Marienbader Eloge

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Es war eine spontane Entscheidung, aus der Not geboren, aber sie zeigte, dass das Gute oft recht nah liegt. Zumindest wenn man kurz vor dem ehemaligen Eisernen Vorhang lebt, der vielen Westeuropäern noch immer wie der Schleier des Nichtwissenwollens die Reiseoptionen begrenzt. Nicht so bei mir. Ich setzte mich also in den Zug und fuhr in die nächste Kleinstadt in der Tschechischen Republik, nach Marienbad.

Bevor es richtig losgeht, ein paar Worte zum Namen. Natürlich heißt Marienbad jetzt Mariánské Lázně. Das ist nicht schwer auszusprechen, aber ohne tschechoslowakischen Computer schwer zu tippen. Also verwende ich für die deutschsprachigen Leser den deutschen Namen, ohne dass damit irredentistische Ansprüche auf Großdeutschland oder Großösterreich impliziert werden sollen.

Marianske Lazne Schild

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Mein erster Eindruck von Marienbad ist, dass es eigentlich gar keine Stadt ist, sondern eine riesige Parkanlage mit Häusern dazwischen.

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Na gut, eher Villen und Schlösser statt Häuser.

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Das Postamt sieht wie ein Palast aus.

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Von hier habe ich Eure Postkarten verschickt.

Die Bibliothek residiert in einer Burg, wie es Bibliotheken zum Schutz vor Bücherverbrennungen überall tun sollten.

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Wahrscheinlich sieht hier sogar das Gefängnis majestätisch aus. Leider schaffe ich es während meines Aufenthalts in Marienbad nicht, verhaftet zu werden, so dass ich Euch diesbezüglich nichts berichten kann.

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Pavel, von dem ich für ein paar Tage eine Wohnung gemietet habe, kam selbst vor mehr als zehn Jahren mit seiner Mutter aus Moskau zu Besuch nach Marienbad. Der Mutter gefiel der Kurort so gut, dass sie bleiben wollte. Dazu musste sie ein Haus kaufen, das sie in eine Pension umwandelte. Als guter Sohn kam Pavel mit. Es liegt etwas Wehklang in seiner Stimme, als er dies erzählt.

„Es ist doch eine wunderschöne Stadt“, versuche ich ihn aufzumuntern, denn diesen Eindruck hatte ich in den ersten Stunden bereits gewonnen.

„Naja, wenn du aus Moskau kommst, ist es schon verdammt klein und ruhig hier.“

Ich finde ruhig ganz schön, aber wenn jetzt im Juni Hochsaison sein soll, kann ich mir schon vorstellen, dass es im Winter etwas öde werden kann. In Tschechien machen bekanntlich viel größere Städte Winterschlaf.

Auf die Frage nach den saisonalen Schwankungen führt Pavel aus: „Januar und Februar sind ganz schlecht. März ist auch ganz schlecht.“ Und, nach einer Überlegungspause: „April ist eigentlich auch noch ganz schlecht. Mai ist ein bisschen besser. Und ab Oktober wird es wieder ganz schlecht. Am wichtigsten sind die religiösen Feste, dann kommen viele Pilger.“

Das hätte ich an einem Kurort im überwiegend atheistischen Tschechien nicht erwartet, aber man muss wohl diversifizieren.

„Die meisten Leute kommen zu dem Fest, an dem Jesus geboren wurde. Wie heißt das auf Deutsch?“

„Weihnachten.“

„Nein, das andere. Das, wo er zuerst gestorben ist und dann wieder geboren wurde.“

Ah, Ostern!

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Also, wenn Religion hier so wichtig ist, dann gehe ich natürlich auch gleich in die Kirche, und zwar in die orthodoxe.

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Weil der Eintrittspreis so niedrig angesetzt ist und weil die Kirche nicht von Besuchern überrannt wird, verzichte ich sogar darauf, meinen Studentenausweis zum Erlangen eines Rabatts zu zücken. Hoffentlich verwendet die russisch-orthodoxe Kirche den eingenommenen Euro nicht zur Segnung von Waffen im Donbass.

Die Kirche ist klein, aber schmuck. Besonders stolz ist sie auf die Ikonostase, die dreitürige Bilderwand, aus Porzellan, angeblich das größte Porzellanstück der Welt.

Noch beeindruckender finde ich aber eine Ikone, die etwa auf DIN-A4-Größe alle Heiligen der orthodoxen Kirche im Jahreskalender aufführt. Da muss jemand eine sehr ruhige Hand und einen nanometerdünnen Pinsel gehabt haben. Neben dem Bild liegt dankenswerterweise eine Leselupe, und ich entziffere den Heiligen Simeon Stylites und seine Mutter, die Heilige Martha, den Märtyrer Aithalas von Persien, die Heiligen 40 Märtyrerinnen und Ammon, den Diakon und ihren Lehrer in Herakles in Thrakien, die Märtyrerin Kallista und ihre Brüder Evodios und Hermogenes aus Nikomedia, den Gerechten Josua, den Sohn des Heiligen Meletios von Griechenland, den Neo-Märtyrer Angelis aus Konstantinopel, die Heilige Evanthia und den Heiligen Mönch Nikolaus von Kreta. Das sind nur die Stars des 14. September, des ersten Tages im orthodoxen Kirchenjahr. Und so geht es weiter, 365 mal, alles in Millimetergröße. Wer immer das gemalt hat, er war mehr Pedant als Künstler.

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Das Foto ist leider unscharf, weil man in der Kirche nicht fotografieren darf und ich dieses elfte Gebot nur verstohlen aus dem Handgelenk verletzen wollte.

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Nicht ganz so heilig, aber auch wichtig waren die Könige und Kaiser, die Marienbad einstmals seinen Glanz gaben. Am Hotel Weimar hängt noch immer ein Schild, demzufolge hier der britische König Edward VII. etliche Urlaube verbracht hat. Der kannte Europa also gut genug, um gegen den Brexit gewesen zu sein.

Klebelsberg
Klebelsberg Edward VII

Dieser Palast steht jetzt übrigens leer, nicht als einziger in der Stadt. So sehen in Marienbad die Ruinen aus, auch verlassen und verkommen noch hundertmal schöner als das, was uns kontemporäre Architekten als Wohnung oder Hotel vorsetzen. Schämen sollten sie sich, diese Betonpfuscher!

Auch Napolen III., Otto I. von Griechenland, der Schah von Persien und Kaiser Franz Joseph I. kamen nach Marienbad. Da jeder Königstross im Rampenlicht stehen wollte, musste zwischen den Häusern koordiniert werden, wer wann wo Urlaub macht. Darin liegt übrigens der historische Ursprung von Reisebüros. Vorher war man einfach wild darauf losgefahren („Völkerwanderung“).

Einmal, im August 1904, gab es jedoch ein Missverständnis oder eine Fehlbuchung, vielleicht war es auch Bosheit. Der englische König und der österreichische Kaiser hatten gleichzeitig die Fahrt nach Marienbad gebucht, beide im Hotel Weimar. Als aus zwei verschiedenen Richtungen zwei Eisenbahnen mit großem Tamtam antrafen, kam der Herr an der Rezeption ganz schön ins Schwitzen. Franz Joseph I. war nicht nur Kaiser von Österreich und schon deswegen Herrscher über Marienbad, sondern explizit König von Böhmen, und deshalb ganz klar der vorrangig mit Kaiserschmarrn und Logis zu bewirtende Gast. Andererseits war Edward VII. ein Stammgast, er hatte die weitere Anreise hinter sich, und er gab großzügiger Trinkgeld.

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Zehn Jahre später sollten die sich aus diesem Zusammentreffen ergebenden Misstöne in den Ersten Weltkrieg münden. Man kennt das ja selbst: Ein kleiner Streit um den Liegeplatz im Freibad oder um den Parkplatz eskaliert, dann spricht man zehn Jahre nicht miteinander, und plötzlich bringt einer den anderen um.

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Die ganze Stadt ist sehr großzügig angelegt, mit breiten Alleen und Radwegen, riesigen Parks und genügend Sitzbänken für alle 12.000 Einwohner gleichzeitig. Stadtplanung konnten die Kommunisten, das muss man ihnen lassen.

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Hier lässt es sich gut lesen, lernen und Zigarren rauchen. Wobei letzteres teilweise verboten ist, wahrscheinlich weil die wasserverkaufenden Kliniken die Konkurrenz des Heiltabaks nicht dulden.

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Pavel hatte mich vor dem Heilwasser gewarnt. Denn obwohl es heilen soll, kann es auch töten, wenn man nicht haargenau dossiert. „Das Wasser hier ist so stark, du darfst auf keinen Fall zu viel davon trinken. Am besten, du besprichst das vorher mit deinem Arzt.“

Aber mit richtiger Anwendung würde man hier auf jeden Fall gesund. Die Rudolfquelle und die Ambrosiusquellen helfen angeblich gegen Blutarmut und urologische Beschwerden. Das Wasser aus dem Kreuzbrunnen und der Ferdinandsquelle wirkten sowohl abführend als auch gegen Allergien. Karolinenbrunnen und Marienquelle verhinderten Blasensteine. Die Waldquelle mache die Lunge wieder frei.

„Und dann musst du eine Schnabeltasse verwenden, denn sonst greift das Eisen im Wasser deine Zähne an, und du läufst einen Monat mit braunen Zähnen herum.“ Ein Strohhalm würde es wahrscheinlich auch tun, aber daran ersticken bekanntlich die Wale und Kormorane. Oder ein findiger Tassenfabrikant hat das erfunden.

Tassen

Das Leitungswasser ist aber vollkommen in Ordnung, was mich stutzig macht. Kommt all das Wasser nicht aus dem gleichen Grundwasser? Wie kann es 200 Meter weiter Krebs heilen, wenn es zuhause ganz normal aus dem Hahn blubbert?

An manchen Brunnen finden sich Tafeln mit Werten verschiedener Elemente, die mir gar nichts sagen, weil ich nicht weiß, ob 141 Magnesium oder 0,103 Zink im Wasser gut oder schlecht ist, welche Werte normal sind, und welche Maßeinheit das eigentlich ist. Mir erscheint es wie Scharlatanerei aus Charaden und Logogryphen.

Wasserwerte

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Für alle, die nicht an Heilwasser glauben, gibt es das „Beer Spa„, ein dekadentes Bad im Bier.

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Für mich ist das nichts, weil ich weder Bier noch Werbung mit halbnackten Menschen mag. (Die Dame in der Badewanne werde ich dann allerdings in Kapitel 38 doch noch kennenlernen.)

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Die Besucher in Marienbad scheinen zu jeweils etwa 45% aus Deutschland und aus Russland zu kommen, der Rest aus aller Welt. Und es sind hauptsächlich ältere Besucher. Nur die Asiaten senken den Altersschnitt und bringen nebenbei ein bisschen Stil unter die zu kurz behosten Deutschen und Russen.

Wenn ich im Ausland bin, das mal von den Nazis besetzt war (mithin fast ganz Europa), habe ich immer ein wenig Hemmungen auf Deutsch loszusprechen, also wechsle ich nach den tschechischen Begrüßungsfloskeln ins Englische. Meist wird mir dann direkt auf Deutsch geantwortet. Mangelnde Sprachkenntnis sollte also wirklich kein Grund sein, auf einen Urlaub in Marienbad zu verzichten.

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Zur vollen Stunde erschreckt einen der Brunnen vor der Kolonnade mit kitschiger Musik. Eher badeort- als hauptstadtkitschig, also nicht so schlimm wie in Skopje. Aber seichte Brunnenmusik eben.

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Das Gebäude hinter dem Brunnen, die Kolonnade, ist wohl so etwas wie das Wahrzeichen von Marienbad. Wenn sich auch ihr Zweck nicht so ganz erschließt, so zieht es mich doch immer wieder zu ihr. Es ist eine langezogene, leicht geschwungene Halle, die zu einer Seite hin weitgehend offen ist. Wenn man darin flaniert oder einen Café trinkt, fühlt man sich halb drinnen und halb im Freien, ein schönes Zwischengefühl. Und die Metallkonstruktion gibt einem ein Eiffelturm-Gefühl, ganz ohne Warteschlangen, teure Eintrittspreise und Höhenangst.

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An einem Tag ist irgend etwas los, wovon ich nicht verstehe, was es ist. Gruppen von Mädchen treten in einer Art Zirkusrevue auf, wirbeln Stöckchen durch die Luft. Den Häubchen nach zu rteilen sind sie Bäckereifachverkäuferinnen oder eine kommunistische Jugendorganisation.

Bäckerinnen

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In einem traditionsreichen und gediegenen Kurort mit Besuchern, die sich überwiegend im dritten Lebensabschnitt befinden, würde man es nicht erwarten, aber der Bürgermeister in Marienbad gehört der Piratenpartei an.

Und während in Deutschland krampfhaft versucht wird, mit Geldgeschenken den Anteil der Elektromobilität zu erhöhen, werden in Marienbad sowohl die Stadtbusse als auch die Polizeiautos elektrisch betrieben.

Bus Elektro Marienbad
Polizei E-Auto

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Der wichtigste Orientierungspunkt in Marienbad, wenn man nach dem Weg fragt oder, was öfter vorkommt, gefragt wird, ist die Ampel an der Kreuzung Chebská mit der Hauptstraße. Es gibt in der ganzen Stadt nämlich nur eine Ampel, die auch stolz im Stadtplan eingetragen ist.

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Die Heilquellen wirken zwar allesamt Wunder, werden aber unterschiedlich vermarktet. Die Kreuzquelle ist beispielsweise mit einem klassizistischen Tempel überdacht, der nur tagsüber geöffnet wird. Das ist wohl eher das Heilwasser für reiche Privatpatienten.

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Rund um die Uhr geöffnet ist hingegen die Alexandra-Quelle, die damit so etwas wie der Apothekennotdienst unter den Heilsprudeln ist. Außerdem ist sie kostenlos, hier kann ich also auch mal probieren.

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Aarghhh! Wenn nicht Kranke um den Brunnen herumstünden, deren letzte Hoffnung in diesen Schlucken ruht, würde ich es wieder ausspucken. So schrecklich schmeckendes Wasser habe ich noch nie getrunken! Das Wasser trieft vor Schwefel. Teufelsquelle wäre ein passenderer Name.

Der einzig wohlschmeckende Brunnen in der Stadt, soweit ich probiert habe, und meine Lust auf weitere Versuche war nach der Schwefelquelle nicht sehr ausgeprägt, sondern nur vom journalistischen Auftrag motiviert, ist der Brunnen, der am Eingang zum großen Park gegenüber den K.u.K.-Statuen (siehe Kapitel 5) steht. Hier prickelt und schmeckt das Wasser wie Mineralwasser, hier kann man sich die Flaschen füllen.

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Wenn man an einen Kurort fährt, muss eine Zigarrenkiste ins Gepäck, so viel ist vom Zauberberg hängengeblieben.

Zigarren im Rucksack

Wenn ich mit einer duftenden Maria Mancini im Park sitze, sollte das die russichen Oligarchen anlocken, die jetzt von der FPÖ verschmäht werden. Das ergibt dann interessante Gespräche, die diesem Bericht den nötigen Pfeffer geben. So der Plan.

Tatsächlich lockt es nur eine junge Dame an, die sich sogleich mit unerbetenen Ratschlägen unbeliebt macht: „Das ist aber nicht gesund!“

„Es macht mich glücklich, und Glücklichsein ist ein wichtiger Baustein der Gesundheit“, erkläre ich.

Es stellt sich heraus, dass sie doch mehr von Gesundheit  versteht als ich. Sie ist als Ärztin gerade ins nahe Cheb/Eger versetzt worden und ist zum ersten Mal in Marienbad. Ich kann mich also mit den eben erst gewonnenen Ortskenntnissen ungefragt beliebt machen.

Außerdem habe ich endlich eine kompetente Ansprechpartnerin, der ich die mich ständig plagende Frage stellen kann: „Sagen Sie, das mit dem angeblichen Heilwasser hier, ist das wissenschaftlich fundiert oder nur ein Marketinghokuspokus?“

„Die Leute hier glauben, dass Wasser sie heilt?“ fragt sie entsetzt.

„Oh ja. Die ganze Stadt basiert darauf.“

„Und ich dachte, nur bei uns zuhause glauben die Menschen so Quatsch. Dass es das in Europa noch gibt…“ Ipeleng ist aus Botswana, das im Rahmen der Entwicklungshilfe Ärzte in alle Welt entsendet. (Angesichts dessen, dass Botswana weniger korrupt und demokratischer als Tschechien ist, wäre die Entsendung von Politikern, Beamten und Richtern auch eine willkommene Aktion.)

Eger ist zwar etwas weit von Gaborone, aber wer in dem südafrikanischen Land im öffentlichen Dienst arbeitet, ist das gewohnt. Die europäischen Kolonialstaaten hatten willkürliche Grenzen gezogen, in denen Menschen unterschiedlicher Völker, Sprachen und Kultur plötzlich ein Staat waren, aber keine gemeinsame Identität hatten. Als Botswana 1966 unabhängig wurde, hatte es die Erfahrungen des Kongo, von Mali, von Nigeria im Kopf, wo nach der Unabhängingkeit Konflikte und Bürgerkriege ausbrachen. Deshalb kam die Regierung von Botswana auf eine einfache Idee: Lehrer, Ärzte, Polizisten würden alle paar Jahre in andere Gebiete des Landes versetzt werden, damit Menschen unterschiedlicher Volksgruppen miteinander in Kontakt kommen, vielleicht Familien gründen und so ein botswanisches Volk entsteht.

„Ich wurde mal in ein Krankenhaus versetzt, das neun Stunden von meinem Heimatort entfernt war“, erzählt die Medizinerin. „Im Einzelfall ist das schon hart, vor allem für Beziehungen. Aber für das Land und die Gemeinschaft ist es gut, denn so lernen wir uns gegenseitig kennen, anstatt Vorurteile übereinander zu hegen.“ Vielleicht hätten wir das nach der Wiedervereinigung in Deutschland auch machen sollen.

Im späteren Verlauf des Gesprächs fordert mich Ipeleng dann aber doch immer wieder auf, an so einem heißen Tag Wasser anstatt Cola zu trinken, weil das erfrischende Brausegetränk angeblich diuretisch sei. Anscheinend ist sie also auch tief in die Wasserindustrie verstrickt, wie jeder hier.

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Der angesproche Zauberberg von Thomas Mann ist übrigens hervorragend geeignet für einen Aufenthalt in Marienbad. Dort verkauft ein findiger Arzt, der mehr Geschäftsmann als Mediziner ist, frische Luft. Hier verkaufen die Kurärzte Leitungswasser. Hier wie dort ergibt sich die Heilwirkung des Aufenthalts, wenn überhaupt, aus dem Aufenthalt an einem naturnahen, etwas abgeschiedenen Ort. Hier wie dort wird selbst die theoretischste Heilwirkung durch üppige Torten überkompensiert.

Nur dass in Marienbad auch noch das Glücksspiel hinzukommt. Kur und Kasino, dafür stand das K.u.K. im alten Österreich schließlich. Mangels Geld für den Einsatz muss ich auf die Erkundigung dieser Finanzinstitute verzichten. In Karlsbad gäbe es einen Brunnen, der angeblich gegen Armut hilft, da hätte ich zuerst hinfahren sollen.

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Da ich den Zauberberg schon kenne, habe ich mir als Lektüre von Thomas Mann seinen Goethe-Roman Lotte in Weimar mitgenommen. Darin lässt er den Dichter sagen:

Heiliges Wasser, kalt und rein, heilig nicht minder in deiner Nüchternheit als die sonnenfeuerbindende Labegabe des Weins! Heil dem Wasser!

Goethe war tatsächlich einige Male in Marienbad, und die Stadt stellt absolut sicher, dass man das auf keinen Fall übersieht: Der Platz vor dem palastartigen Königshotel heißt Goetheplatz, und davor sitzt eine Goethestatue, wenn auch nicht mehr das Original, das im Zweiten Weltkrieg zu Kanonen geschmolzen wurde.

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Goethestatue nah
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Auf den sogenannten Goetheblick am Goethesitz weist eine Goethestele hin.

Goethe Säule

Das Stadtmuseum residiert im Goethe-Haus, aber dazu mehr in Kapitel 37. Und überall wird erwähnt, wann Goethe hier was gemacht, was gegessen und was gesagt hat. Kein Wunder, dass ihm der Trubel zu viel wurde, und er im darauffolgenden Jahr lieber einen Pauschalurlaub nach Italien buchte.

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Goethe hatte die für einen Blogger tyische Angewohnheit, alles was ihm widerfuhr, zu einem Artikel zu verwurschteln. Wenn also ein Date schlecht lief, machte er daraus ein schwülstiges Gedicht, die Marienbader Elegie. Da ihm die ständigen Fragen, wie es denn in Marienbad gewesen sei, auf den Keks gingen, schrieb er eben einen Artikel, nicht ohne auf sein Hobby einzugehen, das ansonsten niemanden interessierte: „Marienbad überhaupt und besonders in Rücksicht auf Geologie“ hieß das Ergebnis. Bei mir ist es halt die Geschichte anstelle der Erdwissenschaft.

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Die abgoethische Aufmerksamkeit und Wertschätzung lässt Marienbad allerdings gegenüber den anderen Künstlern vermissen, die sich hier gegenseitig inspirierten, vielleicht noch mit Ausnahme von Fryderyk Chopin, für den es immerhin jeden August ein Festival gibt. Das hätte Richard Wagner auch haben können, der neben Bayreuth auch Marienbad in der Endauswahl für den Austragungsort seiner Festspiele hatte. Aber in Böhmen gab es keine Subventionen, weil die sich alle schon Andrej Babiš unter den Nagel gerissen hatte.

Anton Bruckner, Johann Strauß und Antonín Dvořák waren ebenfalls in Marienbad. Letzterer schrieb sogar ein Stück für die singende Fontäne.

Und Schriftsteller kamen ohne Ende, allerdings situationsbedingt eher in der preisgünstigen Nebensaison. Weniger Ablenkung ist besser zum Schreiben. Neben dem Übergoethe waren Adalbert Stifter, Henrik Ibsen, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig (der der Marienbader Elegie ein Kapitel in den Sternstunden der Menschheit widmet, was mir leicht übertrieben vorkommt, aber vielleicht hat ihm Goethe das beim Pokerabend abgerungen), Maxim Gorki, Nikolai Gogol, Iwan Gontscharow, Hugo von Hofmannsthal, Jan Neruda, Rudyard Kipling und Mark Twain vor mir in Marienbad, wobei mich nicht wundern würde, wenn letzterer sich ebenso spöttisch über die Wasserkur äußerte.

Noch skeptischer war naturgemäß Franz Kafka:

Dann in Marienbad sehr lieb von F. vom Bahnhof abgeholt, trotzdem verzweifelte Nacht in häßlichem Hofzimmer. Unglückliche Nacht. Unmöglichkeit, mit F. zu leben. Unerträglichkeit des Zusammenlebens mit irgend jemanden. Nicht Bedauern dessen; Bedauern der Unmöglichkeit, nicht allein zu sein.

Montag Übersiedlung in ein außerordentlich schönes Zimmer, wohne jetzt nicht geringer als im „Schloß Balmoral“. Und darin werde ich versuchen den Urlaub zu bewältigen, fange mit der bisher nicht ganz gelungenen Bearbeitung des Kopfschmerzes an.

Dass man besser allein reist und lebt, sollte für Schriftsteller sowieso klar sein.

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Freitagabend ist um 20 Uhr tote Hose, wie Pavel es beklagt hat. Die Jugendlichen sitzen wahrscheinlich alle im Expresszug nach Pilsen oder Prag. Und die älteren Kurgäste sind schon im Bett.

Ich liege altersmäßig genau zwischen den beiden Gruppen und habe die Stadt für mich allein.

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Marienbad ist einer der wenigen Orte, an denen vor hundert Jahren mehr Touristen waren als heute.

Touristen vor 100 J
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Und das in einer Stadt, die vielleicht bald UNESCO-Weltkulturerbe sein wird.

UNESCO Kandidatur Marienbad

So etwas gibt es wirklich nur in Osteuropa. Wobei auch in Marienbad die Reisebüros mit Fotos von Neuschwanstein und Paris anstatt von Nowy Afon und Peleș werben und damit die Menschen in die falsche Richtung treiben. Seid schlauer als die Masse!

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Der einzige, der sich mit mir am Park erfreut, ist General Patton, der alte Haudegen.

Patton

Wenn Euch dessen Anwesenheit verdutzt, weiß ich, dass Ihr meinen Artikel über Pilsen (insbesondere Kapitel 46-53) nicht gelesen habt. Aber auch die Bürger und Besucher Marienbads sollten zu tschechoslowakischen Zeiten nicht erfahren, dass sie von der US-Armee anstatt von der Roten Armee befreit worden waren. So wurde 1976 ein Denkmal für die sowjetischen Befreier errichtet, die hier gar niemanden befreit hatten.

Traut also nicht allem, was Ihr seht.

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Ein weiteres Beispiel:

Hamelika

Die Burgruine Hamelika, die über Marienbad thront, ist gar keine echte Burgruine, sondern wurde 1876 schon als solche erbaut. Zerfallende Gemäuer und Ruinen waren damals in Mode, galten als romantisch. Deshalb kam man auch bald auf die Idee mit dem Ersten Weltkrieg.

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Die Hauptstraße hieß damals noch Kaiserstraße.

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Links oben sehr Ihr die russisch-orthodoxe Kirche, und das größere Gebäude links unten mit den beiden Türmen, tja, das steht heute nicht mehr. Es war die Synagoge, die beim Novemberpogrom 1938 vollständig abbrannte. Nur einen Monat vorher war Marienbad und das Sudetenland im Münchner Abkommen dem Deutschen Reich zugesprochen worden.

Gegenüber dem ehemaligen Standort der Synagoge erinnert ein Gedenkstein, wenn auch erst seit 2015.

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Ein viel wirksameres Denkmal finde ich allerdings das, was Marienbad mit dem Ort der ehemaligen Synagoge gemacht hat. Es hat auf der Prachtstraße eine Baulücke gelassen. Das ist einerseits einfach, symbolisiert andererseits das Fehlende auf wirksame Weise.

Baulücke

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Die Sudetendeutschen benötigten übrigens nicht den Einmarsch der Wehrmacht 1938, um Nazis zu werden. Wie viele Auslandsdeutsche waren sie das ganz freiwillig und ganz begeistert.

Eines der ersten bekannten Opfer des Nationalsozialismus, der Schriftsteller Theodor Lessing, wurde schon im August 1933 in Marienbad von drei Attentätern erschossen.

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Aber ich merke schon, Euch steht der Sinn nicht nach Attentaten und Antisemitismus, sondern nach Wald und Wandern.

Gleich außerhalb von Marienbad beginnt der Kaiserwald, ein riesiges Gebiet mit Wanderwegen in alle Richtungen, wie immer in Tschechien gut beschildert.

Wegweiser

Zwischen den Wäldern liegen Lichtungen und Seen, auch Moorlandschaften, manchmal eine kleine Kapelle oder ein Häuschen im Grünen.

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Und dann taucht in Kladská (Glatzen) ein kleines Schlösschen im Alpenstil auf, das vorläufige Ziel der mehrstündigen Wanderung. Im 19. Jahrhundert hatte es Fürst Schönburg-Waldenburg errichtet, um Rehe, Hirsche und Wildschweine zu jagen.

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Groß gejagt wird hier nicht mehr, aber im Wirtshaus U Tetřeva (Zum balzenden Auerhahn) kann man immerhin noch speisen und sogar übernachten. Ein Einzelzimmer kostet 30 €, entnehme ich der Speisekarte. Leider ist für den Rest der Woche Regen angekündigt, sonst würde ich hier ein paar internetfreie Tage mitten im Wald verbringen.

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Ganz in der Nähe liegt ein See, um den herum ein Weg aus Holzplanken führt. Immer so nah wie möglich am Ufer, breit wie eine Promenade und rollstuhlgerecht. Als ich den Holzweg zu verlassen versuche, merke ich sogleich, wie wichtig er ist. Der Boden gibt etliche Zentimeter nach, und wenn ich mich noch weiter entfernte, so würde ich wahrscheinlich im Moor versinken.

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Dann entdecke ich doch noch ein für den Aufenthalt geeignetes Uferstück, mit Blick auf eine Insel, die gerade groß genug zum Leben wäre. Zumindest für einen genügsamen Menschen wie mich. Dumm nur, dass ich nicht schwimmen kann.

Insel

Hier lasse ich mich nieder, um die Beobachtungen und Gedanken der letzten Stunden ins Notizbuch zu übertragen, auf dass sie die weltweite Leserschaft erquicken, anstatt sich am Abend, wenn ich erschöpft ins Bett fallen werde, heimlich, still, leise und auf Nimmerwiedersehen davon zu machen wie schon Tausende ihrer untreuen Gedankenkollegen zuvor.

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Eine tschechische Dame führt Freunde aus Deutschland um den See und erzählt, dass tschechische Universitäten die Lehrpläne für türkische Studenten strecken, um die Studiendauer zu verlängern: „Wir tun alles, damit die nicht zu Erdoğan zurück müssen.“ Vom Belauschen fremder Gespräche lernt man manchmal mehr als aus Zeitungen.

Als die Gruppe an mir vorbei geht, sagt die Professorin stolz: „Seht Ihr, die jungen Menschen in Tschechien sind kreativ, sie schreiben, sie malen, sie machen Musik.“ Ansonsten immer schonungslos auf der Seite der Wahrheit, kann ich die Fehlannahme über mein Alter und meine Herkunft in dieser Situation nicht berichtigen, weil sonst herauskäme, dass ich mich, wenn auch passiv, so doch unbefugt in die Unterhaltung eingeklinkt hatte. Das könnte Stasi-Traumata wecken.

Zigarre am Glatzen-See

Und sie hat ja Recht. Mir ist auch schon aufgefallen, dass sich in unserem Nachbarland weniger Menschen als in Deutschland davon treiben lassen, möglichst viel zu arbeiten, um möglichst große Autos und Häuser zu kaufen. Vielen geht es um andere Dinge, um künstlerische oder intellektuelle Betätigung, um gesellschaftliches Engagement, was sich zur Zeit eindrucksvoll bei den Demonstrationen gegen Machtmissbrauch und Korruption zeigt, oder sie gehen gerne Wandern, Angeln und Autostoppen. In Kapitel 31 meines Artikels über Pilsen hatte ich schon vermutet, dass die niedrige Arbeitslosenquote zu einer gewissen Lockerheit bei der Lebensplanung beiträgt. Aber es muss noch etwas Anderes sein, eine Wertschätzung des Geistigen, die mir auch schon in anderen postkommunistischen Gesellschaften aufgefallen ist.

Bücher auf Balkon

Zwar ist die Zeit des Schriftstellerpräsidenten vorbei, aber bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse kamen 60 tschechische Autoren neu auf den deutschen Markt, manche in Übersetzung, manche schrieben gleich auf Deutsch. Ein weiteres Beispiel, das weiter in die Fläche wirkt: Seit 1919 musste in der Tschechoslowakei jede Kommune, egal wie klein das Dorf war, mindestens eine öffentliche Bibliothek bereitstellen. Zwar gilt das seit 2001 nicht mehr, aber noch immer hat Tschechien die höchste Bibliotheksdichte der Welt. Und, zu guter Letzt: In Tschechien werden sogar Restaurants nach literarischen Figuren benannt.

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Plötzlich höre ich lautes Grunzen und Schmatzen im Gebüsch.

Ein Wildschwein!

Aber nein, es war nur jemand, der auf einer der Informationstafeln den Knopf für den Wildschweinsound gedrückt hat. Die vorbeilaufenden Hunde erschrecken sich noch mehr als ich. Zum Glück hat er nicht den für die Klapperschlange betätigt.

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Um aus dem geographischen Teufelskreis des Immer-um-den-See-Herumlaufens herauszukommen, schlage ich mich bei einem der abzweigenden Bäche in die Büsche, gespannt, wohin mich der Wasserlauf führen wird.

Schnell stellt sich der Bach als Kanal heraus, schnurgerade und mit einem erhöhten und deutlich sichtbaren Pfad auf der rechten Seite. Nur vereinzelt blockieren umgestürzte Bäume mein ungestümes Wandern, aber dann hüpfe ich einfach auf die andere Seite des Kanals, womit Ihr auch schon dessen Breite erahnen könnt.

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Lange ist er allerdings schon. Der Kaiserwald ist durchzogen von einem System aus Kanälen, das mit der Zinnförderung, dem Betrieb von Mühlen und dem Transport von Holz zu tun hat. Das Ingenieursmeisterwerk von insgesamt über 30 km weit verzweigter Länge und kommunizierender Kanäle wurde schon im 16. Jahrhundert angelegt.

Etwa zwei Stunden gehe ich so an den noch funktionstüchtigen aber nicht mehr genutzten Kanälen entlang und treffe trotz sonnigen Sonntagsausflugswetters keine Menschenseele. Nur ein paar Rehe blicken neugierig auf und laufen weg. Und einen Kuckuck höre ich, diesmal den echten, nicht den vom Band.

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Langsam öffnet sich der Wald, und ich blicke über weite Felder, schön hügelig, und die Gräser und lila Blumen wiegen sich im kühlenden Wind.

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Wo ich bin, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr, bis ich einen markanten Hügel mit drei Kreuzen entdecke. Der müsste doch auf der Karte verzeichnet sein. Tatsächlich: tři kříže. Verdammt, ich bin immer weiter von Marienbad weg gewandert. Jetzt sind es 14 km zurück, dabei bin ich schon für den Feierabend bereit. Es war ein heißer Tag.

Drei Kreuze

Aber wenn ich schon mal hier bin, besteige ich zuerst den Golgothahügel. Eine tschechische Familie versucht die Inschrift zu entziffern, die von 1849 stammt und auf Deutsch ist.

Drei Kreuze detail

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Prameny ist eines der Dörfer, durch das ich komme, und es zeigt, wie Marienbad aussehen würde, wenn es nach dem Kommunismus nicht renoviert worden wäre.

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Auch dem Heiligen an der Brücke sind die Hände schon abgefallen, ansonsten ist er aber gut erhalten. Die Inschrift auf Deutsch klärt mich darüber auf, dass der Ort einst Sangerberg hieß. Das ist also einer jener Orte, aus denen ab 1945 die Deutschen vertrieben wurden und die danach teilweise verfielen. Nicht weil ein Fluch auf ihnen lag, sondern weil das grenznahe Gebiet in der Tschechoslowakei oft eher dem Militär als dem Wohnen diente.

Nepomuk

So ist die Einwohnerzahl geschrumpft von einstmals über 2000 auf heute noch 109, die die viel zu großen Häuser bewohnen. Wie die umliegenden Kurorte, so wollte auch Prameny eine Mineralquelle anzapfen, übernahm sich dabei finanziell und blieb auf 1,2 Millionen Euro Schulden sitzen. Das ist viel für 109 Einwohner. Bei den Wahlen im Dezember 2009 fand sich unter diesen Umständen kein Kandidat für den Bürgermeisterposten, und das Dorf wurde einem Amtsverweser unterstellt. Die Sudetendeutschen wollten komischerweise doch nicht zurück in die Heimat, deren Verlust sie seit 70 Jahren beklagen. Vielleicht ist die angebliche Verbundenheit von Menschen mit der Scholle der Urahnen halt doch ein komisches Konzept.

Ich jedenfalls ziehe schnell weiter, nicht dass mich jemand erspäht und ausruft: „He, da ist jemand, der so aussieht, wie wenn er keine Arbeit hat. Machen wir ihn zum Bürgermeister!“

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Nach Marienbad sind es noch zehn Kilometer, die Sonne steht hoch am Himmel, und um das Auffüllen meiner Wasserflasche habe ich mich in Prameny/Sangerberg nirgendwo fragen trauen, denn eines ist dann doch sehr deutsch an dem Dorf: Jeder Garten wird von einem aggressiven Hund bewacht.

Also stelle ich mich an die Straße und versuche mich im Autostopp. Schon das vierte Auto hält, allerdings nicht wegen mir. Zwei Mädchen sehen auf der Landkarte nach, wohin sie fahren sollen. Als ich am Nummernschild den erstaunlichen Zufall bemerke, dass sie wie ich aus dem Landkreis Amberg-Sulzbach sind, gehe ich auf sie zu und frage, wohin sie denn wollen,

„Wir suchen den einfachsten Weg zurück nach Hirschau.“

Tja, der geht eigentlich nicht über Marienbad. Aber ein großer Umweg wäre es auch nicht. Ich erkläre meine Lage, und die beiden Mädchen sagen tatsächlich: „Dann fahren wir Sie eben nach Marienbad!“ Wie gut die Welt doch ist.

Sie sind öfter in dieser Gegend, stellt sich schnell heraus, und die Großeltern der einen von ihnen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus dieser schönen Gegend in die öde Oberpfalz vertrieben.

Diesmal sind sie in den Kaiserwald gekommen, um den Gasthof in Nimrod zu suchen, von dem die Großeltern erzählt haben. Seit dem 18. Jahrhundert habe er bestanden und sogar königlicher Besuch habe dort Kaiserschmarrn gekostet.

Als sie ihn fanden, lag ein enormer Schutthaufen im Wald. Der Baggerfahrer erklärte, dass sie drei Tage zu spät gekommen sind. Gerade wurden die historischen Gebäude abgerissen.

Nimrod alt
Nimrod Ruine

Wir sind uns einig, dass das schade ist. Ebenso konsentieren wir übrigens darin, wie beschämend es für uns Deutsche ist, dass viele Tschechen sehr gut Deutsch sprechen, und auf der anderen Seite der Grenze kaum eine Schule die Sprache des Nachbarlandes lehrt. (Wobei immerhin die Volkshochschule Amberg Tschechisch-Kurse anbietet.)

Nach dem Namen haben wir uns auf der kurzen Fahrt gar nicht gefragt, aber von hier aus nochmal ein großes Dankeschön an die beiden jungen Damen, die mir etwa drei Stunden beschwerlichen Marsch erspart haben!

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Nach der Tageswanderung gönne ich mir abends im Park eine Churchill-große Zigarre.

Eine deutsche Familie geht vorbei (man erkennt die Deutschen übrigens auch daran, dass der Mann den Kinderwagen schiebt), und der Vater äußert ganz entsetzt zu Frau und Tochter, denen er anscheinend keine eigene Beobachtungsgabe zutraut: „Seht Euch den an, der raucht eine Zigarre.“

„Möchten Sie auch eine?“ biete ich an.

„Nein,“ ruft er wie zum Protest, „das stinkt ja grauenvoll.“

Zehn Minuten später setzt sich ein Mann neben mich auf die Bank, obwohl ringsherum etliche Bänke frei sind.

„здравствуйте“ begrüßt er mich. Er ist etwa so alt wie ich, mit gepflegtem Bart und freundlicher, attraktiver Erscheinung.

„здравствуйте.“ Ein Händedruck signalisiert, dass ich mich über die Gesellschaft freue und die Lektüre gerne für eine Unterhaltung unterbreche.

In einem Gemisch aus Russisch, Tschechisch und Deutsch, wie es in Mitteleuropa üblich ist, radebrechen wir. Er hat sichtbar Interesse an der Zigarre, und ich biete ihm einen Zug an. Er besteht darauf, dass ich im Gegenzug an seiner Marlboro ziehe.

Leider kann ich auf Russisch nicht erklären, dass man Zigarren nicht inhaliert. Er hört gar nicht mehr auf, zu husten, droht fast zu sterben. Wo ist jetzt die Ärztin, wenn man sie braucht? Ich bemerke, dass sie vergessen hat, mir ihre Telefonnummer zu geben. Der Kollege bedeutet, dass ihm schwindelig sei.

„Ja, das wirkt wie Alkohol.“

„Wie eine ganze Flasche Wodka,“ präzisiert er. „Oder eher wie eine Flasche Wodka und ein paar Bier zusammen.“

Apropos Wodka, da holt er eine Flasche aus seiner Jeansjacke und bietet mir einen Schluck an. Wir trinken direkt aus der Flasche wie Jugendliche, die sich schon lange kennen.

Er will einen weiteren Zug von der Zigarre wagen und kollabiert fast wieder. Er kann gar nicht fassen, wie ich das aushalte und denkt wahrscheinlich, ich habe eine Lunge aus Stahl.

Nachdem er mir noch ein paar Wörter auf Ukrainisch beigebracht hat, muss er sich dringend verabschieden. Schade, denn der Wodka war gut. Hoffentlich wird es ihm nachts nicht zu schlecht ergehen! Sein Händedruck zum Abschied ist aber noch genauso stark wie der zur Begrüßung.

Falls diese beiden Begegnungen symptomatisch sind, dann sind mir die Russen oder Ukrainer lieber als die Deutschen.

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Kurz nachdem der Wodka gegangen ist, schlägt der Musikbrunnen wieder an. Heute Abend spielt er die Filmmusik zu Exodus.

Das erinnert mich daran, dass ich ins Museum gehen wollte, um mehr über die Menschen zu erfahren, für die die Baulücke in Kapitel 25 steht.

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Dass das Stadtmuseum im Goethe-Haus untergebracht ist, überrascht bei der hiesigen Goethe-Manie nicht mehr. Und tatsächlich hat der Schriftsteller 1823 in diesem Haus gewohnt. Einige der Räume enthalten noch das Mobiliar von damals, andere enhalten Faksimiles seiner Handschriften, und niedliche Puppen spielen historische Begegnungen nach.

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In der Abteilung zur Stadtgeschichte ist frappierend, wie klein Marienbad noch vor kurzem war. Der Ort wurde erst 1808 gegründet, vorher lag hier eine unbewohnte, unwirtliche Schlucht.

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Aber bereits 1818 wurde er Kurort und bald weltbekannt. Das ist ein rasanter Aufstieg. Oder wie Goethe 1820 schrieb:

Dann besuchte ich Marienbad, eine neue bedeutende Anstalt […]. Architekt und Gärtner verstehen ihr Handwerk und sind gewohnt, mit freyem Sinn zu arbeiten. Der Letzte, sieht man wohl, hat Einbildungskraft und Praktik, er fragt nicht, wie das Terrain aussieht, sondern wie es aussehen soll. Abtragen und Ausfüllen rührt ihn nicht. Mir war es übrigens, als wäre ich in den nordamerikanischen Einsamkeiten, wo man Wälder aushaut, um in drey Jahren eine neue Stadt zu bauen.

Einen erneuten Schub brachte die Eisenbahn, die ab 1872 den kleinen Ort direkt mit Prag verband, eine Verbindung, von der heutige Besucher noch profitieren.

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Das Museum enthält einen riesigen Kinosaal, und obwohl ich früh am Morgen der einzige Besucher bin, fragt mich die Museumsdame, ob ich einen Film über die kurze Stadtgeschichte sehen möchte. Klar, gerne!

Der Film bietet einen ganz interessanten Überblick über die Gründungsgeschichte, vielleicht ein bisschen zu ausführlich, wie dieser Artikel. Als wir im 20. Jahrhundert sind, denke ich mir: „Jetzt wird’s spannend“, aber die deutsche Besatzung wird mit der Aussage abgehandelt, dass Marienbad im Zweiten Weltkrieg Lazarettstadt war. Und dann ist der Krieg auch schon vorbei. Kein Einmarsch, kein Holocaust, kein Krieg, keine Vertreibung, nichts.

Und ab 1948 wird alles gut: „Die Heilquellen und Heilbäder wurden verstaatlicht und damit den Werktätigen der Tschechoslowakei zugänglich gemacht.“ Juhu, die Bonzenhotels sind jetzt in Arbeiterhand! Der Film datiert von 1987.

So wie im Film ist es eigentlich im ganzen Museum: viel über die Bäder, über die berühmten Gäste und natürlich über die Heilkraft des Wassers. Oh, und die Dame in der Badewanne arbeitet anscheinend nicht nur beim „Beer Spa“ (siehe Kapitel 8), sondern sie gehört schon seit Ewigkeiten zum machomäßigen Marienbad-Marketing.

Badewanne1
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Was ich im Museum jedoch vermisst habe, waren Informationen über die einstige Synagoge und, das wäre in einem Kurort durchaus interessant, über das Phänomen des Bäder-Antisemitismus insgesamt. Denn wenn die Deutschen und Österreicher in den Urlaub fuhren, dann musste der Antisemitismus mit ins Gepäck, und das schon lange vor dem Nationalsozialismus.

In Marienbad und den anderen Kurbädern der Region (Karlsbad und Franzensbad) kam es zu einer böhmischen Besonderheit, dem sogenannten Winter-Antisemitismus. Das war der Antisemitismus der Hotel- und Restaurantbetreiber, den diese den Sommer über aus geschäftlichen Gründen verbargen und erst mit Ende der Saison wieder reaktivierten. Also etwa so wie heute in Sachsen, wo einem die Neonazis eigentlich egal wären, wenn sie doch nur nicht die Touristen abschreckten. Wenn Wagner das gewusst hätte, vielleicht wäre er doch gerne in Marienbad geblieben.

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Am Stadttheater komme ich immer nur vorbei, wenn es geschlossen ist.

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Schade, denn es wäre auch von innen ganz hübsch.

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So verpasse ich auch die Gemäldeausstellung „Meister des böhmisch-mährischen Hügellandes“, die in den Pausen der Theatervorstellungen begutachtet werden kann.

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Apropos Hügelland: Falls jemand von der langen Wanderung durch den Kaiserwald abgeschreckt sein sollte, grämt Euch nicht! Es gibt von Marienbad aus auch etliche kürzere Wanderungen im Rahmen von wenigen Kilometern. Eine, die weitgehend im Wald und damit im Schatten verläuft, ist der Metternich-Wanderweg. Es wird ein sehr entspannter Morgen in einem ruhigen Wald mit viel Moos.

Eine der Quellen entlang des Weges legt nahe, dass manche der Wässerchen tatsächlich einen hohen Eisengehalt haben. Das Wasser ist nämlich blutrot.

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Die Wanderung führt am Friedhof vorbei, der, wie es sich für ein Heilbad gehört, ausreichend außerhalb liegt, um die auf Genesung Hoffenden nicht mit der Probabilität des Ablebens zu konfrontieren. Denn mit dem Tod vor Augen würde nicht einmal mehr der Placebo-Effekt des Wassers wirken.

Im Friedhof finde ich Spuren der deutschsprachigen Vergangenheit, aber auch Anzeichen darauf, dass die Nachfahren nicht mehr in Marienbad leben, denn viele Gräber sind zugewachsen.

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Ein Kriegerdenkmal zeigt, wie nichtsnutzig Heldentum sein kann: „Den gefallenen Helden des Weltkrieges 1914-18“ gedenkt eine Säule, verschweigend, dass es den Staat, für den sie starben, zum Ende jenes Krieges nicht mehr gab.

Kriegerdenkmal

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Ebenfalls zu Denkmälern vergangener Zeiten verfallen einige der Häuser in der zweiten und dritten Reihe hinter der Kaiserstraße.

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Die Autos aus jener Zeit bekommen mehr Pflege.

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Die ganze Woche überlege ich schon, warum mir Marienbad so gut gefällt, dass ich am liebsten hier bliebe. Es ist wunderschön grün und weitläufig. Ich mag es, all die Abstufungen des Verfalls und des Wiederaufbaus zu sehen, wie ein Querschnitt durch die Jahrhunderte. Ein Ort in Tschechien, der in Österreich groß wurde und in dem jetzt ganz selbstverständlich Deutsch und Russisch gesprochen wird, das ist auch ein Stück Europa. Und mir gefallen Orte, die mal größer, wichtiger und bedeutender waren als jetzt, wo man zwischen grandioser Architektur herumläuft wie in einem zu weiten Pullover, der dennoch gemütlicher ist als all die Pullover, die wie angegossen passen.

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Aber Marienbad bietet noch etwas Besonderes: Hier wurde eine Stadt für Könige, für Reiche und für Berühmte errichtet. Und jetzt steht sie jedem offen, sogar für relativ wenig Geld, denn die Könige sind geköpft, die Reichen finden Mitteleuropa nicht protzig genug, und die Berühmten haben keinen Geschmack mehr. Hier kann ich mich als einfacher Bürger, als Student gar, ein wenig erhaben fühlen.

Schlussfoto

Praktische Tipps:

  • Marienbad ist gut mit dem Zug zu erreichen, entweder über Marktredwitz und Eger oder von Prag oder Pilsen aus. Die Tickets in Tschechien sind übrigens wesentlich günstiger, also besser nur die Hinfahrt in Deutschland oder Österreich kaufen. Von Amberg nach Marienbad kostete die Hinfahrt z.B. 28 € (Bayern-Böhmen-Ticket, wobei der zweite Fahrgast wesentlich billiger davonkäme), und die Rückfahrt auf gleicher Strecke 259 tschechiche Kronen (ca. 10 €).
  • Von Marienbad aus gehen Busse in alle Städte und Dörfer der Umgebung, sogar nach Kladská im Kaiserwald.
  • Pavel, der äußerst hilfsbereite und auskunftsfreudige junge Mann vermietet die Ferienwohnung Maria sowie mehrere Ferienwohnungen in der Villa Shafaly. Wenn Ihr bei Booking über diesen Link bucht, bekommt Ihr 15 € Rabatt, übrigens nicht nur in Marienbad, sondern weltweit.
  • Wenn Ihr lieber AirBnB ausprobieren wollt, könnt Ihr über diesen Link 25 € sparen.
  • Reiseführer zum Bäderdreieck Marienbad-Karlsbad-Franzensbad gibt es im Trescher-Verlag und im Michael-Müller-Verlag. Beide decken auch die weitere Umgebung sowie Pilsen ab.

Links:

Ups, das ist jetzt ein bisschen lang geraten. Jetzt wisst Ihr, wieso ich in großen Städten wie Prag oder Rom besser gar nicht zum Schreiben anfange. Aber falls Euch der Artikel bei der Reiseplanung ein wenig geholfen hat, so würde ich mich über etwas Unterstützung für den Blog sehr freuen.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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22 Antworten zu Marienbader Eloge

  1. Wirklich wunderschön, da möchte ich im Frühling auch mal hin..

    • Andreas Moser schreibt:

      Und dann gibt es ja auch noch Franzensbad und Karlsbad ganz in der Nähe. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch in jener Gegend.

  2. danysobeidad schreibt:

    Siempre es tan enriquecedor leer tu blog Andreas. Hoy quede deslumbrada por la belleza de las edificaciones en Marienbander Eloge, a propósito tienes una curiosidad viajera casi rosando lo genial. Sigue viajando por favor!

  3. Anonym schreibt:

    Danke für die spannende Lektüre. Da sich unsere Wege schon öfters
    kreuzten (Abchasien, Bratislava, Semmering, Oberpfalz, Tschechien und
    selbst Eupen), im Sinne von an den selben Orten gewesen zu sein, will
    ich hier mal meinen Senf dazu geben.
    Wo fange ich an? Am besten in der Oberpfalz. Vor 21 Jahren habe ich
    Sachse da nämlich mal für ein Jahr gearbeitet. Sie schrieben oben,
    glaube ich (der Text ist ganz schön lang, um das jetzt noch mal zu
    suchen), dass dies eine öde Gegend wäre. Das entspricht voll und ganz
    meinem Eindruck. Ich pendelte da jedes Wochenende nach Hause nach
    Dresden. Der kürzeste Weg war über Pilsen, Saaz und Teplitz. Für mich
    ganz normal. Für die Eingeborenen (in der Gegend um Vohenstrauß,
    Pleystein, Grenzbewohner also) war es damals nicht vorstellbar, diese
    Grenze zu überwinden. Mein Vorschlag, mal zu Mc Donalds an der Autobahn
    in Tschechien zu fahren, wurde aufgenommen, als hätte ich sie genötigt,
    in ein südostasiatisches von Bürgerkriegen verwüstetes Slum zu fahren.
    Man wollte eh unter sich sein. In der Zeit hatte ich so gut wie keine
    Kontakte mit Einheimischen, die über beruflich nötige Kommunikation
    hinaus ging (bis auf eine Ausnahme). So bestand der Freundeskreis nur
    aus Gastarbeitern (Ossis, Tschechen, Bosniern) und wir haben oft darüber
    gesprochen, wie schwer es hier ist, Anschluss zu finden. Die Ausnahme
    war der (mit seiner Mutter verfeindete) Sohn meiner Chefin. Allerdings
    war auch er mittlerweile zum Fremden geworden, da er lange in einer
    bayrischen Universitätsstadt gelebt und studiert hatte. Uns Ossis wird
    ja gerne Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorgeworfen. Ich finde,
    Fremdenfeindlichkeit ist exakt der richtige Begriff, den man auf die
    Oberpfälzer anwenden könnte. Der Fremde soll arbeiten, ansonsten soll er
    jedoch unsichtbar bleiben und zu sagen hat er gleich überhaupt nichts.
    Für sein Land (Shithole) interessieren wir uns nicht und das Sonstige
    regelt der Arbeitsvertrag.
    Jetzt zu Sachsen und Tschechien. Mein Eindruck über die Leute, die heute
    Pegida und AFD abfeiern, ist der, dass für viele nicht Rassismus und
    Fremdenfeindlichkeit die treibende Motivation ist, sich da reinzuhängen,
    oder diese Bewegungen zu befürworten (wobei es natürlich echte Rassisten
    auch genug gibt), sondern eher Xenophobie der richtige Ausdruck wäre.
    Die Oberpfälzer blickten von oben herab auf die Fremden, viele Ossis (da
    meine ich jetzt auch die Tschechen, Polen, Slowaken und Ungarn gleich
    mit) ist hingegen ein ängstlicher Blick von unten auf fremde Kulturen
    eigen. Während einer langen Bahnfahrt von Poprad nach Prag unterhielt
    ich mich 2015 mit einer jungen slowakischen Krankenschwester, die im
    Bayrischen Wald in der Privatpflege arbeitete. Ihre Einstellung zu
    Migranten war vor allem paranoid (was eigentlich heißt, dass sie mir
    leid tat). Es ging ihr um Diebstahl, Messerstecherreien, den Islam
    natürlich. Vor all dem hatte sie vor allem Angst. So erlebe ich das hier
    in Sachsen auch oft. Allerdings kommt es darauf an, aus welcher Klasse
    oder Schicht jemand ist. Die AFD ist hier keineswegs eine Partei eines
    zu vernachlässigenden Pöbels, sondern eher Mittelstandsnah und gut
    organisiert. Deswegen, fürchte ich, wird sie so schnell nicht
    verschwinden. Hinzu kommt, dass sie erkannt haben, dass sie mit
    fremdenfeindlichen Parolen im Jahr 2019 nicht mehr punkten können und
    deshalb im Landtagswahlkampf fast vollständig darauf verzichtet haben.

    Die Beziehungen zwischen Sachsen und Tschechien sind wesentlich inniger
    als zwischen Bayern und Tschechien (ja, auch weil man ähnlich tickt
    :-(). Wenn sie schreiben, dass es kaum üblich ist, dass Tschechisch an
    den bayrischen Schulen gelehrt wird, so gilt das für Sachsen definitiv
    nicht. Hier wird im grenznahen Bereich an vielen Schulen und
    Kindergärten fakultativ Tschechisch gelehrt (oft durch Muttersprachler),
    hier in Pirna gibt es sogar ein binationales Gymnasium, welches
    zweisprachig deutsche und tschechische Kinder unterrichtet. Auch
    sonstige kulturelle und gesellschaftliche Kontakte
    (Freundschaftswanderungen, Tage der tschechischen Kultur usw.) sind hier
    üblich und sehr gut besucht. Zu erwähnen ist auch, dass Sachsen die
    benachbarten Gebiete Tschechiens schon immer als ihr Naherholungsgebiet
    betrachtet haben und es auch heute wie selbstverständlich tun. Es gibt
    hervorragende Wanderführer aus Sachsen über die schönsten Gebiete
    Nordböhmens (z.B. aus dem Rölke Bergverlag- eh die besten Wanderführer
    Deutschlands) und die Verkehrsanbindung dorthin und bis nach Prag ist
    hervorragend. Mit keinem Nachbarland hat Tschechien so viele
    Bahnverbindungen wie mit Sachsen. Wenn alles gut läuft werden die auch
    noch ausgebaut. In den tschechischen Urlaubsgebieten trifft man immer
    auf jede Menge Ostdeutsche, aber nur auf sehr wenige Westdeutsche.
    Witzigerweise sind in Tschechien mehr Holländer touristisch unterwegs
    als Westdeutsche.
    Ich komme übrigens gerade von einer Kammwanderung durch das
    Riesengebirge. Den heutigen freien Tag (kann mich kaum noch bewegen ;-))
    nutze ich, um hier zu schreiben.

  4. Anonymous schreibt:

    Danke fuer den ausfuehrlichen Bericht. Ganz wunderbar geschrieben und fotografiert. Ich will da jetzt auch hin.

  5. Pingback: „Wie ich fälschte, log und Gutes tat“ von Thomas Klupp | Der reisende Reporter

  6. Pingback: Marienbad Eulogy | The Happy Hermit

  7. Pingback: Kyselka, Kurort für Könige, Kaiser und Kobolde | Der reisende Reporter

  8. Anonymous schreibt:

    Danke fuer den ausfuehrlichen Bericht. Ganz wunderbar geschrieben und fotografiert.

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank, dann hat sich die Mühe gelohnt!

      Ich war nach dem Artikel noch einmal in der Region, auch Karlsbad und Franzensbad, aber Marienbad bleibt für mich die schönste Stadt.

  9. ff schreibt:

    Wusste gar nicht, dass meine Geburtsstadt so schön ist.

    • Andreas Moser schreibt:

      Für mich ist das wirklich eine der schönsten Städte Europas.

      In Karlsbad finde ich die Umgebung wunderschön zum Wandern, aber die Stadt selbst zu kommerziell, zu aufgemotzt.
      Franzensbad ist auch schön grün, aber da ist wirklich nichts los.

  10. Pingback: Geburtstag ohne Gardasee | Der reisende Reporter

  11. sinnlosreisen schreibt:

    Hallo Andreas,
    gerade finde ich diesen sehr gelungenen Beitrag von dir. Und ich bin ganz verblüfft, dass du zu den gleichen Schlüssen gekommen bist, wie ich zwei Jahre später. Ich war nämlich bei den Nachbarn in Karlsbad und hab da ähnliche Eindrücke gesammelt: https://sinnlosreisen.wordpress.com/2021/10/08/sinnlose-orte-die-die-welt-nicht-braucht-karlsbad/
    Viele Grüße
    Marco

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank für die Empfehlung!
      In Karlsbad war ich natürlich auch, zweimal sogar. Zum Trinken kam ich nicht, weil ich mir mangels Becher das Wasser in die Hand laufen lassen wollte. Großer Anfängerfehler! Aber besser die Hand verbrüht als den Mund.

      Im Vergleich fand ich Marienbad viel schöner, entspannter, ruhiger. Karlsbad ist mir ein wenig zu protzig, teuer, angeberisch. Aber zum Wandern sind die Wälder und Hügel ringsrum wirklich wunderbar.

      In Franzensbad war ich nur kurz. Das war so etwas wie die Altersheimvariante der Bäder. Schön grü und weitläufig, aber wirklich nichts los. Wie ein Sanatoriumspark. Vielleicht nicht schlecht, wenn man mal eine Woche Ruhe braucht, um eine Arbeit für die Uni fertig zu schreiben.

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