Hiiumaa, die Insel der Abenteuer

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Ich war schon auf vielen Inseln, manche davon so weit entfernt wie Australien oder wie die Osterinsel. Nachdem die Reisen dorthin eine Menge Geld kosteten und eine Menge Luft verpesteten, stellte sich irgendwann die Frage, ob es das überhaupt wert ist. Und als Europäer bin ich geneigt, zu sagen: Eher nicht. Denn um unseren eigenen Kontinent herum liegen Tausende von Inseln, die wir leichter und günstiger erreichen können, und die auch nicht weniger interessant sind.

Leider kennen die meisten Europäer Inseln wie Sark oder Caprera nicht einmal. Und deswegen gehen sie jahrelang in ein langweiliges Büro, um sich einmal eine Reise auf die Galapagos-Inseln zu leisten, obwohl sie einfach aus der Wohnungstür treten und nach Hiiumaa trampen könnten.

Hiiumaa?

Seht, auch Ihr habt noch nie von der zweitgrößten Insel Estlands gehört!

Aber ich will ehrlich sein: Bis ich 2012 im Baltikum lebte, hatte ich auch noch keine Ahnung davon. Rasmus, ein junger Mann aus Estland, wollte seine Großtante auf der Insel Hiiumaa besuchen. Er fragte herum, ob jemand Lust hätte, für ein Wochenende mitzukommen. Wie das so ist bei Ausflügen auf unbekannte Inseln in den kälteren Breitengraden während der kälteren Jahreszeit (es war Ende Oktober), gab es nur wenige Interessenten. Ich war der eine. Der andere war Rolando aus Costa Rica, der ganz sicher ein Spion war, weil er Estnisch sprach. „Was gibt es auf so einer Insel zu spionieren?“ fragt Ihr Euch, aber Ihr werdet überrascht sein.

Die beiden Jungs fuhren mit der Fähre. Ich war damals noch nicht so ein Öko wie jetzt und hatte einen Flug von Tallinn nach Hiiumaa für weniger als 20 Euro gefunden. Aber just am Tag des Fluges kam der Wintereinbruch. Ein richtiger Schneesturm, der einfach nicht nachlassen wollte. Auf keinen Fall könnte das Flugzeug bei so einem Wetter abheben. „Das war’s dann mit der Reise“, dachte ich enttäuscht.

Aber ich war in Estland, und der Flughafen war bestens vorbereitet. Vor dem startenden Flugzeug fuhr einfach ein Schneepflug und räumte die Startbahn frei.

Als wir, schon im Dunkeln, auf das Rollfeld gingen, erfror ich fast und wurde gleichzeitg fast vom Wind hinweggefegt. Es war ein kleines Flugzeug, für 17 Passagiere. Ich war anscheinend der einzige Ausländer, so dass die Stewardess nach jeder Durchsage zu meinem Sitz kam und für mich persönlich übersetzte. Das Flugzeug wackelte und wankte und sprang durch die Luft. Ich musste mich mit beiden Händen am Sitz vor mir festhalten. Normalerweise blicke ich in solchen Situationen auf die anderen Passagiere und denke mir: „Die fliegen diese Route öfter als ich, und sie sind vollkommen ruhig. Also ist das nichts Ungewöhnliches.“ An diesem Tag sahen die estnischen Passagiere aber genauso verängstigt aus.

Aber wir kamen an.

Der Flughafen auf Hiiumaa bestand aus nur einem Gebäude, in dem die Familie, die den Flughafen betrieb, anscheinend auch wohnte. Denn als ich mein Gepäck abholte, kam es mir vor, wie wenn ich durch ihr Wohnzimmer lief. Sie hatten eine schöne Katze, die herumstreunte, dick und orange, wie Garfield. Vor dem Flughafen wartete ein Bus, und der Fahrer brachte jeden genau dorthin, wo man hinwollte.

Rasmus‘ Großtante hatte nicht genug Platz für all die Besucher, also hatte ich woanders ein Zimmer gebucht. Eine Familie in Kärdla, was man als die Hauptstadt der Insel bezeichnen könnte, obwohl diese Bezeichnung den Ort größer erscheinen lässt als er ist, hatte ein zweites Gebäude neben ihrem Haus und zeigte mir mein Bett im Obergeschoss. Als ich nach dem Schlüssel fragte, sagten sie: „Du brauchst keinen Schlüssel. Wir schließen die Häuser hier nicht ab.“ Dafür liebe ich Inseln.

Früh am nächsten Morgen traf ich Rasmus und Rolando.

„Wie war der Flug?“ fragte Rasmus.

Ich erzählte es ihm, vor allem, dass alle anderen genauso angsterfüllt ausgesehen hatten wie ich.

„Natürlich hatten sie Angst. Denn sie erinnern sich noch an letztes Jahr, als der Flug in der ersten Nacht des Schneefalls abstürzte.“

Dankenswerterweise hatte die dolmetschende Stewardess diese Information für sich behalten. Und zum Glück hatte ich für die Rückfahrt schon vereinbart, dass ich zusammen mit Rasmus und Rolando das Auto und die Fähre nehmen würde. Nur keine Flüge mehr.

Über die Flugzeugabstürze hinaus schien es auf Hiiumaa eine Vielzahl an mysteriösen Todesfällen zu geben, denn in jedem Wald waren Friedhöfe, weit von der Straße weg und gut versteckt. Rasmus, der seine Kindheit auf der Insel verbracht hatte, fand den Weg anhand bestimmter Bäume, die für mich aussahen wie all die anderen Millionen Bäume.

Damals fiel es mir nicht auf, aber eines der Kreuze markierte das Grab für einen ähnlichen Ausflug nach Hiiumaa zwei Jahre zuvor. Hätte ich es bemerkt, so hätte ich eine Menge Fragen gehabt. Und ich wäre vorsichtiger gewesen.

Während der Sowjetunion war Hiiumaa militärisches Sperrgebiet. Ausländer und sogar die meisten sowjetischen oder estnischen Bürger durften also nicht auf die Insel. Diejenigen, die schon auf der Insel lebten, konnten jedoch dort wohnen bleiben. Zumindest theoretisch, denn praktisch wurden viele Esten nach Sibirien deportiert.

Es gab noch genug Anzeichen aus der sowjetischen Zeit.

Wie bei den meisten Häusern auf der Insel standen auch bei den Bunkern die Türen offen, was wir als herzliche Einladung interpretierten. Rasmus, ein Organisationstalent, hatte uns aufgetragen, Taschenlampen mitzubringen.

Mir gelangen keine guten Fotos da unten, aber in manchen Bunkern stiegen wir bis zu vier Stockwerke hinab, zwängten uns durch schmale Öffnungen im Beton und klettertern rostige Leitern hinab. „Vorsicht, dass Ihr Euch keinen Nagel einreißt. Sonst könnt Ihr Tetanus bekommen“, warnte uns Rasmus, und ich fragte mich: „Besteht nicht viel mehr Gefahr, dass wir uns verlaufen? Oder dass wir steckenbleiben? Oder dass die Decke herunterfällt? Oder dass wir ersticken?“ Ich hatte keine Ahnung, dass dies alles nichts war im Vergleich zu den Situationen, in die wir uns später begeben würden.

Aber zuerst ein paar Leuchttürme.

Bei denen stand die Tür leider nicht offen.

Ebensowenig beim Militärmuseum. Aber Rasmus kannte den zuständigen Herrn und holte den Schlüssel bei ihm zuhause ab. Wir führten uns selbst durchs Museum und hinterließen ein paar Münzen auf dem Tresen. Wie fast jeder Ort in Europa war Hiiumaa zweimal von der deutschen Armee besetzt worden, einmal im Ersten Weltkrieg und einmal im Zweiten Weltkrieg. Und wie jeder dieser unglücklich zwischen Deutschland und der Sowjetunion gelegenen Landstriche war es während des Zweiten Weltkrieg immer wieder Kriegsschauplatz. Weil die zweite der sowjetischen Besatzungen viel länger dauerte und noch im aktuellen Gedächtnis war, hatte ich den Eindruck, dass die Zeit der Besatzung durch die Nazis (und insbesondere die estnische Kollaboration beim Holocaust) manchmal etwas zu bereitwillig übersehen wurde.

Aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist das Meer rund um die Insel noch voller versunkener Schiffe, U-Boote und wahrscheinlich auch Schätze, aber es sind die Geister eines jüngeren Seeunglücks, die noch am Strand spuken. 1994 sank die Fähre MS Estonia nordwestlich von Hiiumaa, und 852 Menschen starben. „Für einige Jahre nach dem Unfall kam es immer wieder vor, dass Leichen an Land gespült wurden“, erinnerte sich Rasmus. In der Richtung des maritimen Massengrabes steht eine einfache Gedenkstätte.

Am Abend gingen Rasmus und Rolando in die Sauna, was ich, nachdem sie mir das Konzept erklärt hatten, für eine eher zweifelhafte Art der Freizeitgestaltung hielt. Also ging ich allein und durch die kalte Nacht zu meiner Unterkunft, geführt vom leuchtenden Vollmond, was andere Menschen für eine eher zweifelhafte Art der Freizeitgestaltung halten mögen.

Es passiert mir selten, aber an jenem Abend war mir der Lesestoff ausgegangen. Als ich wach lag und nichts zu tun hatte, schrieb ich meine erste Geschichte mit einem etwas kreativen Anspruch. Und so erfuhr ich, dass ein abgeschiedener Ort, kaltes Klima und Mangel an Ablenkung wichtige Faktoren beim Schreiben sind, eine Lektion, die ich seither viel zu selten angewendet habe.

Nachdem wir am Tag vorher im Untergrund gewesen waren, wollten die zwei jungen, energiegeladenen Herren irgendwelche Türme besteigen. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich Höhenangst habe. Auf der Insel muss jemand eine Menge Zeit (und Holz) gehabt haben, denn er hatte eine Replik des Eiffelturms gebaut. Er war nicht zuhause, aber am Eingang stand ein Glas, in das wir jeweils einen Euro warfen.

Sieht ein bisschen wackelig aus, oder? Und dazu blies ein heftiger Wind. Aber dann dachte ich mir, dass diese Konstruktion hunderte, wenn nicht tausende von Kilos wiegen müsse, und dass drei schlanke Jungs wohl kaum einen Unterschied ausmachten.

Je höher wir kletterten, umso mehr dämmerte mir, dass der kreative Holzfäller nicht nur den Eiffelturm, sondern ein ganzes Disneyland aus Holz nachbaute.

Ich wollte schon zu einer Tirade gegen den Raubbau an den Wäldern ansetzen, bis ich, endlich ganz oben, sah, dass ich mir diesbezüglich keine Sorgen zu machen brauchte. Da standen noch genügend Bäume.

Dieser Turm war weder der letzte, den wir bestiegen, noch der furchteinflössendste.

Nein, der war ganz in Ordnung.

Aber der nächste, der Betonturm, der hatte sein Mindesthaltbarkeitsdatum weit überschritten und stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Große Teile der inneren Treppe fehlten, und wir mussten über Abgründe springen oder mit Hilfe von herumliegenden Brettern auf die nächste Stufe gelangen. Dann mussten wir durch ein Fenster ins Freie kriechen, außen von einer Holzplanke zur nächsten hüpfen, um schließlich an einer rostigen Metallleiter nach oben zu klettern, wo wir vom „Balkon“ die Aussicht genossen.

Ich kann immer noch nicht fassen, wie ich da hoch gekommen bin. Aber wenn ich jetzt, acht Jahre später, diese Fotos sehe, kann ich wenigstens sagen, dass ich erwachsener und vorsichtiger geworden bin.

Eigentlich lernte ich diese Lektion ziemlich schnell, denn schon beim nächsten Turm, am Meer, weigerte ich mich, bis ganz nach oben zu klettern. Der sah wirklich zu fragil aus.

Und der Ausblick aus dem Bunker war schön genug.

Wo wir schon beim Meer sind, kann ich Euch ganz unerwartet mit etwas Geschichte erschrecken. Wenn man den Eisernen Vorhang erwähnt, denken Leute immer an die Berliner Mauer. Aber auch hier verlief der Eiserne Vorhang, durch die Ostsee.

Und das ist ein Grund, weshalb die ganze Insel durchzogen ist von Schützengräben, Bunkern, Aussichts- und Wachtürmen und Kasernen, die jetzt alle leer stehen.

Ebenso findet man Überbleibsel von Dörfern, aber auch ohne Volkszählung hatte ich das Gefühl, dass die Bevölkerung eher im Schrumpfen begriffen war.

Einige der Kirchen waren aber ganz gut erhalten.

Na gut, das letzte Foto zeigt keine Kirche, aber dieses nützliche Gebäude war auf einem Friedhof neben der Kirche untergebracht.

Seit dem letzten Besuch von Rasmus hatte auch die Tankstelle geschlossen.

Aber, wie bei allen anderen Einrichtungen auf der Insel, bedeutete das nur, dass wir in einem Glas neben der Zapfsäule etwas Geld hinterließen. Und schon konnten wir weiterdüsen, auf die Fähre zum Festland, in Gedanken bei der MS Estonia.

„Wenn Ihr in ein paar Monaten wieder kommt, können wir das Geld für die Fähre sparen“, sagte Rasmus zur Verwirrung seiner Freunde aus wärmeren Klimazonen. Im Winter gefriert das Meer, und die Fähren werden nutzlos. Die 26 km zwischen Hiiumaa und Estland bilden dann die längste Eisstraße in Europa.

„Wenn man ein bisschen vorsichtig ist, sollte nichts passieren“, erklärte Rasmus. „Radio abschalten, nicht anschnallen, Rucksack auf dem Schoß und die Fenster offen. Man hört auf das Eis, und wenn man ein Knacken hört oder das Gefühl hat, dass man einsinkt, schnappt man sich seine Tasche und rennt vom Auto weg.“

„Passiert es wirklich, dass Autos versinken?“ fragte ich ungläubig.

„Ja, klar“, sagte Rasmus, wie wenn er über eine nebensächliche Unannehmlichkeit spräche.

„Und was dann?“

„Dann meldest du den Verlust bei der Versicherung.“

Zurück auf dem Festland tobte noch immer der Schneesturm.

Aber unser Gastgeber hatte noch eine letzte Idee während des Wegs nach Hause: „In Haapsalu war eine sowjetische Luftwaffenbasis, die wurde genauso verlassen wie alles, was Ihr auf Hiiumaa gesehen habt. Ich will nur mal nachsehen, ob das Tor offen ist.“

Natürlich war es offen, und im Schutz der Dunkelheit und des dichten Schneetreibens nutzte Rasmus das Rollfeld, um Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit seines Autos auszutesten. Auf dem Glatteis. Es war unmöglich, weiter als ein paar Meter durch den Vorhang aus Schneeflocken zu sehen, aber ich glaube, es ging so bis 180 km/h.

„Keine Sorge, Jungs“, sagte er, „ich weiß, dass die Startbahn genau 2500 Meter lang ist, und ich habe ein Auge auf den Kilometerzähler.“ Es funktionierte, aber es war knapp.

Wir fuhren noch ein paar Runden, eine mit ausgeschalteten Scheinwerfern, und Rasmus erklärte, was jedem sowieso schon aufgefallen war:

„Eigentlich wollte ich immer Rennfahrer werden.“

„Und was arbeitest du stattdessen?“ fragte ich den turmbesteigenden, tunnelerforschenden, autorennfahrenden, eisbrechenden, todesmutigen und risikobereiten jungen Mann und erwartete, dass er Stuntman oder Kampftaucher bei den Spezialkräften war.

„Ich arbeite bei einer Bank, ich bin da zuständig für die Einschätzung von Risiken.“

Da fühlte ich mich nachträglich gleich viel sicherer.

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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3 Antworten zu Hiiumaa, die Insel der Abenteuer

  1. rano64 schreibt:

    Hiiumaa? Interessant, da war ich noch nicht. Allerdings schon in Estland, aber nicht in Tallin. Europa ist toll zum Reisen und Wandern und ich hoffe sehr, dass ich in naher Zukunft der Knechtschaft der Lohnarbeit entkommen kann. Immerhin haben wir jetzt 50% „mobiles Arbeiten“ und das eröffnet zusätzliche Möglichkeiten. Zuletzt war ich eine Woche in Bayern. Tagsüber arbeiten und danach die Gegend erkunden. Mit VW Bus und Rad auf dem Heck geht das ganz gut.

    • Andreas Moser schreibt:

      Das ist wirklich toll, wenn man sich das Leben so einrichten kann! Und im Baltikum hast du auf jeden Fall besseres Internet als an vielen Orten in Bayern. 😉

  2. Pingback: Vor hundert Jahren bewahrte der Alkohol den Weltfrieden – Juni 1921: Åland | Der reisende Reporter

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