Von Freiberg nach Freital, ohne jede Verwechslung

Freiberg und Freital sind zwei Städte in Sachsen, die ich immer wieder verwechsle. Weil beide an der gleichen Bahnstrecke – von Chemnitz nach Dresden – liegen, kommt es sogar vor, dass ich falsch aussteige.

Dabei sind die beiden Städte eigentlich sehr unterschiedlich.

Freiberg ist eine alte Bergbaustadt. Wie Kremnica, nur nicht ganz so idyllisch gelegen.

Freital hingegen wurde erst 1921 gegründet, und zwar als sozialdemokratische Musterstadt, wo die Fabriken sauber und sicher, die Arbeiter erholt und glücklich, und die Wohlfahrt allumfassend und kostenfrei sein sollte.

Entwurf für Freital, nicht ganz verwirklicht.

Um in Zukunft jegliche Verwechslung auszuschließen, habe ich mich dazu entschlossen, von einer Stadt in die andere zu wandern. Wenn ich einen ganzen Tag und mindestens 30 km zu Fuß unterwegs bin, wird mir das schon einbläuen, wo welche Stadt liegt.

Wie es der historischen Entwicklung entspricht, werde ich von Freiberg nach Freital wandern. Vom Mittelalter in die Moderne.

Außerdem sollte es so tendenziell bergab gehen, denke ich mir. Vom Berg ins Tal.

Weil es im Oktober nur mehr etwa 10 Stunden Tageslicht gibt, muss ich mich sputen. Dies wird also keine meiner typischen ausufernden Wanderungen, sondern ein zielstrebiger Marsch. Die Orientierung sollte einfach sein, denn zwischen den beiden Städten verläuft ein Jakobsweg.

Es ist noch dunkel, als ich mit dem Zug in Freiberg ankomme.

Auch im Bergwerk tut sich nichts. Man würde meinen, dass es den Bergleuten egal sein kann, ob in der Außenwelt Tag oder Nacht ist. Aber wie ich in Potosí feststellen konnte, sind Männer, die mit Dynamit hantieren, sehr abergläubisch.

Außerdem gehört dieser Schacht zur Bergakademie Freiberg, einer alten und ehrwürdigen Einrichtung und jetzt einer Technischen Universität. Die Studenten sind natürlich noch lange nicht wach. Mit Ausnahme derjenigen aus Übersee, die zum Semesteranfang noch mit dem Jetlag hadern.

Vielleicht ist das mit der Kohleförderung heute gar nicht so wichtig, weil sich die Windräder die ganze Nacht gedreht haben und aus jeder Steckdose der Strom quillt. Sehr gut für die Energie- und Umweltbilanz sind übrigens Menschen wie ich, die den ganzen Tag außer Haus statt vor dem dem Computer verbringen.

Als jemand, der nur theoretische Dinge wie Jura, Philosophie und Geschichte studiert hat, beneide ich Menschen, die Bergbauingenieure oder etwas ähnlich praktisches sind. Die können einfach irgendwo in der Welt aufschlagen und sagen: „Stellt mich ein, und ich grabe Euch eine Diamantmine.“ Oder ein Atommüllendlager. Vielleicht geht sogar beides in einem, natürlich sukzessiv.

In Kirgistan oder Guatemala braucht hingegen niemand einen deutschen Juristen, der über den Unterschied zwischen Hypothek und Grundschuld aufklären kann. Außerdem gibt es in Bolivien eine interessante Alternative, das anticrético. Aber man soll nicht schon vor Sonnenaufgang in das Kreditsicherungsrecht lateinamerikanischer Staaten abschweifen.

Erst als ich Freiberg schon hinter mir gelassen habe und über die mit Raureif gestrichenen Felder landstreiche, geht eine Sonne auf. Eine von über 100 Milliarden in unserer Galaxie. Und es gibt etwa 200 Milliarden Galaxien in dem uns bekannten Teil des Universums. Ich erwähne das nur, falls sich heute Morgen jemand besonders wichtig fühlt. Dazu besteht nämlich kein Anlass.

Über die Freiberger Mulde, so heißt der Fluss hier, führt eine römische Brücke. Aber die Römer waren nie hier, sehr zum Leidwesen des lokalen Genpools. Also muss sie aus der Renaissance stammen, da wurde viel von den Römern und Griechen kopiert.

Und tatsächlich informiert ein Schild, dass die Brücke in Conradsdorf im Jahre 1501 erbaut wurde und einen hölzernen Steg ersetzte.

„Ist ja auch logisch“, denke ich mir und erkenne zu meiner großen Freude, dass ich bereits hellwach bin. Denn 1501 wurde in Mitteleuropa ein enormes Hochwasser veranstaltet, das natürlich viele ältere Brücken weggespült hatte. Was die Brücken zerstört, ist übrigens meist nicht das Wasser, sondern das Treibgut. Früher waren es Baumstämme, heute sind es Autos. Auch deshalb haben sich im hochwasserbetroffenen Sachsen historisch die eher leicht gebauten Autos wie Trabant oder Wartburg durchgesetzt.

Alter Wanderer auf alter Brücke.

Neben der Brücke steht in der Gegend noch allerhand anderes altes Zeug herum, das sogar von der UNESCO als Welterbe „Montanregion Erzgebirge“ anerkannt, geschützt und gepriesen wurde. Dafür musste Dresden von der Liste weichen. Aber Dresden ist Landeshauptstadt und hat das Militärhistorische Museum, die bekommen genügend Besucher.

Ich weiß sowieso nicht, was so ein Welterbe-Status bringt. Mal ehrlich, wie viele von den 52 Welterbestätten in Deutschland habt Ihr schon gesehen? Und wie viele von den 1157 Stätten weltweit? Da kommt ja keiner mehr hinterher. Früher gab’s einfach sieben Weltwunder und Schluss war.

In Tuttendorf, Conradsdorf und Halsbrücke ist es gerade 8 Uhr. Die Menschen kratzen Eis von den Autofenstern und fahren zur Arbeit. Niemand denkt sich „Ach, schau an, ein Wandersmann! Der hat Recht, ihm tu ich’s gleich“, ruft im Büro an und nimmt sich frei. Dabei ist heute so ein schöner sonniger Tag, und die Arbeit kann auch bis nächste Woche warten. (Gilt nicht für Notärzte und Feuerwehrleute, sorry.)

Wenn ich an alten Alleen entlang spaziere, denke ich oft: „Wie schön, dass jemand vor 200 Jahren die Voraussicht hatte, eine Reihe von Bäumen zu pflanzen.“ Wer das macht, hat ja meist selbst nichts mehr davon. Erst die übernächsten Generationen genießen die Früchte, den Schatten und das Glücksgefühl.

Aber zwischen Conradsdorf und Falkenberg sieht man, dass diese vorausschauende Weisheit nicht nur eine Sache der tiefen Vergangenheit ist.

Von Falkenberg bis Naundorf verläuft der Weg entlang der Bobritzsch, die dem Wanderer eiskaltes Frischwasser zum Frühstück darbietet. Das ist der Vorteil der Deindustrialisierung: Niemand leitet mehr Schwermetalle, Wismut, Wermut oder andere übelschmeckende Substanzen in unschuldige Gewässer.

Na gut, ich laufe hier durch das Gebiet mit der höchsten radioaktiven Belastung in ganz Deutschland. Aber weil ich jetzt sowieso am Rande des Erzgebirges wohne und zuhause das Wasser aus der Leitung trinke, wird der kleine Schluck aus dem Fluss die Leber schon nicht zusätzlich stören.

Ein weiteres Erbe der Deindustrialisierung erkennt man unmittelbar am Wanderweg, denn dieser verläuft, wie jedes geübte Auge erkennt, auf einer alten Bahntrasse. Diese ganzen Schmalspurbahnen wurden in der DDR Anfang der 1970er Jahre stillgelegt, also in etwa zur gleichen Zeit wie in der BRD. Im Kampf gegen die Schiene und gegen den ländlichen Raum standen sich die beiden Systeme in nichts nach.

Nur gut, dass wir nach Süden spazieren. Denn im Norden der Bobritzsch würden so verlockende Burgen wie Bieberstein oder Reinsberg versuchen, uns vom eigentlichen Ziel und Zweck der Wanderung abzubringen.

Die nächste verlockende Ablenkung steht in Naundorf, wo ein Schild auf den Mittelpunkt Sachsens hinweist.

Auf den angeblichen Mittelpunkt, sollte ich ergänzen, denn natürlich gibt es diesbezüglich Streit. Das kenne ich ja zur Genüge von meiner Reise zum Mittelpunkt Europas. Von Estland bis Ungarn, von Frankreich bis in die Ukraine geht es da wild hin und her.

Den Mittelpunkt Sachsens mitzunehmen, als Bonusfolge zu dem vorgenannten Projekt, ist verlockend. Aber die Landkarte offenbart, dass es doch ein ziemlicher Umweg auf dem Weg nach Freital wäre. Und wenn man das einmal einreißen lässt, dann finde ich hier und da und dort noch allerhand Interessantes, und wir kommen heute nicht mehr ans Ziel.

Außerdem bin ich einfach vom ganzen Wesen her Europäer. So kleinteilige Bundesländergeografie ist nichts für mich. Da fahre ich doch lieber auf die Insel Saaremaa vor Estland oder besteige den tschechischen Tillenberg.

Den Jakobsweg muss ich jetzt verlassen, denn dieser Jakob ließ sich anscheinend auch viel zu leicht ablenken. Sein Pfad führt an jeder Kirche, jedem Kloster und jedem Dorf – und dort wahrscheinlich an jeder Kneipe – vorbei. Kein Wunder, dass er es nie bis an die ersehnte Atlantikküste geschafft hat, sondern sich schon vorher in Santiago de Compostella zum Sterben in die Kathedrale legen musste. Viele Jakobspilger wollen am Ende der Plackerei ihre Füße ins Meer halten, aber das ist ahistorisch und häretisch. Außerdem ist es nicht gut für die Fische.

Mich selbst interessieren Wälder tausendmal mehr als das Meer, und so biege ich in Naundorf in einen Wald ein, den ich nur einmal durchqueren muss. Eine alte Postmeilensäule gibt die Entfernung zum nächsten Ort mit 1,85 Meilen an. Das ist ein Klacks. Dafür muss ich nicht einmal eines der Postpferde bemühen.

Im Wald fühle ich mich wohl. Da geht’s mir richtig gut. Da lebe ich auf. Aber darüber schreiben kann ich nicht. Da stehen halt Bäume, und die sind grün. Mit Naturbeschreibungen und „Nature Writing“ kann ich nichts anfangen, selbst „Walden“ finde ich weitgehend öde. So Typen, die durch den Wald gehen und dann über raum-zeitliche Veränderungen der diskursiven Wahrnehmung intransparenter Materie aus spinozistischer Perspektive schwadronieren, die sind mir suspekt. Mir tut dann immer der Wald leid, der sich nicht gegen diesen Mumpitz wehren kann.

Aber zwei Dinge fallen mir auf:

Erstens, etwas unerwartet für den Weg vom Berg ins Tal, geht es immer bergauf. Den Mittelpunkt Sachsens habe ich erfolgreich ignoriert, dafür bin ich anscheinend auf direktem Weg zum höchsten Punkt Sachsens.

Zweitens, ich bin schon drei Stunden unterwegs und stecke noch immer im gleichen Wald, obwohl ich schnurstracks nach Osten und ganz sicher nicht im Kreis gelaufen bin. Das mit den 1,85 Meilen kann nicht stimmen. – Und da fällt mir ein, dass ich mich schon einmal über diese sächsischen Postmeilensäulen gewundert habe. Damals hat ein kenntnisreicher Leser (überhaupt ist die Leserschaft das Schlaueste an diesem Blog) zu erklären versucht, dass sächsische Postmeilen keine Meilen sind, sondern irgendeine Formel aus Stunden mal Pferdestärke, geteilt durch die Quadratwurzel des Alkoholisierungsgrades des Postkutschers oder so. Ich habe es nicht kapiert, ehrlich gesagt. Im Ergebnis entspricht eine sächsische Postmeile jedenfalls etwa 9 km. Die 1,85 Meilen nach Tharandt bedeuten also fast 17 km. Na super, dann kann das noch dauern.

Der Wald ist so enorm, wahrscheinlich der größte in Sachsen, dass ich immer wieder auf Hütten zum Übernachten treffe. Man soll diese Wildnis wohl gar nicht an einem einzigen Tag durchqueren können.

Irgendwann mehren sich die Wegweiser und Parkbänke. Auch ein Gedenkstein für Kaiser Wilhelm II. springt aus dem Gebüsch, wie ein Unhold aus grauer Vorzeit.

In Sachsen kenne ich mich noch nicht aus. Aber Mitteleuropa ist doch überall gleich, und ich glaube, ich weiß, was das bedeutet. Wo an jeder Weggabelung Hinweisschilder stehen und wo man alle paar hundert Meter die müden Knochen ausruhen kann, da liegt ein Kurort in der Luft.

Und tatsächlich. Der Kurort Hartha, ein kleiner nur, nicht zu vergleichen mit Baden-Baden oder Marienbad. Seine Blütezeit scheint vorüber zu sein, im Kurhaus finden schon lange keine Sportgymnastik und kein Bingo-Abend mehr statt. An einem Gartenzaun ruft ein Plakat zum Einkauf bei örtlichen Händlern auf. Links und rechts davon sind leere Ladengeschäfte zu vermieten.

Aber es ist nicht die Schuld des Kurortes Hartha, wenn die Krankenkassen und die Berufsgenossenschaften knausern und kaum mehr Kuren bezahlen. Ebenso wenig ist es dessen Schuld, dass es bei allen medizinischen Einrichtungen einen Personalmangel gibt, nicht zuletzt deshalb, weil die Anerkennung von ausländischen Berufs- und Bildungsabschlüssen so kompliziert ist. Manche Probleme machen wir uns wirklich selbst, aber dazu gleich mehr.

Dabei glaube ich, dass man hier gut gesunden und genesen kann, denn Hartha hat durchaus hübsche Ecken. Und die Umgebung ist sowieso wunderbar.

„Wenn Hartha ein Kurort ist, dann bin ich eine Universitätsstadt“, dachte sich Tharandt, der nächste Ort, trotzig.

5.500 Einwohner und die kleinste Universitätsstadt Deutschlands. Hier residiert – sehr stilvoll – die forstwissenschaftliche Fakultät der TU Dresden, mit einer mehr als 200-jährigen Geschichte vor Ort.

Bei der Forstwissenschaft könnte man, wie bei der Montanwissenschaft in Freiberg, denken: Das ist ein praktisches Studium, da findet man überall auf der Welt eine Arbeit.

Aber ich hatte mal einen Mandanten, der auf den Philippinen Forstwissenschaften studiert hatte. In Deutschland wurde dieser Abschluss nicht anerkannt, weil er keine Erfahrung mit deutschen Mischwäldern hatte. Man sagte ihm, er müsse große Teile des Studiums nachholen, wozu ihm das Geld und die Sprachkenntnisse fehlten. Für ein Studium benötigt man mindestens das Sprachniveau C1, was viele gebürtige Deutsche nicht schaffen. Dazu muss man nämlich Aufsätze über den Idealismus bei Schelling und Hegel analysieren, und zwar im zweiten Konditional Plusquamperfekt. (Wenn es wenigstens um Fichte ginge.) Dabei wollte der Mann einfach nur mit Bäumen arbeiten und Borkenkäfer bekämpfen, nicht deutsche Volkslieder deklamieren.

In den sächsischen Wäldern wurde übrigens die nachhaltige Forstwirtschaft – und überhaupt der Begriff der „Nachhaltigkeit“ – erfunden. Hans Carl von Carlowitz schrieb schon 1713 gegen den Raubbau an den Wäldern an und mahnte, dass die Menschen bereits die Ressourcen der nächsten Generationen verbrauchten. Das war nicht sehr populär. Die Menschen wollten nicht ihr Heizverhalten ändern oder auf die wöchentliche Hexenverbrennung verzichten, nur weil der kurfürstlich-sächsische Energieminister auf die Holznot hinwies. Sie wollten nicht, dass staatliche Inspektoren die Dämmung der Wohnstuben überprüften, sondern gingen jeden Montag auf die Straße, um gegen die „Forstscharlatane“ zu demonstrieren.

Die gleichen Diskussionen wie heute also.

Wenn Freunde von anderen Kontinenten nach Deutschland kommen, lege ich ihnen immer eindrücklich ans Herz, die Großstädte zu ignorieren und stattdessen mit dem Zug durchs Land zu fahren und irgendwo auszusteigen. Am besten in einer Kleinstadt, von der sie noch nie gehört haben, um sich überraschen zu lassen. Sie machen das natürlich nicht, weil nie jemand auf mich hört. (Eine wesentliche Ursache für all die Unbill auf der Welt.)

Tharandt wäre ein guter Ort dafür. Klein, aber oho. Imposante Burgen, verwunschene Schlösser, eine große Buchhandlung, und sogar der Asia-Imbiss geht auf das Jahr 1888 zurück.

Für mich ist klar: Hier muss ich noch einmal her! Schon allein wegen des Forstbotanischen Gartens, der allerdings nur noch bis zum 31. Oktober geöffnet ist. Also, nehmt Euch schnell frei, steigt in den Zug und genießt den Goldenen Oktober und den „Indian Summer“ in Ostdeutschland statt in New Hampshire.

Auf der B168 von Peitz nach Lieberose.

Von Tharandt nach Freital sind es nur mehr ein paar Kilometer. Der Wanderweg geht immer an der Wilden Weißeritz entlang, allerdings am Südufer. Dort gelangt am Nachmittag keine Sonne mehr in das tiefe Tal, und es ist ziemlich kühl.

Die steilen Hänge auf der Nordseite hingegen werden von der Sonne beschienen und locken den mutigen Wanderer. Gefahrenhinweise auf Steinschlag, herabfallende Äste, umfallende Bäume, freilaufende Bären und § 11 Absatz 2 Satz 1 des Sächsischen Waldgesetzes können mich nicht abhalten. (Obwohl das mit den Astbrüchen tatsächlich ein zunehmendes Problem ist. Wegen der Trockenheit merken die Bäume, dass sie nicht ausreichend Wasser bekommen und lassen einzelne Äste absterben. So kann selbst von einem gesund aussehenden Baum unvermittelt ein Ast herabfallen.)

Brüderweg heißt dieser Wanderweg, und wenn Ihr mal in der Gegend seid, gönnt Euch diese paar Stunden! Der Weg verläuft auf halber Höhe an einem steilen Hang, einst von mutigen Männern in den Stein gehauen, so wie die Abkürzung nach Hua Shan oder wie die Levadas auf den Azoren.

Auf der einen Seite geht es steil nach oben, von dort drohen der Steinschlag und meterdicke Buchen und Eichen. Auf der anderen Seite führt jeder Fehltritt in die Schlucht der Wilden Weißeritz.

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, versuche die knarzenden Bäume und die aus dem Abgrund schimmernden Knochen menschlicher Skelette zu ignorieren. Beruhigend rede ich mir ein, dass ich ein schönes Leben gehabt habe, so dass ich mich nicht grämen muss, wenn es jetzt und hier endet.

Plötzlich sagt jemand freundlich „Hallo!“

Auf einem Felsvorsprung steht eine Frau, so ein bisschen wie die Loreley. Bei auf Felsvorsprüngen stehenden Frauen denkt man ja immer gleich daran, dass sie sich hinabstürzen wollen, aber diese hier ist erkennbar frohen Mutes.

„Oh,“ sage ich verdattert, „auf diesem versteckten Pfad hätte ich wirklich nicht erwartet, jemanden anzutreffen.“

„Das ist mein Lieblingsweg“, erklärt sie. „Ich gehe ihn jeden Tag.“

Die Dame ist Künstlerin in Tharandt. Sie sei nicht die einzige, die dort malt, töpfert, zeichnet, fotografiert und ausstellt, sagt sie, und das Bild einer Künstlerkolonie passt zu dem flüchtigen, aber positiven ersten Eindruck, den ich gewonnen habe. Diese Künstlerinnen wissen wirklich, wo man gut leben kann. Und wenn man doch mal in die Großstadt will, ist man mit dem Zug in 12 Minuten in Dresden. So schnell schaffen es die meisten Dresdner nicht.

Nachdem diese Begegnung die Dramatik der Brüderweg-Erzählung zunichte gemacht hat, kann ich Euch jetzt genauso gut die Wahrheit sagen und zeigen: Wenn man nicht gerade betrunken ist, ist dieser Weg überhaupt nicht gefährlich. Ganz im Gegentum, es ist der schönste Abschnitt des ganzen Tages.

Am liebsten würde ich den ganzen Tag nur mehr auf diesem Weg hin und herlaufen, so wunderbar ist er. Aber irgendwann taucht Freital auf, und die Leserschaft giert es nach Industrieanlagen und Fabrikschloten. Na gut.

Wobei ich mir nicht sicher bin, ob aus dem Projekt Freital wirklich etwas geworden ist.

Der Tempel der Arbeit steht leer, hier wurde schon lange nicht mehr agitiert. Einen gemeinsamen Bahnhof haben die verschiedenen Ortsteile auch hundert Jahre nach der Zusammenlegung nicht hinbekommen. Immer wenn ich nach dem Bahnhof von Freital frage, bekomme ich die Gegenfrage: „Den von Deuben, Hainsberg oder Potschappel?“

Ich könnte der Sache auf dem Grund gehen. Aber ab dem Moment, in dem meine Füße vom Waldweg auf den Asphalt ein- und umgeschwenkt sind, ist mir die Müdigkeit in alle Knochen gefahren und die noch vor einer halben Stunde unbändig erscheinenden Energie entwichen. Welch Unterschied das doch macht, Wald oder Stadt!

Also nehme ich einfach den nächsten Zug nach Hause.

Jedenfalls werde ich Freiberg und Freital jetzt nicht mehr verwechseln. Also, wenn Ihr auch so ein Städtepaar habt, das Euch ständig verwirrt, ich empfehle einen Spaziergang! Von Arnstadt nach Arnstein. Von Moosburg nach Mosbach. Von Timbuktu nach Taekwondo.


Huch, das ist jetzt doch wieder ein bisschen länger geworden als geplant. So ist es halt, wenn man ein Notizbuch mitnimmt und aufschreibt, was einem durch den Kopf geht.

Aber bald wird es zu kalt, um draußen zu schreiben. Dann wird sich das Verhältnis von Fotos zu Text zu Gunsten des Visuellen ändern. – Außer ich trampe in den Süden, nach Baghdad oder so. Dann habt Ihr Pech, und es droht ein Gilgamesch-Epos.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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16 Antworten zu Von Freiberg nach Freital, ohne jede Verwechslung

  1. Anonymous schreibt:

    Danke für den – wie immer faszinierenden Blick auf Deine Umgebung – und auf die deutsche Version des Lumberjack Songs. Tiefe Verneigung!

    Ciao, Fred

  2. Anke schreibt:

    Im Tharandter Wald bist du nicht an der Gedenktafel für die „erschlagene Frau“ vorbeigekommen? Ich lese jetzt im Internet https://www.dresden-elbland.de/de/poi/denkmal/gedenkstein-erschlagene-frau/36508460/, dass es um einen Blitzschlag ging. Als ich vor einigen Jahren dort wanderte, war das nicht mehr gut zu lesen und es war so schön mysteriös. Man konnte sich alles Mögliche dazu ausdenken.

  3. Anonymous schreibt:

    Kann es einen besseren Grund für eine Wanderung geben? Wie immer: Hochinteressant und herrlich ab-wegig, – die Welt sollte dringend mehr auf dich hören!

    • Andreas Moser schreibt:

      Seither habe ich Freiberg und Freital tatsächlich nicht mehr verwechselt!

      Wo ich immer noch Probleme habe, ist mit diesen ganzen Assyrern und Babyloniern und Uruk und Ur und so.
      Da muss ich wohl auch einmal hin…

  4. danysobeida schreibt:

    El viejo caminante tiene un agudo sentido de la belleza natural, varias de las fotos son muy hermosas! Y acerca de tu relato ya te ha echado flores no quiero sonar reiterativa.

  5. Andreas Moser schreibt:

    Oje, ich habe gerade Zwickau und Zittau verwechselt. :/

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