Mann an einem Mittwochnachmittag in einer Investitionsruine herumkrabbelt.

Die jungen Leute sind anscheinend auch ein dankbareres Publikum, denn Lukas hat allein mit seinem Wasserrutschen-Kanal 1,7 Millionen Abonnenten, während ich etwa 12 habe. Wie Jesus, nur ohne Verräter und Kreuzigung. Hoffentlich.

Ach ja: In dem Kurpark, in dem das Radfahrerdenkmal steht, sind Fahrräder verboten.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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19 Antworten zu Vor hundert Jahren wollten die Ökos, dass wir alle aufs Fahrrad umsteigen – Juni 1923: Bundesradfahrerdenkmal

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  3. festus schreibt:

    Ist Pratau überhaupt ein Bahnhof oder nur ein Haltepunkt?

    • Andreas Moser schreibt:

      Eher ein Haltepunkt.

      Übrigens, falls jetzt jemand mit den Öffis nach Bad Schmiedeberg möchte: Es ist sinnvoller, mit dem Zug nach Lutherstadt Wittenberg zu fahren, denn dort fährt direkt vom Hauptbahnhof die Buslinie 306 nach Bad Schmiedeberg.

      „Lutherstadt“ ist eigentlich auch so ein doofes Präfix für Städte mit Minderwertigkeitskomplex, fällt mir gerade auf.

    • Andreas Moser schreibt:

      Obwohl, die Deutsche Bahn AG preist Pratau stolz als Bahnhof an:
      https://www.bahnhof.de/pratau

      Aber ich weiß auch nicht, was das für einen Unterschied machen soll, wenn kein Bahnhofshäuschen mit Kneipe und Zeitschriftenladen da ist.

  4. festus schreibt:

    Erwähnte ich im Kontext deines Blogs eigentlich schon mal, daß das von Dir lobend erwähnte Arolsen dank seines regierenden Adeligen https://de.wikipedia.org/wiki/Josias_zu_Waldeck_und_Pyrmont
    eine Hochburg der SS war https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/2836?
    Mir fiel das Kaff zum ersten Mal auf, als ich in der Wewelsburg las, daß die und das dazugehörige KZ Verstärkungen normalerweise aus Arolsen bekam, wenn es irgendwelche Probleme gab. Ich mag die stramm katholischen Bauern im Hochstift und ihr Schützenwesen ja auch nicht, aber zumindest hatten die eine enorme Abneigung gegen uniformierte Nationalsozialisten

    • Andreas Moser schreibt:

      Das wusste ich noch nicht!
      Ich war selbst noch gar nicht in Bad Arolsen, muss ich gestehen, mir fiel es nur ein wegen des Internationalen Suchdienstes, jetzt der Arolsen Archives.

      Ich hatte bis jetzt auch noch nie von der Wewelsburg gehört oder gelesen.
      Es gibt noch so viel zu besuchen! Ein Glück, dass man da überall mit dem Deutschlandticket hinkommt.

      Wenn es um Abneigung gegen den Nationalsozialismus geht, dann sind mir echt fast alle Motive recht. Auch religiöse, obwohl ich ja sonst durchaus so religionskritisch bin, dass es schon fast in Religionsfeindschaft um- oder ausschlägt.
      Vielleicht sollte ich das öfter im Hinterkopf behalten, wenn ich mal wieder gegen Religionen hetze. Zufällig kam mir der gleiche Gedanke erst vor ein paar Tagen, als ich in Chemnitz den Stolperstein eines NS-Opfers las, der als Zeuge Jehovas verhaftet und ermordet wurde.

    • festus schreibt:

      Sorry, gerade erst Deine Antwort gelesen. Wie der Zufall so will, wirken die Zeugen Jehovas in der Wewelsburg bzw. dem zugehörigen KZ eine Zeitlang mit https://www.memorialmuseums.org/staettens/druck/222

  5. Jens Philip Höhmann schreibt:

    Die Bilder aus dem Bad erinnern mich sehr an die Bergische Sonne in Wuppertal rund 6 Jahre nach der Schließung. Immer wieder ein melancholischer Anblick, so etwas, vor allem, wenn man selbst mal Badegast war.
    Der Vandalismus macht daraus einen wahrhaft deprimierenden Anblick, der natürliche Verfall allein hätte mehr Würde.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ja, ich fände es auch schöner, wenn man das Bad – und ähnliche Ruinen – einfach altern und von der Natur übermannen ließe, ohne eingeschlagene Scheiben und all das Graffiti.

      Dann könnte man es auch noch besser als Filmkulisse für Endzeit- und Tschernobyl-Filme nutzen.

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  9. Rainer Kirmse , Altenburg schreibt:

    Man sollte das Auto nicht verdammen;
    aber Klima und Umwelt zuliebe,🌳😉
    lasset öfters mal ruh’n das Getriebe.

    AUTOWAHN

    Das Auto, der Deutschen liebstes Kind,
    immer freie Fahrt und das geschwind.
    Ein Tempolimit ist kaum Option
    in der autoverrückten Nation.

    Ich fahre Auto, also bin ich!
    Klima und Umwelt, was kümmert’s mich.
    Und steigt man noch aufs E-Gefährt um,
    steht’s auch im Stau oder nutzlos rum.

    Im Trend SUV und Zweitwagen,
    die Straßen und Wege zuparken.
    Es ist an der Zeit, neu zu denken,
    den Blechkisten Platz zu beschränken.

    Städte brauchen Bäume und viel Grün,
    nicht den Duft von Gummi und Benzin.
    Keiner braucht ein Auto alleine,
    drum teilt oder fahrt im Vereine.

    Benutzen wir Fahrrad, Bus und Bahn,
    beenden endlich den Autowahn.
    Ein sauberes Zeitalter beginnt,
    Das Heilige Blech hat ausgedient.

    Weniger ist mehr,
    nicht nur im Verkehr
    und beim Verzehr.😉

    WACHSTUMSWAHN

    Tornados, Hitze, Wassernot;
    Feuer wüten in Wald und Flur.
    Das Wetter gerät aus dem Lot,
    Klimawandel zieht seine Spur.
    Wir sollten uns Sorgen machen,
    und nicht über Greta lachen.

    Man produziert und produziert,
    plündert Ressourcen ungeniert.
    Gewinnmaximierung ist Pflicht,
    die intakte Natur zählt nicht.
    Börsenkurse steh’n im Fokus,
    Umweltschutz in den Lokus.

    Plastikflut und Wegwerftrend,
    man konsumiert permanent.
    Nur unser ständiges Kaufen
    hält das System am Laufen.
    Unser westlicher Lebensstil
    taugt nicht als Menschheitsziel.

    Die Jagd nach ewigem Wachstum
    bringt letztlich den Planeten um.
    Das oberste Gebot der Zeit
    muss heißen Nachhaltigkeit.
    Statt nur nach Profit zu streben,
    im Einklang mit der Natur leben.

    Zu viele Buchen und Eichen
    mussten schon der Kohle weichen.
    Retten wir den herrlichen Wald,
    bewahren die Artenvielfalt.
    Kämpfen wir für Mutter Erde,
    das sie nicht zur Wüste werde.

    Wir alle stehen in der Pflicht,
    maßvoll leben ist kein Verzicht.
    Teilen und Second Hand der Trend,
    Repair vor Neukauf konsequent.
    Bei allem etwas Enthaltsamkeit,
    nehmen wir uns die Freiheit.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Thüringen

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  12. Sebastian schreibt:

    Wieder mal ein sehr schöner Beitrag und tolle Bilder. Gerade marode Gebäude sind immer ein schönes Motiv.

    Und Better Call Saul gehört zu den wenigen Serien, die ich mir mehrmals angeschaut habe. Es geht doch nichts über kaputte Typen als Protagonisten und eine Schicht Schwermut, die sich über die ganze Serie zieht.

    Ich fand Better call Saul eigentlich noch besser als Breaking Bad.

    • Andreas Moser schreibt:

      „Breaking Bad“ habe ich gar nicht gesehen, weil mir das wahrscheinlich zu brutal wäre.

      Aber „Better call Saul“ fand ich wirklich gut. Spannend, toll konstruiert, und wie du sagst, so ein bisschen schwermütig. Außerdem echt gute Besetzung bis in die Nebenrollen.
      Außerdem fand ich es gut, dass mal realistisch gezeigt wurde, wie hart das Leben als Einzelanwalt ist und dass man sich halt deshalb leider manchmal mit dubiosen Charakteren einlassen muss. 😉
      (Auch wenn ich hoffe, dass ich nie in der Wüste ausgesetzt werde oder in meiner Wohnung jemand erschossen wird.)

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