Für das Projekt „Reise zum Mittelpunkt Europas“ besuche ich alle Orte, die jemals von sich behauptet haben, der Mittelpunkt Europas oder der Europäischen Union zu sein. Und schreibe darüber.
Den Anfang macht ein Ort, der einerseits weitab vom Schuss liegt, wie man so sagt. Andererseits liegt er viel zu nah am Schuss. Meine erste Reise führte mich nämlich in die Ukraine. Aber die geschätzte Leserschaft will irgendwie immer, dass ich mein Leben riskiere. Na gut, lieber stillt Ihr Euren Sensationsdurst mit informativer Unterhaltung als mit der Bild-Zeitung.
Solotwino. Der erste Ort in der Ukraine, nachdem man über eine wackelige Holzbrücke den Fluss Theiß und damit die rumänisch-ukrainische Grenze überquert.


Der Busbahnhof ist ein kleiner Container an der Hauptstraße, der eine beeindruckende Liste von Bussen und Abfahrtszeiten aufführt. Um ein paar Minuten habe ich den Bus nach Rachiw um 8:28 Uhr verpasst. Macht nichts, denn um 9:10 Uhr geht schon der nächste. Steht da.

Die Bahnhofsvorsteherin kommt hilfsbereit heraus und sagt, dass die Liste Makulatur sei. Die Busfahrer sind an der Front, die Busse im Krieg.
„Niemand weiß, wann sie zurückkommen“, sagt sie, und ich weiß nicht, ob sie die Fahrer oder die Busse meint.
„Oder ob sie überhaupt zurückkommen“, ergänzt sie und seufzt. Es klingt so, wie wenn ihr Mann unter den Busfahrern ist.
Es ist der 15. Juli 2022. Tag 142 des russischen Versuchs, die Ukraine auszulöschen. Zieht sich irgendwie, dieser Blitzkrieg.
Der einzig verbleibende Bus des Tages kommt um 11:15 Uhr, sagt die Frau und versteht, dass ich es bis dahin lieber mit Trampen versuche.
Aber niemand hält. Manche Fahrer donnern mit weit mehr als 100 km/h durch den Ort, wohl wissend, dass alle Verkehrspolizisten die Radarpistole gegen eine echte eingetauscht und statt am Straßenrand jetzt im Schützengraben stehen.
Schließlich hält ein Ehepaar, fragt nach Geld. Wieviel, frage ich. Sie diskutieren untereinander. Ich verstehe nichts, aber bilde mir ein, dass die Frau vorbringt, man dürfe den Fremden doch nicht einfach so an der Straße stehen lassen. Der Mann hingegen verweist auf Krieg, Inflation, unsichere Zeiten. Es geht ein bisschen hin und her zwischen den beiden, bis der Mann eine Ziffer auf einen Notizblock schreibt, der bereits so mit Ziffern übersäht ist, wie wenn er täglich Koordinaten an die Artillerie durchgäbe: 1500 Hryvnia.
Ehrlich amüsiert über die Fehleinschätzung meiner finanziellen Möglichkeiten lehne ich ab. 1500 Hryvnia sind etwa 60 Euro. Für 30 Kilometer. (Eine Woche später werden es nur mehr 40 Euro sein. Vielleicht arbeitete das Paar bei der ukrainischen Zentralbank und wusste schon etwas von der bevorstehenden Abwertung. Oder, und das ist wahrscheinlicher, es zeigt, dass man Geld einfach nicht so ernst nehmen sollte.)
Ich bin enttäuscht, dass niemand anhält. Es ist doch Krieg, man liest und hört so viel von Hilfsbereitschaft. Erkennen kann ich nichts davon. Mir scheint, dass manche Fahrer mich suspekt beäugen. Wie wenn irgendetwas absurd daran wäre, während eines Krieges zu trampen. Vielleicht finden sie es verdächtig, wenn ein junger, fitter, muskulöser und erkennbar durchtrainierter Mann nicht bei der Armee ist? – Warum sie deshalb jemanden, der vor einer Woche erst 47 Jahre alt geworden ist und den Sporttest zur Aufnahme in die Streitkräfte nicht bestanden hat, am Straßenrand stehen lassen, verstehe ich trotzdem nicht.
Erst nach einer Dreiviertelstunde hält das zweite Auto. Ich grüße mit „Добридень“, der Mann grüßt mit „money“ zurück. Aber weil er nur 10 Euro verlangt, und ich keinen Anlass mehr habe, optimistisch zu sein, willige ich ein.
Als nächstes fragt er mich nach „dokumenti“. Dass ich aus Deutschland bin, findet er so lala, aber für die Straßensperre des Militärs ist es gut genug. Vielleicht hat deshalb sonst niemand angehalten, weil die Fahrer wissen, dass am Ortsausgang nach Spionen kontrolliert wird? Die jungen Soldaten winken uns aber unkontrolliert durch.
Später liest er am Straßenrand noch zwei Frauen auf, die nach Rachiw wollen. Sie sprechen gar nicht über den Preis, was mir signalisiert, dass Vasili hier als fairer Chauffeur mit festen Tarifen bekannt ist. Seine Rennfahrweise mit hupenden Überholmanövern in bergigen Kurven neben steilen Klippen stört außer mir auch niemanden.
Wir fahren immer am Fluss Theiß entlang. Die ukrainische Seite ist mit Stacheldrahtrollen gesichert. Wozu, frage ich mich, Rumänien wird doch kaum angreifen. Aber durch diesen flachen, ungefährlichen Fluss sind schon viele Männer abgehauen, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Allein in diesem Abschnitt greift die rumänische Grenzpolizei jeden Tag 5 bis 10 Männer auf. Zurückgeschickt werden sie nicht.

Die Angler, die ich auf der rumänischen Seite sehe, freuen sich wahrscheinlich über den Wegfall der ukrainischen Konkurrenz. Heute Abend gibt es überall in der Maramuresch Kriegsgewinnlerkarpfen.
Der Fahrer und die beiden Frauen auf dem Rücksitz finden es amüsant-kurios, dass sich jemand auf den weiten Weg aus Deutschland macht, um in diesem abgelegenen Tal in den Karpaten das geografische Zentrum Europas zu suchen. Schließlich ist hier nicht Paris oder Rom oder London.
Aber wenn meine Informationen stimmen, so liegt der Mittelpunkt Europas direkt am Fluss Theiß. Beziehungsweise an der Tisa, wie sie in den örtlichen Sprachen heißt. Und zwar dort, wo er schon nach Norden abgebogen ist und nicht mehr die Grenze markiert. Die Eisenbahnbrücke verbindet hier zwei ukrainische Ufer und wird von ukrainischen Soldaten patrouilliert.

Die Eisenbahn von Sighet in Rumänien nach Iwano-Frankiwsk in der Ukraine, das ältere Leserinnen und Leser als Stanislau kennen, überwindet den Tatarenpass und verbindet die Maramuresch und Ruthenien, die Bukowina und Galizien.

Klingende Namen, man hat sie schon einmal gehört, aber weiß nicht genau, was sie waren, wo sie waren, wann sie waren. Mystische Orte, wie aus dem „Herrn der Ringe“, aber es war nur das Habsburger-Reich. Vor mehr als hundert Jahren ist es untergegangen, in einer selbst angezettelten Feuersbrunst, die sich zu einem Weltenbrand ausweitete. Vorbei und vergessen, seit Generationen, möchte man glauben. Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Nur hier nicht, im Tal der Theiß, hier wird nichts vergessen. Aber dazu später mehr.

Züge kommen heute keine vorbei. Dafür ziemlich viele Autos. Familien steigen aus. Eltern fotografieren ihre Kinder. Kinder fotografieren ihre Eltern. Ein Mädchen zwingt ihren Freund, 32 Fotos von ihr in gestelzten Posen zu machen. Er würde sie am liebsten in den Fluss werfen, wenn da nicht die Soldaten von der Brücke aus zusähen.
Es ist ein schöner Sommertag. Saftiges Grün. Das Wasser im Fluss rauscht. Der höchste Berg der Ukraine, die Howerla, ist nur 25 km entfernt, aber die Berge hier sind so sanft geschwungen, dass man sie, unabhängig von ihrer Höhe, nur als Hügel wahrnimmt. Die Holzbuden verkaufen Honig, Würste, Schneekugeln und Huzulen-Trachten. Nur ein Junge verkauft etwas Nützliches: Cola und Snickers, für den Fall, dass ich die 30 km über die Berge zu Fuß zurückgehen muss.
Ein leichter Nieselregen setzt ein. So ein Sommerregen, vor dem man sich gar nicht erst versteckt, weil man weiß, dass er bald vorüberzieht. Rauch steigt auf. Es ist Tag 142 des Krieges, von dem niemand mehr glaubt, dass er bald vorüberzieht. Aber es fiel kein Schuss, es war keine Bombe, keine Rakete ist explodiert. Der Rauch kommt aus dem Schornstein des Restaurants.
Und was ist es, was all die Menschen hier herlockt?
Eine Stele. Errichtet 1887 und seither etwas ramponiert.


Der Kreis Rachiw gehörte damals zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Die österreichischen Ingenieure, die die Eisenbahnschienen verlegten, hatten anscheinend Steine, Mörtel und humanistische Bildung übrig und hinterließen eine Inschrift auf Latein:
Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum. MDCCCLXXXVII.

In dieser Karpatenregion, wo das Volk der Huzulen lebt und Deutsche und Österreicher als Holzfäller angesiedelt worden waren, konnte niemand Latein, und so geriet der Ort in Vergessenheit.

Dabei lag Dilowe durchaus im Zentrum der europäischen Geschichte. Allein im 20. Jahrhundert gehörte es zu mehr als einem Dutzend Staaten bzw. wurde von diesen besetzt: Österreich-Ungarn, Föderative Ungarische Sozialistische Räterepublik, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, Huzulen-Republik, Ukrainische Volksrepublik, Westukrainische Volksrepublik, Tschechoslowakei, Slowakei, Republik der Karpaten-Ukraine, Ungarn, Nazi-Deutschland, Sowjetunion, erneut Tschechoslowakei, Transkarpatische Ukraine, Sowjetunion, seit 1991 Ukraine.
Und jetzt schon wieder Krieg.
In diesem entlegenen Tal in den Karpaten haben die Menschen, die im Laufe ihres Lebens mehrfach Staatsangehörigkeit, politisches System und Sprache wechselten, mehr Ahnung davon, was Europa bedeutet als in Paris, Rom oder London. Hier wissen sie, dass Grenzen, Nationalstaaten und Pässe nur Zufallszuckungen der Bürokratie und keine Grundlage für Identität sind.
Erst in der Sowjetunion erinnerte man sich wieder an die österreichische Eisenbahningenieursgedenkstele. Und das geschah so: 1964 musste Nikita Tarasow, Mitglied der geografischen Kommission des Rajon Rachiw und als solcher stellvertretend und konsultativ delegiert zur Geografischen Kommission der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, beim Wandern in den Karpaten mal kurz austreten. Zufällig hielt er genau neben dieser Stele, bekam einen Geistesblitz, wie er die Genies oft in den unvorbereitetsten Momenten ereilt, und brachte Dilowe so auf die Tagesordnung der 13. interkommissionellen Tagung der akademischen Kommissionen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, wo die Angelegenheit an den Unterausschuss für Geodäsie von Orten mit möglicherweise rajonsübergreifender Bedeutung verwiesen wurde, und 1986 schließlich entschieden wurde, dass dies ein höchst wichtiger und einmaliger Ort sei, der mit einer Plakette geschmückt werden müsse.
Diese sowjetische Plakette befindet sich noch immer neben der Stele. Sie besagt in etwa: „Hier ist nach dem Dafürhalten der Geografischen Kommission der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und des zuständigen Ministers im hochehrwürdigen Rat der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ein bedeutender Punkt, der so einmalig und einzigartig ist, dass es in nur an diesem einen Punkt geben kann.“
Das hört sich wichtig an, bleibt aber irgendwie vage, oder? Der Grund dafür war, dass niemand unter den Geografen zugeben wollte, Latein zu können, weil man damit als bourgeois abgestempelt wäre. Da könnte man genauso gut gleich die Fahrkarte nach Kolyma kaufen.
Es war aber auch egal, denn 1986 kamen Perestroika (gut), Tschernobyl (schlecht), die Rückkehr von Andrei Sacharow (gut), der Untergang des Kreuzfahrtschiffes „Admiral Nachimow“ (schlecht) und niemand machte sich mehr Gedanken um die Stele.
Bis 1991, als die Ukraine plötzlich wieder unabhängig war. Die Ukraine sah und sieht sich als Teil Europas. Völlig zurecht. Darum ging es schließlich bei der Maidan-Revolution 2014. Aber ich will hier nicht zu weit ausholen. Vor allem weil ich, wenn ich auf besagtem Maidan Nesaleschnosti bin, immer von irgendwelchen blöden Vögeln belästigt werde.
Wie halb Europa kämpft die Ukraine mit dem Problem, dass Westeuropäer glauben, Europa ende an der Oder-Neiße-Linie oder maximal in Prag. (Dass Wien, Athen und sogar Görlitz östlicher liegen als Prag, weiß auch kaum jemand.) Um den EU-Mitgliedschaftsantrag geodätisch zu untermauern, behauptete die Ukraine fortan unter Berufung auf die österreichischen Landvermesser von 1887, nicht nur zu Europa zu gehören, sondern sogar den Mittelpunkt unseres Kontinents zu stellen. Ein Banner verkündet freudig den vor wenigen Wochen erreichten Status als EU-Beitrittskandidat.
In vielen Berichten und Dokumenten findet Ihr übrigens die Angabe, dass der Mittelpunkt Europas in Dilowe sei. Vielleicht weil es nur dort eine Bushaltestelle gibt. Von da sind es aber noch 3 km bis zu dem Punkt, der viel näher beim Weiler Kruhlyj liegt.
All die Autoren, die von Dilowe schreiben, waren also wahrscheinlich nie vor Ort, sondern haben voneinander abgeschrieben. Nur bei mir gibt es immer Originalinformationen aus erster Hand. Garantiert!
Außerdem gibt es hier endlich die Wahrheit über die lateinische Inschrift. Sie bedeutet so etwas wie:
Dies ist ein dauerhafter und für die Ewigkeit festgehaltener Ort, der durch eine spezielle in Österreich-Ungarn hergestellte Wasserwaage unter Verwendung des Systems der Breiten- und Längengrade mit europäischer Präzision bestimmt wurde. 1887.
Man könnte fast meinen, die nach Transkarpatien entsandten Ingenieure haben sich einen Scherz erlaubt mit dem wichtig klingenden, aber nichtssagenden Text.
Am liebsten würde ich ja mit einem der Pferdefuhrwerke zurückfahren, das fehlt noch beim Tramperbingo. Aber die galoppieren alle in die falsche Richtung, nach Rachiw, in die Rajonshauptstadt, das Paris der Huzulen, das Tor in die Karpaten, Zentrum des Biosphärenreservats, Weltnaturerbe der UNESCO.
In die richtige Richtung fahren Dutzende von Autos und Ausflüglern, die mich geflissentlich ignorieren. Vielleicht liegt es daran, wie ich aussehe. Mit einem weißen Hemd, beiger Hose, kurzen Haaren und frisch rasiert, sehe ich aus wie ein Mormone oder ein Zeuge Jehovas. Und kein Autofahrer will sich eine Stunde über Jesus volllabern lassen. Besonders nicht, wenn sein Land gerade im Namen des Christentums bombardiert wird.

Oder es ist etwas anderes.
Denn als nach einer halben Stunde ein Mann in einem alten Schiguli anhält, fragt er zuerst nach meinen Dokumenten. Als ich sage, dass ich aus Deutschland bin, darf ich einsteigen. Er verweist auf die Checkpoints der Armee. Hier in der Grenzregion will wohl wirklich niemand einen ukrainischen Mann mitnehmen, der sich durch einen Sprung in die reißenden Fluten der Theiß der Wehrpflicht entziehen will.
In Dilowe muss der Fahrer kurz anhalten, um Brot zu holen. Er lässt mich sitzen und den Schlüssel stecken. Man erkennt die wirklich guten Menschen daran, dass sie gar nichts Schlechtes denken können. Geld will er auch keines. In Welykyj Bytschkiw (Groß-Botschko auf Deutsch) lässt er mich direkt am Busbahnhof raus. Auch hier das Gleiche wie am Morgen: Der Fahrplan ist extrem ausgedünnt, der nächste Bus in das 10 km entfernte Solotwino kommt in zwei Stunden.
Vielleicht haben die Fahrplanauskunftgeberinnen und ich aber auch immer aneinander vorbei geredet, denn später erfahre ich, dass die Menschen in dieser Region – so wie manche Leute noch immer alles in D-Mark umrechnen – Ihre Uhren nicht nach Kiew, sondern nach Wien richten. Man verwendet also die Mitteleuropäische statt der Osteuropäischen Zeitzone, was eine Stunde Unterschied ausmacht. Beziehungsweise ausmachen würde, wenn es nicht noch komplizierter geht. Denn als Transkarpatien 1945 Teil der Sowjetunion wurde, betrug der Zeitunterschied zwischen Wien und Moskau zwei Stunden. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, und der Zeitunterschied zwischen Dilowe und Kiew nur mehr eine Stunde betrug, behielten viele Menschen den Zeitunterschied von zwei Stunden zur Hauptstadt bei. Aus Gewohnheit. Sie lebten also im Endeffekt nach der Zeitzone von London oder Lissabon, wobei sie sich im guten alten Wien wähnten. Wahrscheinlich hatten sie auch noch heimlich ein Bild des letzten österreichischen Kaisers im Haus.
Zusätzlich verkompliziert wird die Zeitmessung durch Sommer- und Winterzeit, die in verschiedenen Bezirken an verschiedenen Tagen beginnt oder endet bzw. in manchen Bezirken gar nicht durchgeführt wird. Dazu kommt, dass, je nach Religion, für die Bestimmung des Frühlings- bzw. Herbstbeginns und damit den Zeitpunkt der Uhrenumstellung der julianische, der gregorianische, der altritualistische, der autokephal-orthodoxe oder der reformierte Kalender verwendet wird.
Züge verwenden die Zeitzone des Ankunftsortes statt des örtlichen Bahnhofs. Wenn also vom gleichen Bahnhof zur gleichen Uhrzeit ein Zug nach Budapest, einer nach Bukarest und einer nach Moskau geht, dann geht einer um 13 Uhr, der andere um 14 Uhr und der dritte um 15 Uhr. Obwohl sie gleichzeitig abfahren. Wobei die lokale Bevölkerung die Zeit in der Karpatenzeit angeben wird, also Kiew minus eine Stunde bzw. bei älteren Menschen Kiew minus zwei Stunden. Wenn sie hingegen mit einem Ausländer sprechen, so verwenden sie natürlich die Wiener Zeit. Außer junge Menschen, die gucken einfach auf ihr Handy und haben keine Ahnung, was Zeitzonen sind.
In Solotwino hatte ich mich gewundert, warum die Menschen schon Stunden vor der Abfahrt des Zuges am Bahnhof waren. Aber jetzt verstehe ich es. Wenn nur ein Zug am Tag fährt, will man kein Risiko eingehen, sich verrechnet zu haben.

Mehrsprachige Menschen verwenden auch unterschiedliche Uhrzeiten, je nachdem, in welcher Sprache sie sich unterhalten. Und, falls ich es noch nicht erwähnt habe: Mehrsprachigkeit ist in dieser Region ganz normal. Die Menschen hier sprachen und sprechen Ukrainisch, Russisch, Deutsch, Jiddisch, Ungarisch, Slowakisch, Rumänisch, Tschechisch, Ruthenisch, Romani, Polnisch, Altkirchenslawisch und, wie ich für Euch getestet habe, ein klein wenig Englisch. Auch deshalb finde ich, dass einen die Suche nach dem Herz und dem Wesen Europas ganz zurecht in die Karpaten führt.
Und falls Ihr Euch jetzt fragt, ob ich das erfunden habe – eine angesichts meiner Recherchearbeit fast schon unanständige Frage: Nein! Es gibt sogar wissenschaftliche Untersuchungen über die Transkarpatenzeit. Die Grafik zeigt den Anteil der Bevölkerung, die 2016 noch die Habsburgerzeit verwenden, das Foto zeigt die Öffnungszeiten einer Pizzeria in der Ukraine nach Wiener und Kiewer Zeit.


Dieses Hin- und Herrechnen zwischen verschiedenen Zeitzonen können wohl nur Menschen, die drei- oder viersprachig aufwachsen. Mir gelingt es jedenfalls nicht.
Da gehe ich lieber zum Ortsausgang und versuche, zu trampen. Wieder fahrende Dutzende von Autos an mir vorbei, und schon langsam werde ich fuchtig. Was helfen die patriotischen Flaggen am Auto, wenn niemand hält? Was bedeuten die Kreuze am Rückspiegel, wenn man den Nächsten in der Mittagshitze stehen lässt? Und irgendwann denke ich daran, dass Ukrainer in der EU die Züge kostenlos nutzen dürfen. Ich bin nicht auf der Flucht, bin freiwillig hier, will keineswegs Ungleiches vergleichen. Aber es wäre nett, ein bisschen von der Solidarität zurück zu bekommen.
Die zunehmend düsteren Gedanken werden unterbrochen durch einen jungen Mann im Lieferwagen, der ebenfalls zuerst fragt, ob und welchen Pass ich dabei habe. Als ich sage, dass ich aus Deutschland bin, hellt sich sein Gesicht auf. Seine ganze Familie hat in Deutschland Zuflucht gefunden, er ist als einziger in der Ukraine geblieben.
„Die Ukraine ist im Moment kein guter Ort, um Kinder großzuziehen“, sagt er, und ich schätze das Understatement, mit dem er den Krieg beschreibt. Er ist ein netter Mensch. Unter der aktuellen Traurigkeit erkennt man noch die Vorkriegspersönlichkeit. Hoffentlich geht sie nicht ganz verschütt.
Obwohl er irgendetwas Wichtiges dringend irgendwohin fahren muss, macht er einen Umweg, um mich in Solotwino zur Grenze zu fahren. Zum Kordon, wie er auf Ukrainisch sagt, und es ist schön, im Deutschen schon ausgestorbene Wörter in einer anderen Sprache zu hören.
Nach dem Grenzübergang holt mich eine Frau auf dem Fahrrad ein, die hinter mir in der Warteschlange vor der rumänischen Grenze war.
„Entschuldigen Sie, mein Herr,“ fragt sie, „was für einen Pass haben Sie?“
„Einen deutschen,“ antworte ich.
Sie bedankt sich für die Information und erklärt die Frage: „Wir haben uns alle gewundert, warum Sie als einziger nicht Ihre Tasche öffnen mussten.“
So ist das nämlich. Wenn Ihr jemanden zum Schmuggeln braucht, nehmt dafür einen adrett gekleideten Mann mittleren Alters, am besten mit deutschem Pass. Solche Typen werden nie kontrolliert. Und jetzt muss ich irgendwie das über die Grenze geschmuggelte Plutonium loswerden…
Für Menschen, die hier jeden Tag von Frontex kontrolliert werden, wenn sie nur ihre Eltern im nächsten Dorf besuchen oder einkaufen wollen, für die diese neumodischen nationalstaatlichen Grenzen ihr schönes Karpatenland oder ihre Bukowina durchschneiden, für Menschen, die sich auf beiden Seiten fließend verständigen können, ist diese Diskriminierung besonders entwürdigend.
Andererseits, wenn man es mit Frontex zu tun hat, muss man schon froh sein, dass sie einen nicht über die Brücke in den Fluss werfen.


Die rote Farbe am Geländer und auf der Brücke markiert die Grenze. Auf der einen Seite Ukraine, auf der anderen Rumänien. Auf der einen Seite Krieg, auf der anderen Frieden. Auf der einen Seite Wehrdienst und Tod, auf der anderen Universität und Kino.
Eine rote Linie, genauso willkürlich gesetzt wie der Punkt bei Dilowe, zerschneidet den Kontinent, zerschneidet Familien, zerschneidet Leben.
Das war also der Einstieg in das Projekt „Reise zum Mittelpunkt Europas“.
Ich vermute, dass ich bei den nächsten Mittelpunkten, so unbedeutend sie für sich genommen sein mögen, ebenfalls Anlass zu historischen und aktuellen Betrachtungen Europas finden werde.
Werft doch mal einen Blick auf die Karte und die Liste aller Mittelpunkte. Wenn Ihr in der Nähe eines dieser Punkte lebt, würde ich mich nämlich freuen, Euch kennenzulernen! Und die hochgeschätzten Unterstützerinnen und Unterstützer dieses Blogs bekommen von unterwegs eine Postkarte. (In der Ukraine habe ich leider keine Postkarten gefunden, weshalb Ihr demnächst Post von anderswo erhalten werdet.)

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