Auf den Spuren des Königs (Tag 4) Der längste Tag

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Zwei Angler stechen in See, und ich habe das gesamte Ufer für mich allein.

Um 8 Uhr habe ich mich aus dem gemütlichen Haus geschlichen, ohne meine Gastgeber zu wecken, denn ich wollte das erste Schiff erreichen, das von Breitbrunn abdampft.

Ob es für einen einzigen Passagier überhaupt kommen wird?

Es kommt, zuverlässiger als die Eisenbahn, und der Kapitän erlaubt mir über den Bordlautsprecher, die Antivirenmaske abzunehmen, da ich der einzige bin, der am Bug im Fahrtwind sitzt.

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Von Bord hat man einen schönen Blick auf Dießen. Der Kirchturm des Münsters aus Kapitel 42 sticht hervor. Und dahinter erkenne ich den Hohen Peißenberg, den höchsten Punkt auf der Wanderung, den ich morgen erklimmen muss. Der Gedanke gefällt mir gar nicht.

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Noch etwas fällt mir auf, während ich am Ausguck stehe und froh darüber bin, kein Kapitän zu sein, weil ich mich ständig verfahren würde wie Kolumbus: In der Morgensonne glitzern außerhalb von Dießen mehrere verdächtige, riesige Anlagen, die eigentlich streng geheim sind, deren Geheimnis ich jedoch in Kapitel 60 unter Inkaufnahme aller sich daraus ergebenden Konsequenzen enthüllen werde.

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Dießen ist auch beim zweiten Besuch sehr schön, aber das Wetter ist noch schöner, und so zieht es mich weiter bis Süden. Mal sehen, wie weit, denn für heute habe ich keinerlei Unterkunft eingeplant.

Am Ortsausgang, kurz vor dem Schacky-Park, steht eine Mitfahrbank mit mehreren ausklappbaren Schildern, mittels derer man sein Fahrtziel angibt. Ich klappe die Kelle für Raisting, den nächsten Ort, um. Da führt der König-Ludwig-Weg eigentlich gar nicht hin, aber ich bin neugierig, ob es funktioniert.

Das Schild fällt gerade in Position, schon bremst das erste Auto scharf. Es ist ein junger Mann, der diese Mitfahrgelegenheit selbst oft nutzt. Wann immer er kann, nimmt er Anhalter mit. Sein kleiner Sohn hat sich schon so daran gewöhnt, dass er das ganz toll findet. Selbst wenn das Auto voll ist, findet das Kind, dass man anderen Menschen helfen muss. Er bietet dann an, in den Kofferraum zu klettern, um Platz zu schaffen.

„Und wohin soll ich dich bringen?“ fragt er.

„Wohin fährt du in Raisting?“

„Zum Metzger.“

„Da komme ich einfach mit, ich muss mir sowieso ein Frühstück kaufen.“ Und ich mag es, wenn Zufälle meinen Weg leiten statt Pläne oder Landkarten.

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Die Metzgerei Weichart, gegründet 1923, als es in Bayern mit Ausnahmezustand und Hitlerputsch drunter und drüber ging, ist sehr populär, denn es warten schon sechs hungrige Kunden vor dem Laden. Das wird ein schlechter Tag für die kleinen Schweinchen, die im Hinterhof quieken.

Aber so kommt man ins Gespräch, das sich natürlich bald um meine Wanderung dreht. Als ich auf die Frage nach der Übernachtung bekannt gebe, dass ich das für heute Abend selbst noch nicht weiß, bietet eine Frau an: „Wenn Sie nach Dießen müssen, können Sie bei mir übernachten. Das ganze Obergeschoss ist frei, da haben Sie einen wunderbaren Blick auf die Sterne.“

Wenn ich jede Einladung hier annehme, komme ich nie weg vom Ammersee. Aber wieder bin ich berührt von der herzlichen Hilfsbereitschaft. Ist das nur hier so? Oder nur dieses Jahr, womöglich als positiver Nebeneffekt einer tödlichen, aber dafür alles entschleunigenden Seuche? Haben die Menschen gemerkt, dass es wichtigeres gibt als Arbeit und Geld und Wettbewerb und Leistung? Fehlen die regulären Sozialkontakte, so dass man Fremden gegenüber offener ist?

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Auf dem weiteren Weg durch Raisting folgen mir Fotografen mit Teleobjektiven, wie wenn sich meine Durchreise schon herumgesprochen hat oder in der Ammersee-Zeitung angekündigt war.

Bis ich merke, dass sie wegen Störchen hier sind.

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Das Dorf Raisting sagt Euch bisher wahrscheinlich nichts, obwohl von hier Euer Internet, Eure Telefonverbindungen und Euer Fernsehen kommen. Zwischen den Feldern stehen Dutzende von Riesenantennen mit Durchmessern von bis zu 32 Metern, die außerdem noch nach Aliens suchen und Raketen und Satelliten steuern. Wenn ein Meteorit auf die Erde zurast, erfahren es die Leute hier zuerst. Und wenn der Meteorit genau hier einschlägt, dann müsst Ihr ohne Facebook und die Heute-Show auskommen, bis Internet und Fernsehen wieder von neuem aufgebaut worden sind (was man sich hoffentlich sparen wird).

Ein Bauer tuckert auf einem alten Traktor vorbei, wie um den Kontrast zwischen Landwirtschaft und Moderne zu verstärken.

Mitten unter den 5G-Maschinen steht – vielleicht zur Tarnung, vielleicht war es schon vorher da – ein kleines Kirchlein, das mit schattigen Bäumen, etlichen Bänken und einem Blick auf die Berge zum Verweilen einlädt. Viele Radfahrer kommen vorbei, die meisten davon elektrifiziert, wie in so einer High-Tech-Region zu erwarten.

Ein alter Mann kommt auf seinem Rollator hinterher. Seine Familie war mit den Fahrrädern voran gefahren und hatte wahrscheinlich gehofft, dass er sich im Weltraumfunkantennendschungel verfährt und von der Spionageabwehr für immer nach Guantanamo verfrachtet wird. Aber wer einst den Weg von der Ostfront nach Hause fand, der lässt sich nicht so leicht abschütteln.

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Im Verlauf des Tages erblicke ich immer wieder Scheunen, die auf einer Seite offen sind. Hier gibt es anscheinend keine Diebstähle, vielleicht überhaupt keine Kriminalität. In solchen Unterkünften könnte ich eine trockene Nacht verbringen.

Aber es ist noch zu früh.

Also weiter.

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Während ich an die offenen Scheunen, die offenen Häuser, die offenen Autos und die offenen Menschen denke, die mich einfach so einladen, frage ich mich, warum andere Menschen Angst haben.

„Aber das ist doch gefährlich!“

„Das würde ich mich nicht trauen.“

„Oje, hoffentlich passiert da nichts.“

Das waren manche Reaktionen auf die Ankündigung dieser Wanderung. Die Menschen assoziieren Wald und Natur und draußen mit Gefahren, obwohl sich viel mehr in Büros totarbeiten, in Gaststätten totsaufen oder an Kreuzungen totfahren.

Einige Bekannte aus anderen Kontinenten kommen gar nicht mehr nach Deutschland, weil sie irgendwo gelesen haben, dass uns wilde Horden überrannt haben und hier Scharia-Gesetze gelten würden. (Was die Schweinchen aus Kapitel 58 übrigens begrüßen würden.) Diese Leute glauben, dass ein Land, das zweimal Europa in Schutt und Asche gelegt hat, plötzlich gefährlich wird, weil es jetzt auch Menschen unter uns gibt, die Ali oder Samira heißen statt Hans und Dampf.

Vielleicht sollte man sich überhaupt erst Urteile über Länder erlauben, wenn man sie wandernd durchquert hat. Aber beim Wandern immer schön auf den Wegen bleiben! Sonst reißt Euch der wilde Stier in Stücke.

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Der Weg nach Wessobrunn zieht sich, die Sonne sticht, und das lange Stück auf der geteerten Straße ist eine Tortur für die Füße.

Zeit zum Trampen.

Aber diesmal klappt es nicht. Auto für Auto rauscht an mir vorbei, die Fahrer blicken stur nach vorne, wie wenn sie mich nicht bemerkt hätten. Bis nach 20 Minuten ein freundliches Ehepaar anhält, zwei Landschaftsgärtner auf dem Weg zu einem Termin: „Wir halten immer für Anhalter, das ist doch selbstverständlich.“ Eine Selbstverständlichkeit, von der sich die vorangegangenen 57 Fahrerinnen und Fahrer eine Scheibe abschneiden könnten. Das auch am Wochenende arbeitende Ehepaar setzt mich in Wessobrunn direkt vor dem Kloster ab.

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Die kleinen Dörfer hier haben Klöster, größer als kleine Städte. Beziehungsweise hatten Klöster, denn die Säkularisation von 1803 hat einiges zerstört. Habe ich schon erklärt, was die Säkularisation war? „Jaaa, zur Genüge!“ schallt es entnervt aus der Leserschaft, unter Verweis auf die Kapitel 49 und 50.

So sah die Anlage früher aus:

Nur ein Drittel der ursprünglichen Gebäude ist noch übrig, aber selbst das Überbleibsel passt nicht auf ein Foto.

Wessobrunn war nicht nur groß, sondern auch eine der großen Kunst- und Kulturstätten des deutschen Mittelalters. Zum einen wegen der hier entwickelten Stuckkunst, die in etwa 3000 Kirchen und Paläste in ganz Europa getragen wurde. Höhepunkt dieser Schaffensperiode ist die weltbekannte Wieskirche, die auf dem weiteren Weg liegt. Zum anderen wegen eines Sprachdokuments, aber dazu komme ich beim späteren Mittagsschlaf unter den Linden (Kapitel 65).

Wegen der Akkumulation ungünstiger Umstände bin ich eine Stunde zu spät für die Führung durch den Klostertrakt gekommen, weshalb es hiervon nur ein frech geklautes Foto gibt:

Anscheinend war das 2012 aufgelassene Kloster aber billig zu haben, denn es wurde von einer Naturkosmetikfabrikantin gekauft, die darin ihren überdimensionierten Laden betreut. Andere Klöster, zum Beispiel das Malteserschloss in Heitersheim, verkaufen die Nonnen auch gerne mal an Mitglieder des Chinesischen Volkskongresses, die darin eine Kaderschmiede einrichten wollen.

Eine Herberge wäre besser, denn noch immer halte ich nach einem Schlafplatz Ausschau.

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Jedes Kloster hat eine absurde Gründungslegende.

In Wessobrunn soll sich im Jahr 753 angeblich Herzog Tassilo III. während der Jagd durstig unter einen Baum gelegt haben. Im Traum hätten ihm dann Engel den Weg zu drei Quellen gewiesen. Als er aufwachte, hörte er tatsächlich das Wasser rauschen und fand die Quellen.

Naja, den Teil mit dem Rausch glaube ich, den Rest weniger.

Aber ich probiere es aus und lege mich unter die drei Linden vor dem Kloster.

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Der erste Teil des Planes geht auf: Ich nicke sogleich ein. Allerdings erscheint unter den jahrhundertealten Bäumen kein Bier, kein Wasser, sondern ein Stein.

Der Hinkelstein mit dem Wessobrunner Gebet lenkt mich immer wieder vom Schlafen ab:

Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista
Dat ero ni uuas noh ufhimil
noh paum noh pereg ni uuas
ni […] nohheinig noh sunna ni scein
noh mano ni liuhta noh der mareo seo

Es ist einer der frühesten althochdeutsche Texte und das älteste christliche Gedicht in deutscher Sprache. Ich verstehe so wenig von dem Althochdeutsch, dass ich jegliche Verwandtschaft mit dem gegenwärtigen Deutsch rundherum bestreiten möchte. Hoffentlich erlebe ich keine linguistische Regression mehr, denn so möchte ich wirklich nicht sprechen.

Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo
enti do uuas der eino almahtico cot
manno miltisto enti dar uuarun auh manake mit inan
cootlihhe geista enti cot heilac

Wie Athanasius Kirchner vor den ägyptischen Hieroglyphen liege ich unter dem grünen Blätterdach. Meine untauglichen Entzifferungsversuche sind wahrscheinlich nur ein Vorwand, nicht mehr weiterwandern zu müssen. Aber es ist erst nachmittags, zu früh für die Nachtruhe.

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Dann gehe ich eben die Quellen suchen, denn, wie mir angesichts der trüben Legende einfällt, Wasser könnte ich auch gebrauchen.

Hinter dem Kloster steht ein schmuckes Häuschen und überdacht die drei heiligen Quellen. (Hier kommt das Weihwasser her, und vielleicht finanziert sich so der klosterkonfiszierende Kosmetikkonzern.) Aber schwer zu finden waren die nun wirklich nicht. Ich weiß nicht, wieso man dazu von Engeln und göttlichen Fingerzeigen alpträumen muss.

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Das nächste Ziel ist der Eibenwald bei Paterzell, das hört sich irgendwie mystisch und verlockend an.

Aus Wanderersicht stellt er sich aber eher als ein mühsamer Aufundabwald mit tiefen Einschnitten und Bachtälern heraus.

Und die versprochenen Eiben?

Mir fällt nichts Besonderes auf. Ich bin allerdings auch kein Botaniker. Schöner oder weniger schön als die Buchenwälder, durch die ich bisher oft marschiert bin, ist dieser Wald auch nicht. Den Umweg hätte ich mir ersparen können. Außerdem sind Eiben giftig.

Am Ausgang des toxischen Waldes lädt eine Bank zum Nachtlager ein. Ich liege schon mal Probe, aber noch immer ist es zu früh.

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Das nächste Gasthaus wäre der „Bayerische Hiasl“ in Forst. Die paar Kilometer sollte ich noch schaffen, wenn ich mich beeile. Und wenn mich die Bande des Bayerischen Hiasl nicht vorher abknallt. Das war nämlich eine ziemlich brutale aber auch teilweise freigiebige Räuber- und Wilderergang im 18. Jahrhundert, deren Anführer Matthias Klostermayr, eben jener sogenannte Bayerische Hiasl, das Vorbild für Karl Moor, Robin Hood und den kugelsicheren Mönch war.

Die Leserschaft profitiert davon, dass ich schreibend abkürzen kann, was ich zu Fuß nicht abkürzen konnte, und so versetze ich uns etwa eine Stunde später nach Forst.

Das Gasthaus steht tatsächlich da, groß, eckig, massiv, unübersehbar.

Aber nicht mehr aktiv. Aus den Fenstern der oberen Etage wachsen schon die Bäume. Oder ist das eine Fata Morgana, wie sie müde Wanderer verwirrt?

Vielleicht ist das Gasthaus schon seit 1771 geschlossen, als der Bayerische Hiasl mit übertriebener Penibilität hingerichtet, nämlich erdrosselt, zerquetscht, geköpft und gevierteilt wurde.

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Immer wieder stoße ich bei Wanderungen auf solche Zeugnisse einst aktiven Lebens, die jetzt verfallen. Die Wirtshäuser okkupieren einen prominenten Platz in der Dorfmitte oder eine besonders schöne Stelle an einem rauschenden Bach. Große Linden spenden noch Schatten und Gemütlichkeit. Man kann das Bier noch zischen und das Schnitzel dampfen hören. Aber die Fensterläden sind zu, die Küche bleibt geschlossen, der Magen bleibt leer.

Das ist nicht nur wegen des ausbleibenden kulinarischen Genusses schade. Zum einen war es auf Reisen beruhigend zu wissen, dass man fast überall Rast machen und oft auch übernachten konnte. Der AirBnB-Generation mag das unglaublich erscheinen, aber früher wanderte oder fuhr man einfach, bis man nicht mehr konnte oder wollte, und dann hielt man Ausschau nach einem Nachtlager. Dort fragte man nach einem freien Zimmer. Es war immer etwas frei. Das ganze Reisen war freier.

Zum anderen bieten Gasthäuser dem Alleinwanderer die Möglichkeit, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Hier sitzen ja oft jeden Abend die gleichen Leute zusammen, die sich freuen, wenn jemand mit großem Rucksack auftaucht und neue Geschichten auspackt. Einmal setzte sich, ungefragt, der Wirt zu mir an den Tisch und erzählte, ebenfalls ungefragt, warum immer mehr Gasthäuser schließen. Ausbleibende Kunden seien nicht das Problem. Es mangele am Personal.

„Niemand will mehr 16 Stunden am Tag arbeiten“, beklagte er sich.

„Ist ja auch verboten“, dachte ich mir, sagte aber nichts.

„Die jungen Leute wollen feste Freizeit. Die wollen am Montag wissen, wann sie am Freitagabend frei haben“, war er verwundert.

Ich wusste nicht, was ich denken sollte, denn ich war zwiegespalten zwischen Freude über die zunehmende Emanzipation der Arbeiterklasse, die sich nicht mehr als freie Verfügungsmasse des Kapitals sieht, aber andererseits enttäuscht davon, wie die Jugendlichen vermutlich ihren freien Freitagabend verbringen würden. Wahrscheinlich verallgemeinere ich unzulässig die punktuell gemachten Erfahrungen mit dörflicher Jugend, aber ich konnte mir die jungen Serviererinnen und Köche eher dabei vorstellen, dass sie sich betranken und anschließend gegen einen Baum fuhren, als dass sie mit ihren Freunden über Marx und Hegel diskutierten.

„Und die Gesetze werden gemacht von Leuten, die keine Ahnung haben. Nehmen Sie doch mal die Frau Nahles“, die damals Arbeitsministerin war, „die hat 32 Semester studiert, aber kein einziges Mal richtig gearbeitet.“

Ich hätte darauf hinweisen können, dass Studieren auch ziemlich anstrengend sein kann. Oder dass die Überbewertung von körperlicher gegenüber geistiger Arbeit ein Überbleibsel aus faschistischen Zeiten ist. Oder dass Gesetze vom Bundestag, nicht von Bundesministerinnen gemacht werden.

Aber ich sagte lieber nichts, denn der Wirt hatte auf der Speisekarte gerade das Zigeunerschnitzel durchgestrichen und in Paprikaschnitzel umbenannt, war also grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber Änderungen. Und er bemühte sich, bot höhere als Tariflöhne, bot Übernachtungsmöglichkeiten für auswärtige Bewerber, aber dennoch: „Die jungen Leute wollen alle im Büro arbeiten, mit Computern und so.“ Und in der Geringschätzung von Leuten, die glauben, dass Social-Media-Content-Feeder oder Instagraph-Influencer-Datenanalysten wichtiger sind als Wirte und Köche, waren sich der alte Gastwirt und ich dann doch wieder einig.

Ich hätte einen Vorschlag gegen das Wirtshaussterben, aber es ist halt auch nur die theoretische Lösung von jemandem, der schon so lange studiert, dass er die Semester nicht mehr zählt. Gaststätten als Räume öffentlicher Zusammenkunft könnten zur kommunalen Daseinsvorsorge im Sinne von Art. 57 Abs. 1 der Bayerischen Gemeindeordnung (oder ähnlicher Vorschriften in anderen Bundesländern) gerechnet werden, so dass bei fehlenden privaten Einrichtungen die Gemeinde im Sommer einen Biergarten und im Winter eine Stube mit Kachelofen betreiben und Currywurst und Kaiserschmarrn anbieten muss.

Der Freistaat Bayern hat das Problem erkannt, hat aber seit der Räterepublik von 1919 so viel Angst vor Wirtschaften im Allgemeineigentum, dass er lieber 30 Millionen Euro vergeudet, um bestehenden Wirten Geld zuzuschieben.

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Die Sonne senkt sich, die Suche nach einem Schlafplatz sollte das revolutionäre Gedankengut in den Hintergrund drängen. Enttäuscht von der mangelnden Begeisterungsfähigkeit der Volksmassen in Forst, die gerade zuhause sitzen und die Sportschau sehen (Fernsehen und Internet haben die Gaststättenkultur viel mehr zerstört als Arbeitszeitregelungen), fasse ich ein neues Ziel ins Auge. Ein hohes und weites Ziel, den höchsten Punkt der Wanderung, den Hohen Peißenberg, fast 1000 m hoch.

Da oben gibt es einen Gasthof, und bei meinem Glück hat der sicher noch ein freies Zimmer.

10 km sind es noch bis auf den Gipfel. Die Sonne macht sich schon auf den Weg ins Bett. Das wird knapp. Jedenfalls darf ich nicht mehr trödeln.

Ohne Energie, dafür mit umso mehr Verbissenheit kämpfe ich mich voran, im Kampf gegen Kilometer, im Gefecht gegen das Gewicht, im Manöver gegen die Müdigkeit, im Streit mit der Schwerkraft, im Zweikampf gegen alle Zweifel. Immer wieder ein besorgter Blick zurück: Was macht die Sonne?

Sie sinkt. Ohne Unterlass, ohne Gnade, ohne Erbarmen. Im Wald ist es schon stockdunkel, die Sonne glüht ihr letztes Rot durch die Äste und das Nadel- und Blattwerk. Meine Lunge birst fast als ich die letzten zwei Kilometer nur bergauf laufe. Wahnsinn, was man noch für Reserven aus sich herausholen kann!

Und da verglüht die Sonne endgültig, kurz bevor ich es zum Gipfel geschafft habe.

In einer Kapelle brennt eine Kerze, wie um mich zu locken: Schlaf doch hier!

Das ist zwar unheimlich, aber wenn ich hier schon gewusst hätte, wo ich die Nacht letztendlich verbringen werde, hätte ich mich vielleicht in dem spärlich beleuchteten Tempel niedergelassen. Aber noch weiß weder ich noch Ihr von dem drohenden Mitternachtsspuk.

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Die Hoffnung auf den Gipfelgasthof treibt mich weiter. Wie lange er wohl noch geöffnet sein wird? Seit der Wurstsemmel in Raisting am Morgen habe ich nichts gegessen, und dieser verdammte Berg wird immer steiler.

Zu den Schmerzen in der Lunge tritt Kopfweh, aber ich fühle mich wie der erste Marathonläufer, derjenige aus der Schlacht zwischen Athener und Persern, der um jeden Preis das „νενικήκαμεν“ übermitteln musste, weil die griechische Telegraphenbehörde gerade auf Streik, in den Sommerferien oder bei der Siesta war.

Endlich auf dem Gipfel kann ich verschnaufen und werde mit grandiosen Ausblicken belohnt.

Jetzt aber schnell zum Bayerischen Rigi.

„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“

„Wir haben gar keine Zimmer.“

„Oje. Haben Sie noch etwas zu essen?“

„Tut mir leid, aber wir sperren gleich zu.“

„Hm. Könnten Sie meine Flasche mit Leitungswasser füllen, damit ich etwas zum Zähneputzen habe, wenn ich draußen schlafe?“

Die Dame kommt der Bitte nach, aber der dezente Hinweis auf meine drohende Obdachlosigkeit lässt sie nicht erweichen, mir irgendwelche Essensreste zuzuschustern.

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Es ist kalt geworden und der Wind pfeift. Klar, hier ist ja auch eine Wetterstation, da will das Wetter etwas bieten. Und nicht irgendeine Wetterstation. Auf dem Hohen Peißenberg steht das älteste Bergobservatorium der Welt, errichtet 1781, als Bayern noch nicht einmal Königreich war. (Apropos: Ist Euch aufgefallen, dass ich heute von der Wanderung so erschöpft bin, dass die langen Monologe über bayerische Geschichte ausfallen? Ich werde das morgen nachholen, versprochen!)

Mittlerweile geht es weniger um das Wetter, sondern um das Klima. Wegen der 240-jährigen Geschichte eignen sich die gesammelten Daten besonders gut für langfristige Vergleiche. Außerdem ist die Lage exponiert und weit weg von Ballungsräumen, die durch verstärkte Bebauung und erhöhtes Verkehrsaufkommen die Temperaturen bei anderen Messstationen verfälschen können.

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Müde und etwas verzweifelt lasse ich mich auf eine Bank fallen. Da erst erblicke ich den Vollmond.

Er lässt das Voralpenland mit seinen grünen Hügeln im Silberschein glänzen. Wie ein Nachtwächter auf seinem letzten Rundgang, der sich an der Schönheit der Landschaft und der Ruhe, die er selbst verordnet, ergötzt.

Aber auf der exponierten Bank bläst der Wind wie ein Orkan, und die Jugendlichen aus der Umgebung finden Vollmond anscheinend romantisch und kommen zum Händchenhalten. Hier ist nachts mehr los als tagsüber in manchen Städten. Eine Gruppe von blonden, also wahrscheinlich russischen, Jugendlichen hat eine große Antenne aufgebaut und sitzt mit Funkgeräten und Kopfhörern im VW Polo, um den Bundeswehrfunk abzuhören. Der KGB wird immer dreister.

Ich ziehe umher auf der Suche nach einem Schlafplatz, wenn ich schon kein Essen finde. (Die drei Pizzakartons im Mülleimer neben der Parkbank waren alle ratzefatz leer.)

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Der windgeschützteste Platz ist, so leid es mir für Freunde der ungestörten Totenruhe tut, der Friedhof. Da sogar um 22:30 noch zwei Trauernde im Kerzenschein Blumen auf einem Grab anbringen, muss ich noch eine Runde durch die Kälte drehen. Aber um 23 Uhr haben sie ihren Versuch, den Verstorbenen wieder zum Leben zu erwecken, aufgegeben, und ich habe die endgültige Ruhestätte allein für meine temporäre Rast.

Ich ziehe beide Jacken an, lege mich auf eine Bank, nutze den Rucksack als Kopfkissen und decke mich mit einer vom Hund schon löchrig gebissenen Decke zu. Schlafsack habe ich keinen, weil die Pilger vorangegangener Jahrhunderte es auch ohne dieses moderne Plastikzeug geschafft haben. Außerdem bin ich nicht gerne eingeengt, wenn plötzlich Menschen mit Schuss-, Hieb- oder Stichwaffen um mich herumstehen.

Bequem ist es nicht. Warm auch nicht. Die roten Grablichter flackern wie Geister, die mich warnen. Der fette Mond scheint mir wie ein Suchscheinwerfer ins Gesicht. „Du bist hier nicht sicher!“ scheint das blasse Mondgesicht zu signalisieren, und ich wundere mich, wie ein Himmelskörper ohne Helium so hell und heiter strahlen kann.

Aber ich schlafe ein. Bis mich ein herunterfallender Zapfen weckt.

Ich schlafe wieder ein. Bis mich mein eigenes Schlottern weckt.

Ich schlafe erneut ein. Bis mir Wassertropfen ins Gesicht fallen.

Ich drehe mich um und schlafe wieder ein.

Sogar der Mondschein weckt mich auf. Ich schlafe wieder ein.

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Werde ich die Nacht überleben? Wer besucht einen nachts auf dem Friedhof? Kommen zuerst die Wölfe oder die Grabräuber? Gibt es Geister?

Schaltet auch für die nächste Folge ein! Da geht es dann durch die Ammerschlucht, das angeblich spektakulärste Stück des König-Ludwig-Wegs. Und ich werde nicht mehr alleine wandern, soviel sei schon verraten.

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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