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In Starnberg steige ich aus dem Zug, bereit trotz dröhnender Sonne und 30 Grad Mittagshitze, die etwa 5 km nach Berg, zum Anfang des König-Ludwig-Weges zu wandern. Jedes Jahr ziehe ich mich zu meinem Geburtstag zurück, am liebsten in die Ferne, gerne in die Natur, jedenfalls in die Unerreichbarkeit von geheuchelten Glückwunschtelegrammen. Im Juli 2020 wütet ein Virus, das weite Reisen wenn nicht unmöglich, so doch unpraktisch macht.
Also habe ich mich entschieden, mal ein Stück von Bayern zu erkunden, was ja immerhin meine Heimat wäre, wenn ich mit dem Begriff etwas anfangen könnte. Auf den Spuren König Ludwigs II. werde ich ungefähr 110 km vom Starnberger See, südlich von München, bis nach Füssen, direkt an den Alpen, zu wandern. Wie immer schlecht bis gar nicht geplant, aber offen für alles, was da kommen mag.
Wenn Ihr Zeit habt, kommt doch mit!
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In Starnberg liegt, direkt wenn man aus dem Bahnhof heraustritt, schon die erste Planänderung in Form eines Schiffes im Hafen. In wenigen Minuten wird es nach Berg tuckern, ich muss mich also schnell entscheiden. Na gut, sogar Patrick Leigh Fermor fuhr das erste Stück seiner Europawanderung mit dem Schiff.



Außerdem ist das hier keiner jener Wanderblogs, auf denen Kilo- und Höhenmeter gezählt, Durchschnittsgeschwindigkeiten errechnet und Rekorde aufgestellt werden. Hier geht es eher um das, was links und rechts am Wegesrand liegt. Und ob man zu Fuß, mit dem Fahrrad, im Zug, auf dem Schiff, per Anhalter oder im Heißluftballon hinkommt, ist dabei egal.
Im Süden erspähe ich schon die fernen Berge, die mein Ziel sind. Eine verlockende Vorstellung, einfach bis dorthin auf dem Schiff sitzen zu bleiben.

„Ertönt das bei jedem Halt?“ fragt eine Frau erschrocken, als das Schiffshorn beim Ablegen laut tutet. Sie hat, wie die meisten Passagiere, ein Ticket für die volle Rundfahrt gebucht. Ich aber muss in Berg schon wieder von Bord, weil Ihr alles über die bayerischen Könige und insbesondere über Ludwig II. erfahren wollt. In Berg steht nämlich eines der Schlösser, das im Leben und vor allem beim mythenverhangenen Tod Ludwigs II. eine Rolle spielte.
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Besuchen kann ich das Schloss nicht, denn es gehört noch immer der Königsfamilie der Wittelsbacher, die darin wohnt. Niemand öffnet das Tor für mich.

Die Revolution von 1918 verlief in Bayern eher halbherzig, weshalb hier Leute, die glauben, etwas Besonderes zu sein, noch immer Schlösser besetzen, die schon längst im Volkseigentum sein sollten. Ähnlich auf Reichsebene: Weil man damals nicht richtig enteignet hat, haben wir jetzt noch Rechtsstreite mit den gierigen Hohenzollern an der Backe.
Was die Wittelsbacher, die Bayern seit 1180 undemokratisch regierten, für Leute waren, kann man anhand ihrer Nutzung von Schloss Berg erahnen. Sie haben die Bayern in Bergwerken schuften lassen, um sich eine Flotte von 35 rudersklavengetriebenen Galeeren und Gondeln für bis zu 2000 Gäste zu kaufen, mit denen sie auf dem Starnberger See dekadente Feste feierten.

Wenn ihnen die Sauf- und Seegelage mit Feuerwerk und Feuerwasser zu langweilig geworden waren, dann gingen sie auf Jagd. Und zwar so, dass sie die Rehe und Hirschen ins Wasser trieben und dort abknallten. Keine besonders sympathischen Leute also.
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Ins Wasser getrieben (und abgeknallt?) haben sie auch Ludwig II., der seine letzten traurigen Tage auf Schloss Berg verbrachte.
Ein Kreuz im See markiert die Stelle, wo die Leiche des Königs am 13. Juni 1886 gefunden wurde. Unzureichend bekleidete Mädchen in einem kleinen Boot gedenken gerade seiner Majestät und zerstören die Gravität des Ortes und meines Fotos.


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13. Juni MDCCCLXXXVI, so steht das Sterbedatum auf einer Säule vor der angeblich byzantinisch-romanischen Votivkapelle, und die Ausflügler versuchen es zu entziffern.

„1776“, sagt einer.
„Aber der König hat doch achtzehnhundertirgendwas gelebt,“ wirft eine Frau ein, „schließlich hatte er schon ein Telefon auf seinem Schloss.“ Dieses moderne Gerät zückt dann auch jemand aus seiner Tasche, kalkuliert ein bisschen herum und verkündet 1886, das richtige Jahr. Hocherfreut ziehen sie weiter.
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Ich hingegen erlebe schon den ersten Schock der Wanderung: Von den Stufen der Votivkapelle gleitet eine Schlange herab, und zwar eine tiefschwarze, riesengroße. So eine, die einen erwürgen kann.
Und damit ist eine Sache klar: Ich werde keinesfalls irgendwo auf dem Boden schlafen, sondern immer eine Bank oder einen Jägersitz suchen.
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Geographisch konsequent müsste ich jetzt vom Ende Ludwigs II. erzählen, aber da wir ihn noch gar nicht kennengelernt haben, finde ich das verfrüht. Auch verzogene Könige sollen ein bisschen am Leben bleiben.
Geographisch konsequent muss ich nach Norden, weshalb ich mir den Umweg nach Süden nicht erlauben kann und den Bismarckturm verpasse. Dass der preußische Reichskanzler einen enormen Turm in Bayern spendiert bekam, ist schon überraschend. Dass dieses Monument nur ein paar Kilometer von dem Ort errichtet wurde, an dem König Ludwig II. so schmählich das Leben ausgelöscht wurde, ist unverfroren. Denn, was viele nicht wissen, aber im Laufe dieses Artikels zu ihrem großen Entsetzen erfahren werden, Bismarck war nicht unschuldig am Tod des bayerischen Königs. Ja, man kann mit Fug und Recht sagen, dass Bismarck den Märchenkönig fast so auf dem Gewissen hat, wie wenn er ihn eigenhändig ertränkt hätte.

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Die Strände in Starnberg sind proppenvoll. Das sind wahrscheinlich die Millionen Münchner, die jetzt nicht in den Urlaub fliegen können. Es herrscht ein Verkehr wie am Stachus. Und auf den Wanderwegen muss man sich vor den Radfahrern in Acht nehmen. Insbesondere wenn man stehenbleibt, um mit anderen Spaziergängern zu parlieren, werden die so in ihrem Ausdauertraining Unterbrochenen manchmal missmutig.
Man könnte sich ins Museum Starnberger See retten, was ich sowieso vorhatte, weil hier eine Kommilitonin aus dem Geschichtsstudium arbeitet. Aber, und das wird der rote Faden auf dieser Wanderung sein, ich bin zu langsam unterwegs und komme erst nach 17 Uhr in Starnberg an. Am nächsten Morgen muss ich leider früh aufbrechen und werde das Museum deshalb verpassen, was mich aber nicht daran hindert, es Euch als Nichtschwimmeroption für den Starnberg-Besuch zu empfehlen.
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Starnberg ist ein Millionärsort. Hier wohnen Drogenschmuggler, Immobilienspekulanten und der sich in der Tradition der bayerischen Monarchen wohlfühlende König von Thailand. Wahrscheinlich hat der auch die Königskobra mitgebracht, die mich vorhin so erschreckt hat.
Apropos Herrscher, die nicht im eigenen Land leben, weil sie wissen, dass sie gar nicht so beliebt sind: Wusstet Ihr, dass Ludwig II., der wie kein anderer Monarch das Bild Bayerns geprägt hat, eigentlich auswandern wollte und nur in Bayern blieb, weil er kein Visum bekam? Aber dazu mehr in späteren Teilen dieser Saga, damit Ihr gespannt bei der Stange bleibt.
Vor den Häusern stehen Porsches und Segelyachten. Die Jungs unterhalten sich darüber, ob sie sich lieber den Maserati Quattroporte oder eine Villa auf Formentera zum Geburtstag schenken lassen sollen. (Ich habe mir zum Geburtstag diese einwöchige Wanderung geschenkt.) Die Mädchen diskutieren, ob ein Zahnarzt oder ein plastischer Chirurg der bessere Bräutigam sei.
Auch die Lebenserwartung ist in Starnberg höher als im Rest des Landes. Im Durchschnitt sind es 4 bis 5 Jahre zusätzlicher Lebenszeit, denn Armut ist eines der großen Krankheitsrisiken, auch in unserem reichen Land. Wer genau hinguckt, wird über die kommenden Tage ein paar Gründe erahnen können, warum dem so ist.
Aber heute habe ich Glück. Zum Übernachten in Starnberg hat mich ein Paar eingeladen, von dem ich noch gar nichts weiß. Mich beschleicht die dunkle Vorahnung, dass es sich bei ihnen um so Millionärsschnösel handelt, wo der Diener das Abendessen serviert und die Koi mit Kaviar gefüttert werden.
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Als ich am See sitze, fragt mich ein älteres Paar nach dem Weg zum Hafen. Ich bin zwar neu hier, aber so gut kenne ich mich schon aus.

„Oh, das ist einfach: Sie gehen immer an der Uferpromenade entlang, und nach spätestens 300 Metern sehen Sie links Holzstege, wo die Schiffe anlegen. Wenn Sie Glück haben, ist gerade eines da.“
„Dankeschön.“
„Der erste Halt des Schiffes ist in Berg, das ist der Ort, wo Ludwig II. gestorben ist. Dort müssen Sie allerdings vom Hafen noch etwas nach Süden laufen, erst durch den Ort und dann durch einen schönen Park, eher einen Wald, bis Sie auf eine Kapelle stoßen oder auf das Kreuz im See. Das markiert den Ort, wo Ludwig II. am 13. Juni 1886 gestorben ist.“
„Oh“, sagt die Frau.
„Ist er ertrunken?“ fragt der Mann.
„Das ist die Frage“, gebe ich zu. „Es ist schon ein wenig suspekt. Denn der König war zum Zeitpunkt seines Todes nicht allein. Sein psychiatrischer Gutachter Dr. Gudden war bei ihm. Und beide sind tot aufgefunden worden.“
„Oh“, sagt die Frau.
„Wer geht denn mit seinem Psychiater schwimmen?“ fragt der skeptische Mann.
„Nicht schwimmen. Die beiden gingen spazieren. Ich weiß, das hört sich alles dubios an, aber es wird noch verwirrender, wenn ich Ihnen sage, dass Ludwig II. gar nicht freiwillig am Starnberger See war. Er wurde aus Neuschwanstein entführt, und zwar auf Befehl der Bayerischen Regierung, die ihn zuvor entmündigt hatte. § 11 der Bayerischen Verfassung von 1818 gab dem Ministerrat zwar das Recht zur Entmündigung, so ähnlich wie der 25. Verfassungszusatz der US-Regierung das Recht gäbe, nur dass die bayerische Regierung mehr Eier in der Hose hatte als irgendjemand in der Trump-Regierung. Aber es bleiben viele offene Fragen, weil die meisten Akten vernichtet wurden oder in einem Geheimarchiv verborgen sind.“
„Oh“, sagt die Frau.
Der Mann guckt nervös auf seine Uhr.
Da ertönt das Tuten des Schiffshornes.
„Oh“, sage ich.
Nicht nur, weil das Paar wegen meiner ausschweifenden Erklärungen das letzte Schiff für heute verpasst hat, sondern weil ich aus Versehen einen Teil der Geschichte vorweggenommen habe, die ich eigentlich später erzählen wollte. Aber die Frage, ob es Mord oder Selbstmord war, werden wir erst über die nächsten Tage klären.
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Maisingerschlucht ist ein etwas großspuriger Name für das von einem kleinen Bach durchzogene Tal. Aber schön ist es.



Anscheinend ist beiderseits der Schlucht etwas Militärisches, aber andererseits nichts wirklich wichtiges Militärisches, falls es so etwas überhaupt gibt. Denn die Schilder schmettern dem Wanderer kein strenges „Betreten verboten“ entgegen, sondern schlagen vor, dass man halt ein bisschen aufpassen solle, wenn man in die Schusslinie läuft.

Die Regeln, die die autoritären Kinder von der Anti-Montessori-Schule aufgehängt haben, sind demgegenüber strenger.

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„Sind Sie Pilger?“
„Ein atheistischer Pilger.“
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Gleich außerhalb von Söcking haben die zurückziehenden Gletscher eine Anhöhe mit einem einzelnen Baum zurückgelassen. Ein wunderbarer Aussichtspunkt mit Blick auf die Alpen. Ein junges Paar sitzt auf der einzigen Bank. Das Mädchen liest ihrem Freund aus einem Buch vor.
Ich will sie nicht stören und setze mich weit abseits in die Wiese (so hoch werden die Schlangen schon nicht klettern), so dass ich leider nicht erfahre, welches Werk das junge Glück verbindet. Schade, denn dem Autor würde diese Anerkennung wahrscheinlich mehr bedeuten als schnöde Verkaufszahlen oder ein geschönter Platz auf der Bestsellerliste.

Vor mir die Alpen, hinter mir die ebenso hohen Kumulonimbuswolken. Der Ort ist schön, aber zum Schlafen wohl zu exponiert.


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So ziehe ich weiter zu meinem Nachtquartier bei Yasmin und Basti, die eine absolut positive Überraschung sind. Es gibt selbstgemachte Pizza, Bier aus der Flasche und eine Menge Geschichten. Lustigerweise hat sich Yasmin auch schon den ganzen Tag Sorgen gemacht, wer da abends eintreffen wird: „Jedes Mal, wenn vor dem Büro ein ungewaschener Hippie in Marihuana-Nebelwolke vorbeiging, dachte ich: Oje, hoffentlich ist das nicht dieser Andreas!“
Die beiden geben mir sofort das Gefühl, zuhause zu sein. Sie sind so Leute, die für jeden Tramper anhalten, die sich über diese spontanen Begegnungen freuen, die demnächst Couchsurfing im Iran machen wollen und die wochenlang mit einem kleinen Rucksack auskommen. Mit meinem viel zu großen mit Büchern vollgepackten Rucksack fühle ich mich richtig uncool.
Draußen zucken die Blitze, und ich bin froh, für diese Nacht eine Unterkunft gefunden zu haben. Die exponierte Stelle unter dem einzelnen Baum würde jetzt zwar ein meteorologisch-elektrostatisches Spektakel bieten, mich aber auch mindestens komplett durchnässen, vielleicht sogar entzünden.
Für die morgige Nacht am Ammersee hat sich über Couchsurfing ebenfalls schon ein Gastgeber gefunden, aber die Nächte danach sind bisher noch beherbergungslos. Das wird eventuell ungemütlich. Ich könnte mir angesichts des tosenden Sturms Sorgen darüber machen, bin aber so erschöpft, dass ich sofort nach dem Zubettgehen einschlafe.
Links:
- Hier findet Ihr alle Artikel über den König-Ludwig-Weg. Der Bericht über die nächste Etappe erscheint in der nächsten Woche. Schaut doch einfach regelmäßig vorbei oder tragt Euch im E-Mail-Verteiler ein, um nie etwas zu verpassen.
- Außerdem gibt es auf dem Blog noch mehr Berichte über Wanderungen aus aller Welt.
- Als Begleitbücher für die Wanderung empfehle ich den Wanderführer zum König-Ludwig-Weg von Christel Blankenstein sowie die gute Einführung zu Ludwig II. von Bayern von Hermann Rumschöttel.
- Wer sich darüber hinaus mit bayerischer Geschichte befassen will, findet im Historischen Lexikon Bayerns fundierte Artikel und weiterführende Links.
- Der Fahrplan für die Schiffe auf dem Starnberger See.
- Das Museum Starnberger See.
- Der erste Tag der Wanderung kostete 25 € für das Zugticket nach Starnberg und 3,70 € für das Schiff nach Berg. Das wurde ermöglicht durch Spenden von Lesern, die dafür mit einer Postkarte belohnt wurden. Ich würde mich freuen, Euch für die nächste Wanderung auch zu den Unterstützern dieses Blogs zählen zu können.
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