Dreiburgenwanderung (Teil 3 von 3)

Ihr erinnert euch an Teil 1 und Teil 2 der diesjährigen Geburtstagswanderung? Wenn nein, schnell lesen, bevor Ihr hier einsteigt! Denn wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann ist es unsystematisches Hin- und Her-Hopsen unter Missachtung und Verletzung der vom Autor intendierten Reihenfolge.

Bei der Joseph-Tetralogie von Thomas Mann oder den drei Filmen des „Paten“ fangt Ihr ja auch nicht am Schluss an. Nur bei „Star Wars“ ist die Reihenfolge egal. Bei den Sternenkriegern reicht jede beliebige Episode, um nach wenigen Minuten zu erkennen, dass es ein einziger Mumpitz ist.

Mumpitz könnte eigentlich auch der Name eines Flusses sein, schließlich heißen die Gewässer oft Döllnitz, Rednitz, Regnitz, Chemnitz, Kirnitzsch, Sebnitz, Müglitz, Trebnitz, Seidewitz, Wörnitz, Würschnitz, Zwönitz oder einfach nur Itz.

Jetzt seid Ihr gewappnet für Kreuzworträtsel und für die letzte Etappe entlang der Zschopau, einem für die internationale Tourismusvermarktung ähnlich ungeeignet benannten Fluss. Ehrlich, liebe Tourismusmarketingleute, Ihr müsst den Flüssen Namen geben, die man auch auf Englisch, Französisch, Chinesisch und Spanisch aussprechen kann. Oder warum, denkt Ihr, wollen weit mehr Menschen an den Colorado, den Amazonas oder den Mississippi?

„I wish we were on the Zschopau River instead, Huck.“ – „Can’t nobody bloody pronounce it right, Tom.“

Einen Vorteil haben unsere unaussprechlichen kleinen Flüsschen gegenüber den Strömen von Weltrang allerdings: Alle paar Kilometer steht auf einem Hügel neben dem Fluss eine Burg.

Am Mississippi war ich noch nicht, am Colorado und am Amazonas schon. Und ich kann Euch sagen: Dort sieht es burgenmäßig sehr mau aus. Da gibt es vielleicht mal einen Termitenhügel. Und das Opernhaus in Manaus, in dem Ihr hoffentlich die richtige Reihenfolge einhalten werdet, wenn Ihr Euch die vier Teile des Nibelungenzyklus reinzieht. Aber bitte mit dem Schiff anreisen, alles andere wäre stillos.

Und dann liegt am Amazonas noch Fordlandia. In den 1920er Jahren ließ Henry Ford mitten im Dschungel eine Stadt für 8.000 Menschen bauen, die dort Kautschuk abbauen und zu Reifen für diese neumodischen Automobile verarbeiten sollten.

Das ganze ging mächtig schief, weil Ford keine Ahnung von Kautschuk hatte, weil die Plantage halt doch ein bisschen weit weg von Detroit lag, und weil der Autodidakt im „Wohlstand der Nationen“ das Kapitel über die Arbeitsteilung übersprungen hatte. Das kommt davon, wenn man seine Zeit mit den „Protokollen der Weisen von Zion“ verplempert.

Weil ich eine Faszination für verlassene Orte habe, wollte ich während meiner Zeit in Südamerika natürlich nach Fordlandia pilgern. Aber als ich nach drei Wochen in der grünen Hölle allenfalls 150 km weit gekommen, wahrscheinlich die ganze Zeit im Kreis gelaufen war, und außerdem eine Scheißwut auf die Scheißpiranhas, die Scheißmücken und die Scheißschlangen entwickelt hatte, brach ich – wie einst der olle Ford – das Projekt ab.

Und deshalb wandere ich jetzt durch Sachsen statt durch Surinam. Während ich mich mal wieder durch die Welt geträumt habe, sind wir auch schon in Scharfenstein angekommen. Der Ort sieht mit dem verlassenen Gasthof tatsächlich ein bisschen nach Fordlandia aus.

Und auch hier wurde Automobilgeschichte geschrieben. Ebenfalls in den 1920er Jahren, also zeitgleich mit Fords Amazonas-Experiment, bauten die Zschopauer Motorenwerke Jørgen Skafte Rasmussen AG (Markenname DKW) in Scharfenstein Sechszylindermotoren für ein Modell T, allerdings für das von Audi, nicht von Ford.

Ja, die Wiege der deutschen Autoindustrie liegt genau in dieser Ecke, zwischen Zschopau, Zwickau und Chemnitz. Nach Bayern, wo sich heute der Ministerpräsident jeden Tag damit brüstet, die Autoindustrie eigenhändig aufgebaut zu haben, floh Audi erst 1949. Sie verfügten in Ingolstadt nämlich über ein Ersatzteillager, und so spielte der Zufall Industriegeschichte.

Außerdem hat Scharfenstein natürlich eine Burg.

Diese Burg vermarktet sich heute als „Familienburg“, mit Mittelalterdorf, Spielzeugmuseum und als Ort für Kindergeburtstage. Ich stehe dem Konzept Familie bekanntlich eher skeptisch gegenüber, aber wenn man aus Versehen ein paar so kleine Racker in die Welt gesetzt hat, dann muss man ihnen natürlich etwas bieten. Weil auch die Sonderausstellung „Römer & Germanen“, die mich eigentlich sehr interessiert hätte, eher an Kinder gerichtet zu sein scheint, verzichte ich auf einen Besuch.

Burg Scharfenstein hat eine ganz besondere Beziehung zu Kindern, denn von 1967 bis 1990 war sie ein Jugendwerkhof. Diese Einrichtungen waren in der DDR Heime für „schwer erziehbare“ Jugendliche, womit oftmals Jugendliche gemeint waren, die halt ein bisschen unangepasst waren, die gerne die Beatles hörten und die nach Woodstock trampen wollten. Dazu vereinzelt homosexuelle und behinderte Jugendliche, also alles in allem genau die Gruppen, die schon vorher durch die Nazis verfolgt worden waren.

Die Jugendlichen bekamen dort eine reduzierte Schulbildung, wurden permanent kontrolliert und gegängelt, teilweise auch misshandelt, und mussten im DKK-Werk in Scharfenstein Kühlschränke zusammenschrauben. Von dem kargen Arbeitslohn wurden die Kosten für die Unterkunft, in die sie zwangsweise eingewiesen worden waren, abgezogen. Die dadurch preisgünstig hergestellten Kühlschränke wurden nach Westeuropa exportiert, unter anderem zum Versandhaus Quelle.

Allerdings stellte Quelle schnell fest, dass die DDR-Kühlschränke praktisch unkaputtbar waren, also nahmen sie die Qualitätsprodukte wieder aus dem Sortiment. Im Kapitalismus muss man Ramsch verkaufen, damit der Kunde nach drei Jahren wieder kommt. Und notfalls muss man die Konkurrenz mit Hilfe der Politik beseitigen.

Auf Burg Scharfenstein gibt es, soweit ich gesehen habe, keinerlei Hinweis auf die Vergangenheit als Jugendwerkhof. Wer sich darüber informieren will, muss also in die entsprechende Gedenkstätte in Torgau. (Ich wollte ja schon einmal dorthin, bin dann aber spontan in den falschen Zug gestiegen.)

Wenn man Burg Scharfenstein verlässt, gibt einem ein Hinweisschild praktische Tipps für die Fortführung der Burgenwanderung. In Lichtenwalde war ich schon (Artikel steht noch aus), aber die 20 km nach Augustusburg könnte ich vielleicht noch heute schaffen.

Zuerst muss ich mich jedoch stärken. Und da muss ich leider eine erschreckende Beobachtung über Scharfenstein machen: Es gibt hier keine geöffnete Kneipe. Die Kantine im Kühlschrankwerk ist mit diesem ebenfalls untergegangen. Es gibt nicht einmal einen Laden.

Das einzige, was ich finde, ist eine Bäckerei mit freundlichen Verkäuferinnen, die mich ganz freundlich darauf hinweisen, dass sie leider keine Cola haben. Anscheinend noch eine alte Anweisung aus den Jugendwerkhoftagen, als man den Jugendlichen jede Energiezufuhr verwehren wollte. Meine Welt bricht zusammen, die Lebensfreude schwindet. Mitten im Juli, in der Nachmittagshitze, sowieso schon platt vom Wandern, und es gibt keine Cola! (Was krass ist, wenn man bedenkt, an welchen abgelegenen Orten dieses Planeten ich schon eine Cola bekommen habe.)

Die Abwesenheit des Lebenselixiers schmerzt besonders, weil der nächste Streckenabschnitt der steilste ist. Etwa 30 Minuten geht es nur bergauf. Die Lunge platzt fast, aber ich will nicht rasten, ehe ich nicht den Gipfel oder das Plateau erreicht habe.

Dort lasse ich mich unter einem Baum nieder und schlafe mit diesem Blick ins Blätterdach erst einmal erschöpft ein. Wie ein Landstreicher. Nur auf die Zigarre verzichte ich angesichts des heißen, trockenen Wetters und meiner eigenen Waldbranderfahrungen.

Als ich wieder aufwache, ist es nachmittags, aber noch immer dröhnt die Mittagshitze. Wie wenn die Sonne die Zeitumstellung nicht mitbekommen hätte und schlaftrunken ein paar Stunden hinterherhinkt.

Auch ich hinke notgedrungen weiter, immer nach Norden, immer auf dem Kamm hoch über der Zschopau.

An einem Aussichtspunkt, der Scharfensteiner Kanzel, kann man gut sehen, wie ein an sich fabelhafter Ort durch Prahlerei geschmälert wird.

Anstatt den Blick und die Ruhe und bei passendem Wetter die Zigarre zu genießen, musste die örtliche Sektion des Erzgebirgsvereins dieses Panorama unbedingt mit der Bastei in der Sächsischen Schweiz vergleichen.

Aber, wie Ihr selbst zugeben werdet, manchmal muss man den Gesamteindruck gelten lassen, anstatt schnöde die Höhenmeter zu vergleichen. Der Büroturm der Commerzbank in Frankfurt ist auch fast so hoch wie der Eiffelturm, aber nun wirklich keines Vergleichs würdig.

Dabei war ich noch nie in der Sächsischen Schweiz, habe mir aber eine Wanderung entlang des Malerwegs fest vorgenommen. Da muss ich dann nicht einmal Fotos machen, sondern kann mich allein dem Beobachten und Schreiben widmen, weil ja schon alles in Gemäldeform vorliegt.

Der Erzgebirgsverein macht aber auch sinnvolle Sachen, wie zum Beispiel das Aufstellen von Schutzhütten, in die sich Wanderer bei Regen oder Sturm zurückziehen können. Für ganz Ängstliche, die sich vor Wölfen und Wildschweinen fürchten, gibt es diese sogar auf Stelzen.

An einer dieser Hütten hat ein noch ängstlicherer Mensch einen Hinweis angebracht, der hochgradig hirnrissig ist. Ich weiß nicht einmal, was er mit „Strahlungsschneise“ meint. Ist das die Schneise, die die Strahlung schlägt, oder eine strahlungsfreie Schneise durch die sonst ubiquitäre Strahlung? Das kleingedruckte „Gegenüber am Sendemast ist die nächste Schneise. u.s.w u.s.w“ nährt den Verdacht, dass hier jemand außerhalb seines Kompetenzbereichs tapeziert.

Aber gut, wenigstens ich verursache heute keinen Krebs, denn an Wandertagen – und erst recht am Geburtstag – bleibt das Handy zuhause und ausgeschaltet. Außerdem, so schlimm wie damals in Raisting, als ich an der geheimen 5G-Zentrale vorbeikam, wird es schon nicht sein.

Überhaupt ist dieser Wanderweg voll mit versteckten Hinweisen auf allerhand und allerlei, von zurückgelassenen Insignien des Weltkommunismus bis zu Massengräbern für Covid-19-Opfer. (Das Erzgebirge rühmt sich der niedrigsten Impfquote, der höchsten Todesrate sowie der höchsten Zahl derjenigen, die darauf bestehen, nicht an Covid-19, sondern an 5G gestorben zu sein.)

Was ich nicht ganz einordnen kann, ist diese Bärenfalle. Das Tor ist offen, aber es liegt kein Köder bereit. Dieser knausrige Trapper wird noch lange warten können. Oder die Bären sind mittlerweile so schlau, dass sie den Köder abknabbern können, ohne die Falle auszulösen.

Ich selbst habe beim Wandern keine Angst vor Bären, sondern vor Bärenfallen. Nicht vor diesen großen Kästen, die sieht man ja schon von Weitem. Nein, ich meine die am Boden versteckten Schnappfallen, die man aus den Zeichentrickfilmen kennt.

Wobei in den Cartoons die Tiere fünf Minuten später schon wieder durch die Gegend rennen, wie wenn nichts passiert ist. Das vermittelt auch ein völlig falsches Bild vom Leben und Sterben. Kein Wunder, dass der Gouverneur von Florida Disney verbieten will. Aber mehr zu Disney gibt es vielleicht in der Oktober-1923-Folge meiner kleinen Geschichtsreihe „Vor hundert Jahren …“.

Ron DeSantis verbietet ja überhaupt gerne Dinge, von Büchern über Abtreibungen, von Diversität zu Homosexualität. Ist Euch schon einmal aufgefallen, dass die Leute, die ganz laut und oft „Freiheit“ rufen, ziemlich viel verbieten? Außer Waffen natürlich.

Andreas Scheuer: „You need to ban the gender star, too!“

Hoffentlich hat die CSU dem radikalen Verbieterix nichts von den hiesigen Schutzhütten erzählt. Denn eine öffentliche Einrichtung, die jede*r nutzen kann, noch dazu kostenlos und unabhängig von der sexuellen Orientierung, das riecht nach Kommunismus und Untergang des kapitalistischen Abendlandes. Wenn die Amerikaner davon Wind bekommen, bombardieren sie gleich wieder das Erzgebirge.

Apropos Bombardements im Zweiten Weltkrieg, was gar nicht so abwegig ist, weil man diesem Thema durchaus bei Spaziergängen über den Weg laufen kann: Habe ich schon mal die These verlautbart, dass der etwas höhere Anteil an nationalistisch-rechtsextremen Stimmen in Ostdeutschland (auch) auf die Geschichtspolitik der DDR zurückgeht, die – jenseits der antifaschistischen Parolen – vielleicht eine stärkere Kontinuität zu Preußen und dem Deutschen Reich vorlebte, als das in der BRD der Fall war?

Das ist eine rhetorische Frage, und die Antwort lautet: Ja. Aber ich habe ein weiteres Beispiel: Auf dem Zentralfriedhof von Chemnitz wurde schon zu DDR-Zeiten der Opfer der Luftangriffe auf die Stadt im Frühjahr 1945 gedacht, und zwar als „Opfer des anglo-amerikanischen Bombenterrors auf Chemnitz“.

Kein Wort darüber, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte. Kein Wort zu den deutschen Bomben auf Antwerpen, Coventry oder Belgrad. Eine vollkommene Verdrehung von Ursache und Wirkung. Keine Frage danach, warum die Deutschen sich nicht selbst von den Nazis befreiten. Und natürlich keine Erwähnung der anglo-amerikanischen Rosinenbomber, die 2,2 Millionen West-Berliner vor dem Erfrieren und Verhungern retteten.

Gut, die westdeutschen „Allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“-Mahnmale der Nachkriegszeit waren in ihrer Schwammigkeit auch nicht viel besser. Aber die wörtliche Übernahme eines NS-Propagandabegriffs wie „anglo-amerikanischer Bombenterror“, das war im Westen der NPD vorbehalten.

Aus dem Exkurs befreien uns diesmal nicht die Alliierten, sondern der Blick auf Augustusburg. Ein monströses Schloss, wie auf einem Präsentierteller gelegen.

Nein, nicht das. Das ist doch offensichtlich DDR-Architektur, die jetzt überall das Erzgebirge verschandelt. Ich meine das Schloss des sächsischen Kurfürsten aus der Renaissance.

Genau, das hier:

Den Plan, diese „Krone des Erzgebirges“ heute noch zu erreichen, lasse ich aber sausen. Ich bin froh, wenn ich es noch bis Zschopau schaffe. Dort wartet auch eine Burg – und hoffentlich ein großer Eisbecher. Außerdem muss ich mir einige Wanderziele in der Umgebung von Chemnitz aufheben, denn ich habe die Stadt, die 2025 Europäische Kulturhauptstadt sein wird, zu meinem Stützpunkt für die nächsten Jahre auserkoren.

Und zu guter bzw. schlechter Letzt wäre auch zu Augustusburg ein historischer Exkurs fällig, den ich der Leserschaft heute wahrlich nicht mehr zumuten kann.

Und dann kommt Zschopau. Zuerst schimmert eine verdächtige Villa durch die Blätter, von deren Erkundung mich Hundegebell abschreckt.

Dann ein bisschen Industrie, denn Zschopau war einst die Welthauptstadt der Motorradproduktion.

Und schließlich eine Kleinstadt mit der versprochenen Burg.

Zu der Burg gäbe es jetzt wahrscheinlich auch zu recherchieren und zu erzählen, aber ganz ehrlich, ich bin einfach platt. Keine Ahnung, wie viele Kilometer ich gelaufen bin, ich bin ja kein Landvermesser. Aber jedenfalls genügt es für einen Tag.

Ich habe jetzt nur mehr einen Wunsch: einen Eisbecher.

Stattdessen bekomme ich den Schock meines Lebens.

Was für ein Pech muss man haben, wenn der Geburtstag der einzige Tag im Jahr ist, an dem die Stadt Zschopau – aus welchen Gründen auch immer – der Verkauf von Speiseeis verbietet? Wahrscheinlich steckt da auch dieser Verbotsgouverneur aus Florida dahinter. Vielleicht hat jemand ein Eis in Regenborgenfarben verkauft.

Naja, wenigstens eine Cola finde ich noch. Zigarren habe ich selbst mitgebracht. Also flacke ich mich in den Park, strecke meine müden Beine aus und lese ein Buch.

Vor vielen Jahren hat ein Geburtstag genau so geendet, im Siegespark von Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens. In diesem Land, vor dessen Besuch ich von allen Seiten gewarnt worden war – also nicht unähnlich den Reaktionen auf die Ankündigung, nach Sachsen zu ziehen -, spielten mir am Ende zwei Jungs auf der Gitarre vor.

Ich glaube, in Tiraspol gab es sogar Eis.

Auch heute in Zschopau sitzen zwei Männer auf der Bank gegenüber. Der eine nimmt selbst im Schatten die Sonnenbrille nicht ab, der andere trägt eine richtige Brille. Der örtlichen Intellektuellenvereinigung gehören sie nicht gerade an, das entnehme ich ihrer Konversation, die sich ums Ausschlafen, um die Reparaturwürdigkeit eines Staubsaugers und das Fernsehprogramm von RTL2 dreht.

Ich blicke bewusst tief in mein Buch, „Das Totenschiff“ von B. Traven. Über diesen Autor muss ich wirklich mal etwas erzählen, aber das wird so wild und wirr, das hebe ich besser für eine Episode von „Vor hundert Jahren …“ auf.

„Was für ein Buch lesen Sie da?“ ruft der Mann mit der Brille von der Bank gegenüber. Ich blicke auf und muss kurz überlegen.

Beim „Totenschiff“ geht es um einen amerikanischen Matrosen, der in Antwerpen sein Schiff verpasst und ohne Papiere dasteht. Ohne Papiere nimmt ihn keine Schiff auf, sein Konsul fühlt sich nicht zuständig, und bald gilt er als staatenlos. Er wir von Land zu Land abgeschoben, bis er auf einem heruntergekommenen Schiff, der Yorikke, anheuern kann. Dort merkt er, dass unter der Besatzung etliche Staatenlose sind, und dass die Reederei das Schiff nur gekauft hat, um es hoch zu versichern und untergehen zu lassen. Aber das ist ja heute auch noch so.

Traven thematisiert das Thema der Staatenlosigkeit, nach dem Ersten Weltkrieg äußerst prevalent, sowie die Aussichtslosigkeit der Lohnabhängigen, sich gegen ihre Ausbeutung zur Wehr zu setzen, solange das Recht nur von bürgerlich-formalen Staatsbürgerschafts- und Eigentumsbegriffen ausgeht.

„Einen Seefahrerroman“, sage ich, weil man unschuldige Menschen im Park nicht mit langatmigen Überlegungen behelligt, die sie bei Marx und Engels selbst nachlesen können.

Ostentativ lese ich weiter, werde aber anscheinend beobachtet.

Denn als ich nach etwa einer halben Stunde das Buch zuklappe, fragt der neugierigere der beiden sogleich: „Und, war es gut?“

„Sehr gut“, sage ich ehrlich und mache ein spontanes Angebot: „Wenn Sie möchten, schenke ich es Ihnen.“

Er freut sich sichtlich und nimmt das Schenkungsversprechen sowie das Buch an, womit wir uns nach § 518 II BGB den Notar ersparen.

Ich stehe auf, wünsche den beiden – und der Leserschaft – einen schönen Abend, spaziere zum Bahnhof und denke darüber nach, wie absurd es ist, an seinem Geburtstag kein einziges Geschenk zu erhalten, aber selbst Geschenke zu machen.

Praktische Tipps:

  • Durch das Zschopautal führt ein Wanderweg mit insgesamt 122 Kilometern. Die Abschnitte, die ich gesehen habe, verleiten mich zu der Annahme, dass das eine durchaus empfehlenswerte Wanderung ist.
  • Es gibt auch einen Radweg mit insgesamt 137 Kilometern. Der muss aber ein bisschen anders verlaufen, als ich gewandert bin, denn meine Route war nicht durchgehend fahrradtauglich.
  • Wer Burgen und Schlösser mag, wird in Sachsen reichlich bedient.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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8 Antworten zu Dreiburgenwanderung (Teil 3 von 3)

  1. Majik schreibt:

    Please don’t freak out, Andreas . . . but I mostly just look at the pictures even after translating your post into English because my high school German is long gone!

    I DID listen to your Transnistria Birthday Song, however. https://youtu.be/AbmyIdGZ4_8

    • Andreas Moser schreibt:

      That’s okay, as my ramblings often have nothing to do at all with the actual hike.
      My mind is wandering elsewhere, forward, backwards, sideways.

      Because I don’t have the time to write about all my trips, I will sometimes simply post photos, anyway.

  2. Majik schreibt:

    It’s not you or your prose, Pal. It’s me. My ADHD, PTSD, 66-year-old COVID Brain, dyslexia, likely narcissistic personality disorder, and maybe a few other mental maladies besides these, makes it hard for me to focus on much of anything anymore except for yours truly. I do like a pretty picture though, and your blog has lots of them. Speaking of which, I finally found someplace that sells local postcards. They’re not classic, just tourist stuff, but I’m going to send you one like I promised to do. You will be the first actual „Pen Pal“ that I’ve ever had. I bought a stack of them, so you should get one every once in a while. If I can find some vintage postcards somewhere, maybe in San Diego, CA, I’ll get some of those to send you too.

  3. danysobeida schreibt:

    Que lugar tan hermoso, cuando veo sitios como este, que te dejan sin palabras pienso que no hay arquitecto mas extraordinario que la propia naturaleza.

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