Dass der Bundestag manchmal Gesetze verabschiedet, die über seine Legislaturperiode hinaus wirken, kann man demokratietheoretisch wunderbar diskutieren, lässt sich aber kaum vermeiden, wenn man nicht nach jeder Wahl bei Null anfangen möchte. (Obwohl sich die These von der Stunde Null in Deutschland eigentlich historischer Beliebtheit erfreut.) Aber das Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle (kurz: Standortauswahlgesetz – StandAG) von 2017 setzt neue Maßstäbe für langfristiges (Wunsch-)Denken.
Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 StandAG soll das deutsche Endlager die „bestmögliche Sicherheit für den dauerhaften Schutz von Mensch und Umwelt […] für einen Zeitraum von einer Million Jahren“ gewährleisten.
Wenn Leute Planungen für die Zukunft, z.B. für ihre Rente in 30 Jahren machen, frage ich sie immer, ob sie, wenn sie vor 30 Jahren das Heute vorhergesagt hätten, irgendetwas richtig getroffen hätten. Die meisten wären vollkommen daneben gelegen. (Wer nie von seinem 30-Jahresplan abweicht, muss einen langweiligen Beamtenjob, eine langweilige Ehe und ein kleinbürgerliches Leben haben.)
Auf die eine Million Jahre angewendet, in denen die Auswahlkommission denken muss, bringt dieses Gedankenexperiment gar nichts. Denn niemand kann sich vorstellen, was vor einer Million Jahren war. Zur Erinnerung: Vor etwa 300.000 Jahren entwickelte sich der Homo Sapiens in Afrika, und erst seit etwa 45.000 Jahren wurde Europa besiedelt. (Ja, wir sind alle Nachfahren von Migranten.)
Vor diesem Hintergrund auf eine Million Jahre planen zu wollen, erscheint mir wie ein vollkommen verzweifelter Versuch, den ionisierenden Geist wieder in die Castorflasche zurückzustopfen.
Wegen der Unbegreifbarkeit dieses Zeitraums hat der Bundestag noch einen wesentlichen näheren Termin in § 1 Abs. 4 Satz 2 StandAG aufgenommen: Bis 500 Jahre nach dem geplanten Verschluss soll die Möglichkeit vorbehalten werden, den Atommüll wieder zu bergen. Erst danach soll der Schlüssel endgültig weggeworfen werden.
Das ist auch ziemlich lange, aber immerhin lässt sich hier das Gedankenexperiment anwenden, das ich oben skizziert habe. Im Jahr 2020 bis zum Jahr 2520 zu planen ist genauso, wie wenn im Jahr 1520 jemand für heute geplant hätte.
Wenn ich mich richtig erinnere, wurden damals Karl V. zum Kaiser des Heiligen Römischen und Süleyman der Prächtige zum Sultan des Osmanischen Reichs gekrönt, Magellan segelte in 80 Tagen um die Welt, und Luther war fleißig am Bloggen.

Wenn damals jemand ein hochgiftiges Problem mit dem Zeithorizont von einer Million Jahren hätte lösen sollen, glaubt Ihr, das wäre heute noch sicher? Nein, selbst die angeblich einbruchsicheren Pyramiden wurden geknackt! Ganz zu schweigen davon, dass keines der damals bestehenden Reiche noch besteht (nicht einmal das tausendjährige), dass Dokumente untergegangen, verbrannt oder verschollen sind, dass Kriege und Seuchen dazwischengefunkt haben. Ich wage deshalb ganz keck eine Vorhersage: Das deutsche Standortauswahlgesetz wird in 500 Jahren niemanden interessieren. Falls überhaupt noch Menschen leben werden, die es interessieren könnte.
Jetzt wird jemand einwenden, dass wir mittlerweile viel entwickelter sind, dass wir heutzutage wissenschaftlich denken, und so weiter. Nur, das dachten die Wissenschaftler 1520 auch. Und hört Euch doch mal an, was ein Atomnobelpreisträger noch 1955 zur Endlagerfrage sagte. Diese schockierende Naivität liegt nur 65 Jahre zurück, und auch seither mangelt es nicht an Beispielen für atomare Hybris.
Oh, wo wir gerade bei langfristiger Planung sind: Das letzte Standortauswahlgesetz stammte übrigens von 2013. Auch das war für die Ewigkeit gedacht. Es blieb vier Jahre in Kraft.
Eine wesentliche Neuerung ist, dass jetzt auch Granit für das atomare Endlager in Betracht kommt. Damit würden sich die hässlichen Stein- und Schottergärten eigentlich anbieten.
Links:
- Mehr über Atomkraft bzw. über Technik im allgemeinen.
- Mehr juristische Spitzfindigkeiten.
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Ihrem ingeniösen Intellekt zu lauschen ist JEDES MAL (!) eine wahre Wonne. Ich ziehe meine Basketballcap vor Ihnen. Danke.
Oh, vielen Dank!
Ich ziehe dafür meinen schicken Hut, den ich jetzt im Herbst wieder öfter gegen den Regen tragen werde: https://andreas-moser.blog/2018/10/12/venta-micena-tag-19-30/
Sehr anschaulich, die Reise in die Vergangenheit. Mein Sohn, jetzt 11, fragte mich, ob es noch Dinos gegeben hätte, als ich so alt war wie er. Ich wollte das nicht ausschließen. Nur hatten die Dinos 1972 glasbausteindicke Brillen, rauchten Kette und bauten Atomkraftwerke.
Hoho, das mit den Dinos ist schon hart!
Ich überlege mir auch schon, ob ich im Gespräch mit jungen Menschen manchmal Sätze einfließen lassen soll, die mit „Damals im Krieg …“ beginnen.
Wobei „Vor dem Internet …“ für viele wahrscheinlich noch weiter zurück klingt.