Da dies kein reiner Geschichts-, sondern auch ein Reiseblog ist, war die Idee bei der Etablierung der Reihe „Vor hundert Jahren …“, diese beiden Aspekte zu verbinden. So wollte ich unter dem Vorwand, Euch dringend informieren und unterhalten zu müssen, eigentlich nach Rijeka, ins Bermuda-Dreieck, nach Indien, in die Mongolei, nach Oklahoma, auf die Åland-Inseln und nach Tannu-Tuwa reisen. Alles für Eure Bildung, versteht sich!
Aber dann kam – eigentlich passend zum Jubiläum der Spanischen Grippe – eine kleine Pandemie dazwischen, was mein Weltreisen ziemlich eingeschränkt hat. Wie wenn ich es jedoch geahnt hätte, hatte ich mir beizeiten einen Fundus an Reiseerfahrungen zurechtgelegt, aus dem ich mich jetzt bedienen kann. So zum Beispiel diesen Monat, den ich mit auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Flandern höchstselbstgemachten Fotos illustrieren kann. Dabei ist – weil ich wieder mal nicht rechtzeitig fertig geworden bin – diese ungewöhnlich, ja fast schon auf frivole Weise knappe Episode nur ein Vorgeschmack auf den, so sei es hiermit feierlich zugesichert, demnächst erscheinenden Reisebericht aus Ypern.
Aber heute geht es um Blumen.
Um Mohnblumen.
Wer schon einmal im November in Großbritannien war, dem wird aufgefallen sein, dass plötzlich überall klatschrote Mohnblumen auftauchen. In der U-Bahn, im Parlament, bei den Abendnachrichten im Fernsehen. Und wer sich ohne Mohnblume am Revers auf die Straße traut, wird von Soldaten angehalten, die einen zum patriotischen Tragen einer Mohnblume auffordern. Weil Soldaten gut organisiert sind, haben sie auch immer eine Extramohnblume dabei, die sie für einen kleinen Obolus gerne abgeben. Wenn man alt ist und sich nicht wehren kann, ist es durchaus möglich, dass man mit bis zu fünf von den Ansteckpflanzen nach Hause kommt, obwohl man nur kurz den Hund ausführen wollte.

Höhepunkt dieser Blumenpflückerei ist um den 11. November, den Jahrestag des Waffenstillstands, der 1918 die Kampfhandlungen beendete. Aber das wusste ich anfangs nicht, weshalb ich mir kein „poppy“, wie das auf Englisch heißt, anstecken ließ. Ich bin von Natur aus skeptisch, wenn alle das Gleiche machen. Und noch skeptischer gegenüber demonstrativ zur Schau gestelltem Patriotismus. Also gab ich mein Geld lieber den Obdachlosen, die – passend wie die Faust aufs patriotische Auge – oft Kriegsveteranen waren. Anscheinend Kollegen des Herrn Lawrence von Arabien, weil sie vom Irak und Wüstenkrieg und so erzählten.
Aber nicht nur in Großbritannien, sondern auch in vielen Mitgliedsländern der Commonwealth-Familie wird dieser Brauch allnovemberlich begangen. Diese Staaten waren 1914 nämlich noch zu jung und unerfahren und wurden von König George V. zum Eintritt in den Weltkrieg „überredet“. Aber gut, Großbritannien kann ja auch nicht immer alles alleine machen. Außer beim Brexit natürlich, aber das ist ein anderes Thema.
Das Symbol der Mohnblume wurde schon während des Krieges durch ein Gedicht des kanadischen Militärarztes John McCrae, In Flanders Fields, berühmt. Im Mai 1915 begrub er einen Kameraden und Freund, der während der Zweiten Flandernschlacht bei Ypern gefallen war. Um das Grab sprossen sobald die blutroten Mohnblumen, und schwupp, war das Gedicht geboren, das zum populärsten englischsprachigen Gedicht des Ersten Weltkriegs werden sollte. In Kanada ist es so etwas wie ein Nationalgedicht.
In Flanders Fields, the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.We are the dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved and were loved, and now we lie,
In Flanders fields.Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields.
John McCrae selbst starb im Januar 1918. Aber nach dem Krieg hatten zwei Frauen, Moina Michael und Anne Guérin, die Idee, die im Gedicht genannten Mohnblumen als Symbol für die Erinnerung an die alliierten Kriegstoten zu nutzen. (Frauen hatten während des Ersten Weltkriegs ein bisschen Selbständigkeit und Freiräume erkämpft. Leider hielt das nur an, solange die Männer weg waren bzw. die Wirtschaft die Arbeitskraft der Frauen benötigte. Sobald die Männer zurückkamen, mussten die Frauen wieder an den Herd. Als kleine Entschädigung dafür gab es das Wahlrecht und – in Westdeutschland seit 1977 – das Recht, ohne Zustimmung des Ehemannes einen Arbeitsvertrag einzugehen. Juhu!)
Zu den Festivitäten im November 1921 wurden die Ansteckblumen zum ersten Mal massenweise produziert und von Veteranenverbänden verkauft. Die chinesischen Fabrikarbeiterinnen, die die Plastikblumen mittlerweile herstellen, denken wahrscheinlich, das sei für ein Neujahrsfest oder eine Geburtstagsparty. Diese Arbeitsteilung ist übrigens auch nichts Neues, wie ich im „In Flanders Fields Museum“ (benannt nach dem Gedicht) in Ypern erfahren habe.

Etwa 140.000 Chinesen dienten an der Westfront. Nicht als Soldaten, sondern als Arbeiter für die britischen und französischen Streitkräfte. Der Erste Weltkrieg war tatsächlich viel mehr Weltkrieg als man als Europäer so glaubt.
Aber das und vieles mehr erzähle ich dann im ausführlichen Bericht aus Ypern. Wie Ihr den Fotos schon entnommen habt, geht es dabei viel um Krieg und Tod und Gedenken. Aber auch um eine nach der vollkommenen Zerstörung wieder originalgetreu aufgebaute Stadt und um die Menschen, die jetzt in dieser Stadt leben.



Und um eine Horde sich am belgischen Bier berauschender Studenten der Fernuniversität in Hagen. Mit Ausnahme des einen, der sich verstohlen absonderte und einen geheimen unterirdischen NATO-Kommandobunker entdeckte.

Wenn Euch das alles interessiert, gebt mir noch ein oder zwei Wochen, Monate oder Jahre Zeit. Bald kommt aus dem Westen viel Neues!
Links:
- Alle Folgen aus der Reihe „Vor hundert Jahren …“.
- Mehr Geschichte.
- Mehr Berichte aus Belgien, diesem kleinen Land, das sich immer ins Zentrum der Weltgeschichte drängt.
Pingback: Vor hundert Jahren … | Der reisende Reporter
Herrlich, die Queen mit aufgeschwatzten Mohnblumen.
Vielleicht ist sie so überhaupt erst Queen geworden?
Man kennt das ja aus der Arbeit. Da ist eine Aufgabe, die niemand machen will, und wenn man nichtsahnend ins Konferenzzimmer stolpert, fällt allen plötzlich ein, dass man genau der perfekte Typ ist, um Sicherheitsbeauftragter für die rückwärtige Packstation zu werden.
Ja, möglicherweise. Ich kenne das. Abgesandter der Abteilung für das Büroplanungsteam ist auch so ein Job. Da kann man nur verlieren.
Wobei, in den Filmen sind die Leute mit so langweilig klingenden Jobbeschreibungen immer die Geheimagenten.
Pingback: One Hundred Years Ago, the Battlefields turned Red – November 1921: Poppies | The Happy Hermit
Bei dir findet man immer solche spannenden Sachen. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was es mit den Mohnblumen auf sich hat.
Blöde Frage: Waren das seit 1921 immer nur solche aus Plastik/Pappe oder kann man auch echte aus dem Gewächshaus kaufen?
Vielen Dank!
Ich wusste das auch lange nicht. Ist in unseren Breitengraden ja auch eher unüblich, überhaupt das ganze Kriegsgedenken. In Belgien ist es das andere Extrem, da kann man keinen Waldspaziergang machen, ohne auf ein paar Friedhöfe oder zumindest Denkmale zu stoßen.
Für mich am Interessantesten an der Exkursion nach Ypern war auch, herauszufinden, wie die örtliche Bevölkerung damit umgeht, praktisch auf einem Friedhof zu wohnen. Selbst hundert Jahre später finden die Bauern auf ihren Feldern noch immer Überreste, sowohl mechanische wie menschliche.
Es gibt auch Erinnerungs-Poppies aus Stoff. Und ich denke, es spricht nichts dagegen, echte Blumen zu nehmen. Die auf dem 7. Foto scheinen mir auch echt zu sein. (Wobei ich echt kein Experte im Unterscheiden von Plastik- und Echtblumen bin, wie ich beim Gießen schon manchmal gemerkt habe.)
Für Dezember 1921 werde ich mir ein Kanalbauprojekt vornehmen, wofür ich seit der Beschäftigung mit dem Kattara-Plan – https://andreas-moser.blog/2020/07/26/kattara/ – ein gewisses Faible entwickelt habe.
También creo que debes publicar.
Uff, toda esta expectación y presión!
¿Tus lectores han acordado presionarte? 🙂
Y después no van a comprar el libro.
Siempre es lo mismo.
Voy a ahorrar desde ahora, I promise … tu libro valdrá siete veces mas de lo que me costaría aquí un texto de un autor boliviano por el cambio del valor de la moneda.
Pero, viéndolo desde otra perspectiva, llevas mas de un libro publicado en tu blog. Creo que lo mejor es seguirte apoyando. A propósito de blog’s mira esto: https://lorenaciocale.com/
Disculpa me apresure, sobre el blog que te acabo de enviar. El costo de envío del libro es mas caro. Odio pero odio el correo de mi país.
No solamente es el correo de tu pais. También es muy costoso en otros paises enviar libros. 😦
Pingback: Das Schlachtfeld von Waterloo, die Suche nach den Gebeinen und ein unerwartetes Abendmahl | Der reisende Reporter