Vor hundert Jahren bewahrte der Alkohol den Weltfrieden – Juni 1921: Åland

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Wo einst Hannibal mit seinem Elefanten Gassi ging, verlaufen heute die Autobahnen nach Italien.

Wo die Römer nicht mehr expandieren wollten und eine Mauer zu den Nachbarn hochzogen, streiten sich heute Schotten und Engländer oder Flamen und Wallonen genau entlang dieser willkürlichen Linien.

Der Westfälische Friede, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, legte – unter anderem – die noch heute gültige Grenzziehung zwischen Aldi Nord und Aldi Süd fest.

Der Zweite Weltkrieg führte zur Teilung Deutschlands und Europas. Teilungen, die trotz ihrer Überwindung noch immer nachwirken.

Geschichte ist für mich dort am interessantesten, wo sie ins Hier und Jetzt wirkt. Und deshalb werfe ich in dieser kleinen Reihe „Vor hundert Jahren …“ gerne den Blick auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Denn, so wichtig die oben erwähnten Ereignisse alle waren: Die Landkarte Europas und des Nahen Ostens, wie wir sie heute kennen, wurde maßgeblich nach dem Ersten Weltkrieg gezeichnet. Ein paar Staaten, die in jener Zeit entstanden: Irland, Estland, Lettland, Litauen, Jugoslawien, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Syrien, Irak, Jordanien und – entscheidend für diese Episode – Finnland.

Das ist alles zu viel für einen kleinen Blog, also konzentrieren wir uns – wie so oft -auf einen Nebenschauplatz: Über Jahrhunderte hatten Wikinger, Schweden, Finnen, Dänen, Russen, Franzosen und Deutsche um die Åland-Inseln gestritten. Die liegen zwischen Schweden und Finnland, und wenn Ihr noch nie davon gehört habt, ist das in Ordnung. Den Blick auf die übersehenen Kapitel der Weltgeschichte zu werfen, ist schließlich das Ziel dieser Reihe.

Warum man um ein paar kleine Inselchen mit Kiefern und Elchen Kriege führen muss, weiß ich nicht. Schließlich war der Tourismus damals noch nicht erfunden, die 6757 felsigen Inseln mithin nutzlos.

Die Ausgangslage im Ersten Weltkrieg war, dass die Åland-Inseln – wie ganz Finnland – zu Russland gehörten. Am 6. Dezember 1917 waren die Finnen dermaßen enttäuscht, nichts in ihren Nikolausstiefeln vorzufinden, dass sie die Unabhängigkeit erklärten. (Dabei handelte es sich um ein Missverständnis aufgrund des in Russland verwendeten julianischen Kalenders, der zwei Wochen nachgeht.)

Aber Finnland ist Finnland und kann nicht einfach friedlich unabhängig werden. Nein, es brauchte 1918 einen komplizierten Bürgerkrieg, über den Ihr nachlesen könnt, wenn Ihr ähnliches Kopfweh bekommen wollt wie vom Verzehr eines Hektoliters Finnland-Wodka in einer finnischen Sauna, in der Euch der finnische Bademeister mit finnischem Birkenreisig verprügelt, während er finnischen Heavy Metal grölt.

Das Tohuwabohu – übrigens ein finnisches Wort, wie Ihr unschwer erkennen könnt – schwappte auf die Åland-Inseln über, und mit ihm die verschiedenen Bürgerkriegsparteien. Aber die größte Gefahr kam aus Schweden, das nach der positiven Erfahrung im Dreißigjährigen Krieg keinesfalls wollte, dass der Erste Weltkrieg nach nur vier mickrigen Jahren schon wieder vorbei war. Am 20. Februar 1918 besetzten schwedische Kriegsschiffe die Åland-Inseln, angeblich zum Schutz der dortigen Bevölkerung, die angeblich Schwedisch sprach. Da nie jemand die Inseln besuchte, konnte das nicht unabhängig überprüft werden.

Finnland bzw. eine der Bürgerkriegsparteien hatte sich gefragt „Wer ist noch schärfer auf Krieg als die Schweden?“ und bat die Deutschen um Hilfe. Deutschland, das 1918 mit dem Weltkrieg auch nicht so ganz ausgelastet war, sagte sofort zu. Schon am 5. März 1918 landeten deutsche Truppen auf Åland und vertrieben die Schweden.

Aber – so ist das, wenn man die Deutschen einlädt – die Inseln waren den Germanen zu klein und zu wenig. Sie besetzten lieber gleich ganz Finnland und wollten Prinz Friedrich Karl von Hessen-Kassel-Rumpenheim als finnischen König installieren. Der schaffte es allerdings bis Ende 1918 nicht, den finnischen Amtseid auswendig zu lernen (es ist auch eine schwere Sprache, zugegeben) und verzichtete am 14. Dezember 1918 schließlich entnervt auf den Thron. So wurden die Finnen eine Republik und leben glücklich bis heute und in alle Zeiten.

Nach der Revolution in Deutschland im November 1918 zogen die deutschen Truppen aus Finnland und von den Åland-Inseln ab.

Ihr ahnt schon, was jetzt kam. Genau: die Schweden. Sie gaben einfach nicht auf. Schweden unterstützte Separatisten auf Åland, überschwemmte Finnland mit beim ersten Rausch zusammenbrechenden Sperrholzmöbeln und versuchte 1919, bei der Friedenskonferenz von Versailles die Åland-Inseln zugesprochen zu bekommen. Ohne Erfolg. Schweden rüstete auf und war bereit, zum Äußersten zu gehen.

Der atomare Inselkrieg wurde in letzter Minute verhindert durch eine erst im Jahr zuvor gegründete und segensreiche Institution: den Völkerbund, so etwas wie der Vorläufer der UNO. Der entschied am 24. Juni 1921 – und damit sind wir endlich beim hundertjährigen Jubiläum -, dass die Åland-Inseln bei Finnland verbleiben, aber wegen der ganz überwiegend schwedischsprachigen Bevölkerung einen Autonomie- und Sonderstatus erhalten sollen. Seither ist Åland zwar irgendwie Teil Finnlands, aber mit Schwedisch als einziger Amtssprache, mit eigenem Parlament und eigenen Briefmarken, ohne finnische Militärpräsenz, mit eingeschränkten Rechten für nicht aus Åland stammende finnische Staatsbürger (z.B. beim Grunderwerb oder der Unternehmensgründung) und Steuerfreiheit für Alkohol.

Der letzte Punkt war der eigentliche Grund, warum Finnland die einschneidenden Bedingungen des Völkerbundes akzeptierte. Zwar hat Finnland praktisch die Kontrolle über die Inseln aufgegeben, aber dafür können auch Finnen auf der Fahrt mit der Fähre nach Åland steuerfrei trinken. Bei 6757 Inseln kann man den ganzen Urlaub so verbringen.

Womit bewiesen ist: Alkohol ist gut für die Diplomatie. – Kein Wunder, dass gerade die Antialkoholiker wie Saudi-Arabien und Iran immer wieder Ärger auf der Weltbühne bereiten.


Die Åland-Folge sollte eigentlich eine Episode der Reihe „Vor hundert Jahren …“ sein, die ich mit einer Reise verknüpfe. Aber nach aktueller Planung werde ich erst im Herbst in Stockholm weilen. Ab Oktober hätte ich dann Zeit, diese autonomen Inseln zu erkunden. Also, falls jemand von dort mitliest, gebt Bescheid! Gerne würde ich meinen Bericht über die Åland-Inseln auf fundiertere Füße stellen. Und dazu nimmt Euer reisender Reporter sogar die beschwerlichsten Reisen auf sich.

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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14 Antworten zu Vor hundert Jahren bewahrte der Alkohol den Weltfrieden – Juni 1921: Åland

  1. Kasia schreibt:

    Von den Åland-Inseln habe ich tatsächlich noch nie etwas gehört. Umso schöner, dass du die Bildungslücke auf deine übliche, unterhaltsame Weise geschlossen hast 🙂 Sollte es mal wieder möglich sein, kreuz und quer durch die Welt zu hüpfen wie vor dem Ausbruch der Pandemie, so ist es aufgrund der kuriosen Zugehörigkeiten und Regelungen ein überaus spannendes Reiseziel. In diesem Sinne – Prost, und Frieden mit dir…

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich bin zur Zeit zum Katzensitting in einem alkoholfreien Haushalt (vielleicht habe ich deshalb dieses Thema für Juni 1921 gewählt), aber ab Freitag kann ich wieder zurückprosten!

      Ganz ehrlich: Ich hatte bis heute auch keine wirkliche Ahnung, wo die Åland-Inseln liegen – außer irgendwo in Skandinavien, wegen des lustigen Å.

      Im August 1921 geht es dann zu noch exotischeren Reisezielen: der Baranya-Baja-Republik und der Volksrepublik Tannu-Tuwa.
      Ich habe irgendwie ein Faible für solche kleinen, unbekannten und kurzlebigen Staaten.

    • Kasia schreibt:

      Oh, dann viel Spaß beim Katzensitten!
      Wie kommst du dann immer auf so obskure Ziele, die kaum jemand kennt? Recherchierst du gezielt danach oder „stolperst“ du einfach mal drüber? 😉

    • Andreas Moser schreibt:

      Einfach viel lesen, kreuz und quer und ziellos. Und wenn ich über ein Land stolpere, von dem ich noch nie gehört habe, dann weckt es mein Interesse. Und dann muss ich hin (falls es noch besteht) oder ich will es zu einem Artikel verwurschteln (wenn es nicht mehr besteht). Oder beides kombiniert.

      Ich glaube, meine Vorliebe für kleine Länder (wie für Inseln) rührt aus einem gewissen Vollständigkeitsanspruch.
      Auf Sark zB kann man hinfahren, zwei Tage herumwandern, und man weiß, dass man eigentlich alles gesehen hat. (Bis auf die Insel Brecqhou, wo die Barclay-Brüder keinen Besuch wünschen.)
      Und wenn Staaten schon untergegangen sind, wie die Baranya-Baja-Republik und die Volksrepublik Tannu-Tuwa, dann ist die Geschichte naturgemäß vollständig abgeschlossen.
      Und das finde ich befriedigender als zB nach Indien zu fahren und zu merken, dass man gerade mal 0,0005% gesehen und verstanden hat.

    • Kasia schreibt:

      So gesehen kann ich die Vorliebe schon verstehen. Mich reizen auch Länder, über die ich so gut wie nichts weiß, und die Geschichten darüber mehr als kurios sind. Kleine Länder sind auch schneller erkundet. Aber mit der Unvollständigkeit eines, sagen wir, Indien- oder Russlandsbesuches habe ich mich bereits abgefunden. Dann wird das Land eben zweimal besucht. Oder dreimal. Oder… ja.

  2. sinnlosreisen schreibt:

    Herrlich! Ich mag deinen feinen Humor.
    Freue mich schon auf den nächsten Beitrag zur Erleuchtung der Weltgeschichte.

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank!
      Mal sehen, was die Ålander zu dem Artikel sagen, wenn sie ihn finden. Falls da überhaupt Menschen leben. Und falls die schon Internet haben. 🙂

      Nächsten Monat geht es um das Sprachengewirr in Belgien. Und, wenn noch Zeit für kleinere Nebenfolgen bleibt, um die NSDAP und die Kommunistische Partei Chinas.

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