Ich gehe gerne auf Friedhöfe. Sie sind oft ruhiger und gemütlicher als der örtliche Park. Manche sind künstlerisch wertvoll. Zudem lerne ich dabei ein bisschen über die örtliche Kultur und Geschichte.
In Rumänien wurde mir ein Friedhof empfohlen, der sogar amüsant sein soll: der fröhliche Friedhof von Săpânța.
Von Sighet aus sind es nur 20 km. Das sollte doch per Anhalter zu schaffen sein. Aber an der Abzweigung nach Satu Mare stehe ich 25 Minuten genauso erfolglos wie die Zeugen Jehovas auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Deprimierend. Wie gemacht für einen Tag auf dem Friedhof. Aber ich will noch nicht aufgeben. Stattdessen gehe ich ein paar hundert Meter weiter stadtauswärts, bis nach dem Krankenhaus, und versuche es erneut. Schon das dritte Auto hält.
Der Fahrer ist aus der Slowakei, lebt aber in der Maramureș. Oder er ist von hier, aber ethnisch Slowake. Das habe ich nicht so genau verstanden. Ich glaube, das ist hier auch nicht so wichtig, weil die Menschen noch immer in den Habsburgerregionen wie Ruthenien oder Wolhynien oder Galizien denken. Diese ganzen Nationalstaaten, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurden, das ist doch eine recht neumodische Sache.
Sehr neumodisch ist auch die übertrieben große und übertrieben deplatzierte Betonkirche in Sarasău.

Aber die Storchennester auf jedem zweiten oder dritten Strommasten bewahren den dörflichen Charakter auf der Strecke. Pro Nest tummeln sich drei oder vier Störche. Vielleicht sind die Vögel anderswo gefährdet, hier nicht. Und die Kinderbringervögel passen ja auch irgendwie zu einem Land, wo Abtreibung und Verhütung bis 1989 verboten waren und wo Kinderlose eine jährliche Strafsteuer in Höhe etwas eines Monatseinkommens bezahlen mussten.
Erinnert Ihr Euch an die Fotos von den überfüllten Waisenhäusern, die nach dem Sturz des Abtreibungsgegners Nicolae Ceaușescu kurzzeitig die Spendenscheckbücher der Welt erweichten? Tja, jetzt wisst Ihr, woher die ganzen Kinder kamen. Aber wozu so eine Politik führt, die Frauen zum Gebären zwingt, wird man ja bald wieder in Polen und in den USA beobachten können.

Der freundliche Fahrer muss zufällig zu einem Baustoffhandel in Săpânța, der gleich unterhalb des Friedhofs liegt. So ist das oft beim Trampen: Erst denkt man, dass gar niemand mehr hält. Dann kommt ein Fahrer, und bringt einen punktgenau ans Ziel. Ich glaube, das ist der erste Friedhof, für den ich an Souvenirständen und Imbissbuden vorbei muss und einen kleine Gebühr von 5 Lei (= 1 Euro) begleiche.
Dieser Friedhof ist deshalb so bekannt, weil hier jede(r) Verstorbene eine Holztafel mit einem persönlichen Bild und einem meist amüsanten Gedicht über sein/ihr Leben erhält.

Jetzt bereue ich, dass ich kein Rumänisch kann. Eine Weile kann ich zuhören, wie ein rumänischer Besucher seiner spanischen Ehefrau übersetzt, aber ich kann den beiden ja nicht ständig auf Schritt und Tritt folgen.
So bin ich, wie einst die Analphabeten vor den Fresken der moldawischen Klöster, auf die Bilderzählung angewiesen. Viele Schnitzereien scheinen sich um den Beruf der Protagonisten zu drehen. Ein Arzt mit Flugzeug bedeutet, dass er einst den Impfstoff ins Dorf brachte. Jäger, Holzfäller und Metzger werden bei der Arbeit gezeigt. Allerdings weiß ich nicht, warum bei einem Jäger die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei so prominent hervorgehoben wird.
Einige Schnitzereien beziehen sich auf die Art des Todes. Manche bieten regelrechte Kriminalfälle dar, von fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr bis zur Selbstjustiz durch Kopfabhacken bei auf frischer Tat erwischten Viehdieben.
Jetzt müssen sich nur aus der Leserschaft die des Rumänisch Mächtigen melden, um die Limericks zu übersetzen. Mulțumesc!
Wahrscheinlich gibt es weltweit kein anderes Dorf, dessen Geschichte so detailliert dokumentiert ist. Eine Fundgrube für Ethnologen und Mikrohistoriker.
Die Kirche ist, wie Ihr seht, auch ziemlich putzig. Die Künstler, die deren Innenraum ganz ernst und konventionell ausgeschmückt haben, bekommen allerdings nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit und Anerkennung. Vielleicht hätte man das auch lieber Stan Ioan Pătraș machen lassen sollen.
Was bei all den auf den Gräbern abgebildeten Berufen leider fehlt, ist ein Kammerjäger. Denn genau zur Mittagszeit überfallen Schwärme von großen Insekten den Friedhof und das ganze Dorf.
Vor dieser biblischen Plage – ich glaube, es ist die dritte oder die vierte – fliehe ich in den nahen Wald. Wenn Ihr jemals in diesen Wald und dort zu diesem mysteriösen Tor kommt, so empfehle ich Euch, hindurch zu gehen und dem Pfad zu folgen.

So gelangt Ihr nämlich zum höchsten Holzturm der Welt. 75 Meter hoch ist der Kirchturm, der sich in einer für seine Konstruktion abgeholzten Lichtung im Wald präsentiert. Das neu errichtete Peri-Peri-Kloster daneben zeigt deutlich, welche Institution in Rumänien wahrlich nicht unter Geldmangel leidet.
Für den Rückweg stelle ich mich wieder an die Hauptstraße, und diesmal hält bereits das zweite auto. Der Fahrer nimmt mich gerne nach Sighet mit, will aber 10 Lei dafür. Das sind 2 Euro für 20 km, ein moderater Preis. In Osteuropa ist es nicht unüblich, dass Privatfahrzeuge Benzingeld nehmen. Dessen Höhe deckt sich normalerweise mit dem Preis eines Bustickets für die gleiche Strecke.
Und als die Frau auf dem Rücksitz auf halber Strecke aussteigt und dem Fahrer ebenfalls Geld zusteckt, merke ich, dass er das quasi beruflich macht. Mit den 10 Lei könne er sich sowieso nur einen Liter „petrol combustibil“ leisten, klagt er und deutet auf die Anzeige einer Tankstelle, die wir eben passieren. Er hat Recht. Dabei hat Rumänien sogar eigene Ölfelder, um die im Zweiten Weltkrieg heftig gekämpft wurde.

Das einzige, was mich grämt an dieser Art des Autostoppens, ist die Ökobilanz. Denn der Fahrer musste eigentlich gar nicht nach Sighet. Und zuhause wartet seine ukrainische Frau, mit der er zusammen eine Pension betreibt. Ob er damit meint, dass sie aus der Ukraine ist oder ob sie eine ethnische Ukrainerin aus Rumänien ist, das wird nicht klar. Aber wie oben schon ausgeführt, ist das eigentlich auch egal, weil die modernen Nationalstaaten, die es erst seit 100 bis 150 Jahren gibt, die grenzüberschreitende Karpaten-Identität noch lange nicht verdrängt haben. Aber dazu kann ich praktischerweise auf meinen kürzlichen Artikel verweisen.
Als ich in Sighet aussteige, merke ich, dass ich eigentlich nicht verstehe, wenn sich Menschen so viele Gedanken um ein Grab machen. Mir persönlich wäre es peinlich, mich so wichtig zu nehmen oder so wichtig genommen zu werden, egal ob geschnitzt, gemalt oder gedichtet. Nein, da lasse ich mich lieber irgendwo verscharren, wo mich niemand kennt.
Links:
- Mehr Berichte aus Rumänien.
- Mehr Friedhöfe.
- Weitere Geschichten vom Trampen.
Smartphone auf den Grabstein halten, Fotoinhalt übersetzen lassen?
Wenn ich so ein Teil hätte…
Wobei die elektronischen Übersetzungen ja auch meist nur die Hälfte richtig wiedergeben, und von Sprachspielen und Andeutungen vollkommen überfordert sind.
Vielleicht steht auch auf einem Grabholzschild: Cel din mormântul de lângă m-a făcut cerșetor! „Der im Grabe nebenan, machte mich zum Bettelmann!“
Oh ja, das wäre lustig, wenn sich so Querverbindungen zwischen den Verstorbenen offenbarten.
Wenn ich mal wieder in der Gegend bin, gehe ich mit jemandem hin, der/die übersetzen kann.
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Das ist ja mal ein ganz besonderer Friedhof. Ich gehe auch gerne in fremden Ländern auf den Friedhof. Erstaunlich, wie unterschiedlich die sind.
Allerdings!
In Bolivien hinterlässt man den Toten zB regelmäßig volle Coca-Cola- oder Bierflaschen, damit sie sich stärken können:
Friedhöfe finde ich auch spannend. Sowas ähnliches gibt es auf den Nordseeinseln, die „sprechenden Grabsteine“. Da wird etwas ausführlicher über das Leben des Verstorbenen berichtet. Aber die bildliche Gestaltung in Rumänien toppt das noch um einiges.
Ah, das wusste ich noch nicht!
Dann muss ich mich da doch einmal hintrauen. Ich habe immer Sorge, dass ich eine echte Insel mit so einer zweimal am Tag untergehenden Hallig, oder wie das heißt, verwechsle und dann ertrinke.
Seit ich in Cornwall ein paarmal von der Flut abgeschnitten war, habe ich ziemliche Angst vor diesen Gezeiten.
Wahrscheinlich bin ich deshalb gerade in Ungarn, weit weg vom Meer. 🙂
Auf Föhr ertrinkst du nicht 😉
https://www.arte.tv/de/videos/048295-012-A/geo-reportage/
Kurz nach der Lektüre fand ich in der arte Mediathek diese Reportage . Wie im Artikel erwähnt, wird der Friedhof tatsächlich gerne Dokumentiert.
Vielen Dank für den Link!
Jetzt weiß ich endlich, woher der Name „fröhlicher Friedhof“ kommt.
Und immer, wenn ich die Bauernhöfe, die Landschaft und vor allem die Menschen sehe, dann vermisse ich Rumänien schon wieder.
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