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„Nehme ich den Nachtbus von Heathrow nach Newquay, dann komme ich gut ausgeschlafen an,“ hatte ich gedacht, obwohl ich eigentlich wissen hätte müssen, dass ich in Nachtbussen nicht wirklich zum Schlafen komme. Aber die letzten Stunden der neunstündigen Fahrt sind schön. Es dämmert schon, und der National-Express-Bus schlängelt sich auf feldwegähnlichen Straßen durch grüne Hügel mit Schafen und hohen Hecken.

Um 6:35 wirft mich der Fahrer in Newquay raus. Objektiv ist es noch kalt, aber ich komme gerade aus Kanada, so dass sich alles über null Grad mild anfühlt. Und endlich bin ich wieder in einer Kleinstadt, wo man sich schnell zurecht findet und zu Fuß von einem Ende zum anderen laufen kann.
Ich gehe runter zum Strand, denn auch wegen des Meeres bin ich nach Cornwall gekommen. Ganz allein bin ich an diesem frühen Morgen. Alle Wellen nur für mich.

Schwimmen macht hungrig.
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Zum Frühstück habe ich Lust auf ein heißes Pasty, aber die Läden öffnen erst langsam. Sie können sich das leisten, weil sie Weltmeister sind. Alle. Jeder einzelne Laden. Einer preist sich als „Voted best Cornish Pasty Shop in 2018“, der andere als „Winner of World Pasty Championship 2018“, der dritte als „Winner of Cornwall Pasty Competition 2018“. Das ist wie beim Boxen, wo jeder seinen eigenen Verband hat, um Weltmeister spielen zu können. Der „Oldest Cornish Pasty Maker in the World“ steht über allem.
Um 8 Uhr macht der erste Laden auf. Die Bäckerin stimmt mich hoffnungsvoll: „Die Pasties sind schon im Ofen!“ Darauf werde ich gerne warten, verkünde ich, bis sie mich belehrt, dass es noch eine Stunde dauern wird. Oh, dieses Gebäck ist anscheinend so aufwendig wie ein Gulasch. Meine Spannung auf das Leibgebäck Cornwalls steigt, aber ich verschiebe unser Kennenlernen auf später am Tag. Dass Bäcker erst um 8 Uhr mit der Arbeit beginnen, würde ihre deutschen Kollegen vermutlich zum Lachen bringen.
(Wer nur wegen der Pasties hier ist, kann zu Kapitel 7 springen.)
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Dann mache ich mich eben doch auf zu meiner Arbeitsstelle für die kommenden zwei Wochen. Als Housesitter werde ich mich um ein kleines Häuschen und um einen fetten Kater kümmern.
Auf dem Weg komme ich an der Bibliothek vorbei. Das Schild ist zweisprachig: „Library – Lyverva“
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Der Auftrag mit der Katze scheint leicht zu werden. Bigfoot, wie der wirklich fette Kater heißt, lässt sich gleich streicheln. Es scheint ihm egal zu sein, dass jetzt plötzlich jemand anderes im Haus wohnt, solange er jeden Tag Futter bekommt und weiterhin kommen und gehen kann, wann er will. Auch längeren Ausflügen scheint er nicht abgeneigt zu sein, denn sogleich hüpft er in meine Reisetasche.

Am nächsten Morgen jagt mir die Katze einen enormen Schreck ein. Als ich im Bad bin, macht sich jemand von außen an der Türklinke zu schaffen. Ich dachte, ich wäre allein im Haus, und habe natürlich nicht abgeschlossen. Hilflos sehe ich mich nach einer Waffe um, aber ich habe nicht einmal einen Fön.
Schon ist die Tür offen, und herein kommt: Bigfoot.
Der Kater ist so selbständig, der bräuchte eigentlich gar keinen Housesitter. Außer nachts, da öffnet er gerne die Tür zum Schlafzimmer, kommt zu mir ins Bett und liest Spionageromane.
Was das Haushüten noch einfacher macht: Der letzte Catsitter war ein eher komischer Typ, der die ganze Speisekammer leer fraß, dann zur örtlichen Tafel und ansonsten nie aus dem Haus ging. Am Ende bat er um Geld für den Bus, weil er keinen einzigen Penny hatte.
Leider hat mein Vorgänger auch die Heizung zu lange laufen lassen, so dass ich mich jetzt nicht zu fragen traue, ob man sie einschalten könne, um endlich meine Erkältung zu kurieren. Aber nein, hier ist England, ab April sind die Fenster geöffnet und der Atlantikwind pfeift durchs Haus, egal ob jemand vor Husten fast stirbt.
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Habe ich England gesagt?
„Cornwall“, verbessert mich die Eigentümerin von Haus und Katze, bevor sie den Bus zum kleinen Flughafen von Newquay nimmt, um für zwei Wochen den letzten Urlaub in Europa vor dem Brexit zu genießen. (Zumindest dachte man das damals im Mai 2019. Es kam bekanntlich anders.)
Ich frage Susan, ob sie Kornisch spricht.
Sie lacht: „Niemand spricht Kornisch!“ Und holt sogleich zum weiteren Schlag gegen die Südwest-Nationalisten aus: „Die Hälfte der Wörter ist doch erfunden, weil es zur Zeit der Sprache einfach keine Wörter für moderne Objekte gab.“ Wahrscheinlich gehört die „Lyverva“ dazu.
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Aber alleine ist das Kornische nicht. In Newquay findet diese Woche ein Festival der Keltischen Internationale statt, mit Gästen aus Schottland, von der Isle of Man, aus der Bretagne, aus Irland und aus Wales.
In einigen Gärten weht die Flagge Cornwalls. Auf vielen Autos klebt das weiße Kreuz auf schwarzem Grund, ebenso an etlichen Ladentüren.

Das muss nichts bedeuten. In Bayern hängen auch überall die weiß-blauen Rauten, trotzdem will niemand, dass Bayern unabhängig wird. Mebyon Kernow, die wichtigste Partei, die für die Autonomie Cornwalls eintritt, bekommt bei Wahlen zwischen 2 und 4 %. Ganz so hoch wie die Flaggen hängt das Thema also nicht.
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Lange arbeiten müssen die Weltmeister aus Kapitel 2 anscheinend auch nicht, denn als ich um 17:30 in die Bäckerei komme, ist das Mädchen dort gerade am Zusperren. Dafür gibt es Rabatt auf die Restposten des Tages. 1,50 £ statt 3,50 £ für ein großes, als Abendessen ausreichendes Pasty. Hier kann man günstig leben.
Das Pasty ist eine Teigtasche, die mit herzhaften Sachen – Fleisch und/oder Gemüse – gefüllt ist und warm gegessen wird.

Weltmeisterlich oder gar in der Liga des Kaiserschmarrns ist es nicht, aber in Großbritannien wird man auch mit kulinarischem Mittelmaß berühmt.
Wenn man im Park oder am Strand isst, muss man sich vor den Möwen in Acht nehmen, die entweder immer hungrig oder immer zum Schabernack aufgelegt sind.
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Das beste an Newquay ist, dass hier der South West Coast Path vorbeigeht. Das ist ein Fernwanderweg von etwas mehr als 1000 Kilometern, der immer der Küste folgt und die Südwestspitze Englands, Cornwalls und von Devon umrundet.

Fernwanderwege in Großbritannien, die „National Trails“, sind etwas ganz Besonderes. Ein Paradies für Wanderer! Immer in schöner Natur. Nur ganz selten teilt man sich den Weg mit Straßen und Vehikeln. Weiche Pfade. Gemütliche Rastplätze. Immer mal wieder ein Pub am Weg. Gut ausgeschildert. Wobei man letzteres bei einer Küstenwanderung eigentlich nicht benötigt, man kann ja nicht zu weit vom Pfad abkommen bzw. findet immer wieder zurück auf diesen.
Und was mir diesmal entgegen kommt: Auch mitten in die Natur oder an eine entlegene Bucht führen in Großbritannien Busse. Ich kann den Kater nur tagsüber allein lassen, sonst frisst er die Orchideen, um die ich mich ebenfalls zu kümmern habe. Aber mit den Doppeldeckerbussen fahre ich am Morgen von Newquay so weit wie möglich weg und wandere dann tagsüber 20 km oder so zurück in die Stadt. Danach das gleiche in die andere Richtung, und dann immer weiter.

Da ich keinen Wanderwettbewerb, sondern nur einen ersten Eindruck gewinnen möchte, genügt mir dieser Einstieg. Im Hinterkopf spukt die Idee des Europäischen Küstenwanderwegs herum, und ich will testen, ob mir das überhaupt gefällt, bevor ich die 5000 km von Leningrad bis zur Algarve in Angriff nehme.
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Ich nehme den Bus nach Harlyn Bay, um Richtung Newquay zurück zu wandern.

Es ist perfektes Wanderwetter.
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So eine Bucht stellt den Wanderer immer vor mindestens zwei Möglichkeiten: Unten durch den Sand spazieren und am Ende wieder hochklettern (Anfänger). Oder den gemütlichen Pfad über den Klippen wählen und die Aussicht genießen (Fortgeschrittene). Oder zuerst hocherfreut zum Wasser laufen, aber dann doch noch eine Stelle suchen, wo man zum Wanderweg hochklettern kann (ich).
Ich persönlich wandere lieber auf der Anhöhe, weil ich gerne Fernsicht und Weitblick habe. Außerdem ist mir das Meer ein wenig suspekt, eine Haltung, die sich noch als berechtigt herausstellen wird.
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Und hier oben findet man nette Gesellschaft.

Weil ich finde, dass Tiere, zumindest Säugetiere, es verdienen, mit Respekt und Höflichkeit behandelt zu werden, unterhalte ich mich mit den Schafen. Übers Wetter. Über den Salzgehalt des Grases in unmittelbarer Meeresnähe. Über ihre Meinung zu Lamas. Über den Brexit.
„Good morning“, flötet eine fröhliche Frau, die ich gar nicht kommen habe sehen.
Großzügig und britisch-höflich ignoriert sie die Tatsache, dass ich gerade ein Gespräch mit Wollknäueln geführt habe, und erzählt, dass sie den kompletten South West Coast Path wandert.
Zwei Monate hat Hannah sich dafür eine Auszeit genommen, aber sie lacht: „Wahrscheinlich hätten sie es bei der Arbeit nicht einmal bemerkt, dass ich nicht da bin.“ Ich vermute irgendein Beschaffungs- und Controllingdezernat in der weit verzweigten Ästen der Kommunalbürokratie. Aber nein, Hannah ist Produzentin bei der BBC und verantwortet Fernsehserien wie Top Gear und Cars of the People. Wer auf der Arbeit mit 250-PS-Autos durch die jordanische Wüste donnert oder die schwierigste Alpinstraße der Welt bezwingt, der sehnt sich in der Freizeit anscheinend nach Natur und Ruhe.
Wir fragen einander gar nicht, ob wir zusammen weiterwandern wollen, sondern bleiben einfach im Gespräch als wir die Schafe hinter uns lassen. Und zur Mittagspause teilen wir Mais, Salat und Brot. Das Hühnchenfleisch ist leider roh, weil ich beim Einkauf nur Augen für den Preis hatte. Nutzlos. (Sowohl das geköpfte Huhn wie das kopflose Ich.)
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Gleich nach den Schafen, in Mother Ivey’s Bay, steht ein Hangar wie aus einem James-Bond-Film. Eine Rampe führt aus dem Meer zu einem auf Stelzen erbauten Halle, anscheinend für Schmuggel-Boote. Vom Küstenweg aus ist sie nur über eine steile Treppe zu erreichen.
Sehr mysteriös.
Bis ich merke, dass dies keine Startrampe für ruchlose Fischzüge, sondern für heldenhafte Rettungseinsätze ist.
An einem sonnigen Tag bei ruhigem Meer sieht das spaßig aus. Aber die Freiwilligen von der Royal National Lifeboat Institution RNLI werden meist gerufen, wenn es stürmt. Es stürmt viel und oft und heftig in den Gewässern um die Britischen Inseln. (Übrigens ein Grund für den Brexit, weil die Bürokraten in Brüssel die Wellenhöhe regulieren und Stürme am Wochenende verbieten wollten.)
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Andere Arten von maritimen Desastern sollen verhindert werden durch Leuchttürme, wie den von Trevose Head.

Früher konnte man bei den Leuchtturmwärtern immer auf einen Grog und eine Pfeife vorbeischauen, aber heutzutage sind die Dinger alle elektrifiziert, automatisiert und ferngesteuert. Das ehemalige Leuchtturmwärterhäuschen ist eine Ferienwohnung.
Hannah hat ein Zelt dabei, kommt aber dazwischen immer wieder bei Bekannten unter, von denen viele praktischerweise in kleinen Hafenstädtchen an der Küste wohnen. Heute bleibt sie in Porthcothan, so dass ich den Rest des Tages wieder allein bin.
Das mag ich an den Fernwanderwegen in Großbritannien. Die Wege sind nicht überlaufen, so dass man sich freut, anderen Wanderern zu begegnen. Man kommt ins Gespräch. Man teilt Essen und Tipps. Man wandert ein paar Stunden zusammen, bis einer doch schneller oder langsamer gehen will, mehr Pausen macht oder einfach seine Ruhe haben will. Alles ganz zwanglos. Wenn man in die gleiche Richtung wandert, trifft man sich vielleicht später wieder. Wenn nicht, dann nicht.
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Ich beneide Hannah, denn sie hat während der ganzen Wanderung kein einziges Foto gemacht. Sie genießt einfach. Für sich. Wie sie sagte: „Das Foto fängt sowieso nie die Stimmung ein, das Rauschen, das Salz, die Erschöpfung.“
Das ist wahre Freiheit!
Doch ich bin leider mit diesem Blog geschlagen, so dass ich auch am Nachmittag noch ein bisschen für Euch dokumentiert habe.
Auf diesem Abschnitt ist Mawgan Porth ein guter Ort, um in der geschützten Bucht zu schwimmen und um Fish & Chips zu tanken.
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Der nächste Ort, Watergate Bay, ist hierfür nämlich denkbar ungeeignet. Wie man am schlechten Architekturgeschmack von weitem erkennt, liegt hier Schnöseligkeit in der Luft und auf dem Tisch. Normales Essen zu normalen Preisen gibt es keines. „Soll dieser scheiß Jamie Oliver doch pleite gehen!“, rufe ich in den Wind, aus Wut über die für gewöhnliche Werktätige oder gar Wohlfahrtsabhängige unerschwingliche Speisekarte.

(Das war Anfang Mai 2019. Zwei Wochen später meldete die Restaurantkette tatsächlich Insolvenz an. Nehmt Euch also in Acht vor meinen kapitalismuskritischen Verwünschungen!)
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Ich erblicke Newquay, aber die Küste ist so zerklüftet, dass meine Ankunft im schon trauten neuen Heim noch etwas auf mich warten lässt. Hoffentlich habe ich Bigfoot genug Katzenfutter da gelassen. (Obwohl er so aussieht, wie wenn er locker einen Tag Diät vertragen könnte.)
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Am Samstagabend ist die Stadt sichtlich voller als sonst. Wochenende, Mai, Sonnenschein, irgendein Festival, das alles lässt die Menschenmengen anschwellen.
Die Besucher sind andere als im Rest Cornwalls. Weniger Rentner, die zum Aquarellmalen kommen. Mehr englische Unterschicht, die viel zu früh im Jahr kurze Hosen trägt und sich die Kälte nicht anmerken lässt, weil man ja nur einmal im Jahr ans Meer fährt. Eltern, die für die ausgestreckte Hand des auf der Hafenmauer balancierenden Mädchens keine freie Hand haben, weil diese mit dem Handy beschäftigt ist.
„Newquay ist ziemlich rau und heruntergekommen, nicht wahr?“ hatte Hannah gefragt, und wer britische Höflichkeit übersetzen kann, wird ahnen, was sie wirklich meint. Aber ich muss widersprechen. Newquay ist nicht St. Ives, aber eine brasilianische Favela ist es nun auch nicht.
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Klar, so kaputte Ecken gibt es. Aber es gibt auch äußerst schöne und gemütliche Flecken. Zum Beispiel den Park unter dem Eisenbahnviadukt. Oder den Park mit Teich, wo ich mich nach jeder Wanderung erschöpft ausruhe, etwas Sonne aufsauge und mit Leuten ins Gespräch komme.

Noch immer begehe ich den Fauxpas, mich auf England anstatt auf Cornwall zu beziehen, was regelmäßig zur Zurechtweisung führt. Hilfreicherweise aber auf Englisch, nicht auf Kornisch.
„Was macht denn den Unterschied aus zwischen England und Cornwall?“ frage ich neugierig.
Die Antworten bleiben meist vage.
„Wir sind freundliche Leute und kümmern uns umeinander.“
„Das Leben hier ist entspannter.“
„Schau dir doch nur die Natur an, die Strände, die Küsten! Ist es nicht schön hier?“
Manchmal habe ich den Eindruck, dass England ein Synonym für London, die stressige Großstadt, ist, wo man nur ungern hinfährt, wenn man vor Gericht oder vor einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss muss. Dass der Großteil Englands auch grün und hübsch und entspannt ist, bedenken die Südwestpatrioten gar nicht.

„Wir haben ein Gefühl für Heimat und Identität und Stolz.“
Das gibt es zwar überall anders auch, aber diese Aussage bringt unfreiwillig auf den Punkt, wie die meisten Nationen entstehen: Indem man will, dass sie entstehen, und fest daran glaubt.

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Wenn ich frage, ob jemand Kornisch spricht, ernte ich jedes Mal beschämtes Schweigen. Die Sprache ist im 18. Jahrhundert ausgestorben und soll jetzt künstlich wiederbelebt werden.
Wofür? Na, für Identität und Stolz und solche Sachen.
„Wir Alten tun uns noch schwer damit, aber die Kinder, die wachsen mit Kornisch auf. Die lernen das ganz von allein“, hoffen die Herren im Park, aber ich glaube, da täuschen sie sich.
Neben der Nutzlosigkeit leidet das kornische Sprachprojekt daran, dass es drei verschiedene Varianten des Neokornischen gibt, die sich nicht nur nicht miteinander verständigen können, sondern die regelrecht verfeindet sind. (Zum kornischen Terrorismus mehr in Kapitel 34.)
Einig sind sich alle nur in einem: „Wir sind auf keinen Fall Engländer!“

Ach ja, wie hört sich die kornische Sprache eigentlich an?
Ganz ehrlich, das scheint eher ein alkoholisches als ein linguistisches Projekt zu sein.
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Eines Nachmittags im Park erwähne ich unvorsichtigerweise, dass ich Geschichte studiere. Da steigt die Begeisterung unter den alten Herren:
„Schon unter den Römern war Dumnonia autonom.“
„Der Fluss Tamar ist eine der ältesten Grenzen in Europa.“
„Als die Westsachsen Devon eroberten, blieb Cornwall unabhängig.“
„Das hat sogar König Æthelstan anerkannt.“

„Auf der Mappa Mundi wird Cornwall als eine der wenigen Regionen in Britannien gesondert erwähnt.“

„Genauso auf der Landkarte von Sebastian Münster.“
„Nur Mercator hat sich geirrt, der alte Knacker“, sagt einer der alten Knacker.
„Dabei hat uns schon Vergil in seiner Anglica Historia als separate Nation erwähnt.“ Dass die Männer im Park sooo alt sind, hätte ich nicht gedacht.
Das ist hier übrigens nur die Kurzfassung, soweit ich sie später noch erinnern konnte. Ich traue mich nämlich nicht, mein Notizbuch zu zücken. Normalerweise befürchte ich, dass die Präsentation dieses Inquisitionsinstruments meine Gesprächspartner zum Schweigen bringt. Aber in dieser Runde bin ich mir sicher, dass es die gegenteilige Wirkung entfalten und zu ellenlangen Vorträgen führen würde. Aber vertraut mir: Auch mit allen Details ergäbe die Geschichte nicht mehr Sinn.
„Königin Elisabeth II. besteht doch nur darauf, dass Cornwall zu England gehört, weil sie so ihrem Sohn das Herzogtum Cornwall zuschustern konnte.“
„Als Trostpreis“, lacht ein anderer.
„Der uns finanziell auspresst wie eine Zitrone“, schmollt ein weiterer.
Im Verlauf der immer hitziger werdenden Diskussion stellt sich heraus, dass die aktuelle Königin doch nicht Schuld an der komplizierten konstitutionellen Konstruktion von Cornwall haben kann, denn das Herzogtum wurde 1337 ins Leben gerufen, um dem jeweiligen Prinzen von Wales (derzeit Prinz Charles) eine Privatkolonie zuzuschustern. So wie der Kongo für den belgischen König.
Die Herren sprechen dann von Vögten, Heimfallrechten, königlischen Fischen und Zinnabgaben, wovon ich rein gar nichts mehr verstehe, wie immer, wenn Briten zur Begründung aktueller Rechte auf Vorkommnisse aus dem Mittelalter zurückgreifen.
Ein Beispiel, und bleiben wir doch gleich bei den Zinnabgaben: Im Jahr 2000 trat ein „Revived Cornish Stannary Parliament“ auf die Bühne, erklärte sich zum Nachfolger des „Cornish Stannary Parliament“, einer irgendwie durch königliche Charta von 1201 gegründeten Repräsentanz der in der Zinnwirtschaft tätigen Cornwalisen, die 1753, nach britischen Maßstäben also vorgestern, zum letzten Mal getagt hatte. Diese Körperschaft hatte errechnet, dass das Herzogtum Cornwall in der Zeit von 1337 bis 1837 zu hohe Steuern eingenommen hat, und stellte eine Rückforderung von 20 Milliarden Pfund auf.
Die Rechnung ging an Prinz Charles, der jedoch als Treuhänder des Herzogtums Cornwall gar nicht befugt ist, Teile davon zu verkaufen. (Dieses Recht hat überhaupt niemand, weswegen das Herzogtum auch nicht aufgelöst werden kann, sondern stattdessen – wegen der bona-vacantia-Regeln über eigentümerloses Eigentum – immer mehr Grundbesitz anhäuft.) Das Geld könnte er also nur durch höhere lehensrechtliche Naturalabgaben oder Steuern eintreiben, so dass sich die Bevölkerung von Cornwall selbst die Entschädigung finanzieren müsste. Der Fall Cornwall gegen Cornwall liegt seither unerledigt beim Hohen Gericht und wird das wahrscheinlich noch genauso lang tun wie der Fall Jarndyce gegen Jarndyce.
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Wem das alles zu verwirrend ist, der sollte sich zum Mittagessen keinesfalls noch kognitive Dissonanz bestellen.

Geschmeckt hat es trotzdem. Fisch sollte eigentlich nur mit Aussicht auf das Meer oder den See gegessen werden, dem er an jenem Morgen entnommen wurde.
Auch aus dem Hafen von Newquay fahren die Fischer jeden Tag in die Schlacht gegen die EU-Fangflottenarmada und liefern sich einen Kabeljaukrieg.

Früher war das ein durchaus wichtiger Industriehafen, aber mit dem Epochenwechsel von der Segel- zur Dampfschifffahrt war dieses Kapitel zu Ende. Jetzt, mit dem Brexit, wird der gute alte Schmuggel wahrscheinlich wieder ein Boomgeschäft.
Die Fischer nehmen einen auch gerne mit auf Tour, ab 15 £ für zwei Stunden. Den Fang darf man behalten, das kann sich also rentieren. Ich überlege, ob ich mit rausfahren soll, nur für Bigfoot. Aber ich will weder einen hässlichen Mondfisch in Händen halten, noch einem Riesenhai in die Fänge fallen.
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Stattdessen empfehle ich das wirklich gute Speiseeis von Oggy Oggy, das zusammen mit Fish & Chips meine ausgewogene Ernährung konstituiert.
Nur wenige Meter von der Eisdiele beginnt eine Grünfläche mit Blick aufs Meer und auf das Häuschen des nachbarschaftsscheuesten Einwohners von Newquay. Da wohnt wahrscheinlich jemand, dem selbst der Brexit nicht weit genug geht.

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Ein Gedenkstein erinnert an den Besuch der Beatles in Newquay 1967, während der Dreharbeiten für den grottenschlechten und zurecht vergessenen Film „Magical Mystery Tour“.

Derzeit wird wohl ein Surffilm gedreht, denn jeden Tag werden Surfbretter durch die Stadt getragen, und zwar genau von den Leuten, die man in Surffilmen erwartet: braungebrannte langhaarige Jungs, Mädchen mit Sommersprossen, alle mit tätowierten Kompassen, damit sie nicht verloren gehen, und alle ungesund dünn und muskulös.
Außerdem ist Surfen anscheinend so langweilig, dass man es nur mit Drogen aushält.

Wenn ich am Strand sitze und eine Zigarre rauche, glauben die Surferinnen, dass ich einen besonders krassen Joint gebaut habe. Nach etlichen flirtenden Blicken, die ich nicht ernst nehme, weil die Mädchen eindeutig zu jung und zu attraktiv für mich sind, trauen sich zwei von ihnen zumindest gemeinsam, zu mir rüberzukommen.
Mist, zum Weglaufen ist es jetzt zu spät. Hoffentlich wollen sie mich nicht für ihren dämlichen Film rekrutieren.

„Hey!“
„Hey.“ (So begrüßt man sich wohl in der Szene.)
„Wie lange bist du hier?“
„Noch eine Woche.“
„Oh cool, dann sehen wir uns hoffentlich mal wieder.“
„Das würde mich freuen“, sage ich, weil man junge Menschen noch anlügen darf.
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Sicherheitshalber setze ich unverzüglich die Wanderung entlang des South West Coast Path fort, der praktischerweise durch Newquay führt, und zwar, wenig überraschend, immer entlang der Küste.

Schön ist, dass die gesamte Küste für den Wanderweg freigehalten wurde. Die Bebauung ist etwas zurückgesetzt, spärlich und – außer in der Watergate Bay (Kapitel 15) – niemals protzig.
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Immer wieder markieren Holzkreuze auf den Klippen, wo Wanderer vom Weg abgekommen sind.
Weil die morbide Leserschaft den genauen Unglücksort inspizieren möchte und weil ich heute noch nichts Dummes gemacht habe, klettere ich die Klippen hinab auf einen kleinen, aber scheinbar stabilen Vorsprung.
Das Gras ist so tief und dicht und frisch und weich, dass ich am liebsten hier schlafen würde, obwohl ich ein Haus mit Bett und Katze zur Verfügung habe. Das weiche Grün schmiegt sich an den Körper wie so ein passgenaues Sofa. Sogar mit Grashügeln, die perfekt als Kopf- und Armstützen funktionieren. Im Laden zahlen Menschen 1499 € für so etwas, hier kostet mich nur die das Vergnügen endgültig komplettierende Zigarre einen Euro. Hoffentlich brenne ich nicht das ganze englische Gras ab.
Vielleicht kommen deshalb so viele Obdachlose nach Cornwall?
Wer in Glasgow oder Newcastle obdachlos wird, blickt anscheinend in die traurige britische Wettervorhersage, sieht nur über Cornwall eine kleine Sonne scheinen und trampt nach Südwesten. Dabei sind Sonnenschein und Temperatur eigentlich aussagelose Werte hier. Allein die Windstärke bestimmt, wie stark man friert.

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Normalerweise finde ich mich überall schnell zurecht. Einmal durch die Stadt gelaufen, Osten, Westen, Norden, Süden, und schon kann ich die Fragen von Touristen nach dem Weg zum Strand oder zum Bahnhof beantworten. Aber in Newquay brauche ich ein paar Tage dafür.

Das liegt an den Landzungen, die sich weit ins Meer erstrecken und die meine Erkundungsspaziergänge, die sich konsequent an der Küste orientieren, zu stundenlangen Unterfangen werden lassen, um anschließend verwirrenderweise fast dort zu enden, wo ich losgezogen bin. Und es liegt am Gannel, südlich von der Stadt, den ich zuerst für einen Fluss halte, von dem ich aber feststellen muss, dass es ein Ästuar ist. Ich weiß auch nicht, was das ist, und diese Unkenntnis wird sich in Kapitel 39 bitter rächen.
Eigentlich ist es nur ein Flussbett, in dem man wandern und reiten kann. Von dem auf der Landkarte eingezeichneten Wasser ist nur ein Rinnsal zu sehen, über das ein aus Steinquadern gelegter Weg führt.
Und die südliche Seite ist sehr schön. Kaum bebaut, aber dafür sprießen die bunten Blümchen vor Glück. Eine dahin friedliche Herde von Schafen ist von einem Traktor so aufgeschreckt worden, dass sie wild blökend über den Hang hetzt.
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Ein imposanteres Kreuz als die zufällig von der Klippe Gerollten (Kapitel 25) haben die Söhne Newquays bekommen, die im Kampf gegen Kaiser, Faschismus und andere Unbill ihr Leben an den Klippen von Gallipoli, auf Okinawa oder am Goldstrand verloren haben.
Aden 1964 und Falklands 1982 sind noch unterhalb der Toten des Zweiten Weltkriegs angefügt, aber für Afghanistan wurde eine neue Tafel angebracht, wie in der Erwartung, dass der Militäreinsatz dort ewig dauern wird. Nur mehr 20 Jahre, und wir werden das 200-jährige Jubiläum des Ersten Anglo-Afghanischen Krieges begehen können.
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Während ich im Sonnenuntergang verträumt zurück nach Newquay wandele, erblicken mich die beiden Surferinnen aus Kapitel 23.
„Hey!!“
Oje.
Aber eine von ihnen liest ein Buch, das macht mich neugierig. Außerdem sind sie jetzt allein, die Surfkumpanen mussten wohl schon ins Bett.
Das Buch ist „The Reckoning“, erkenne ich beim Näherkommen.
„Studiert Ihr Jura?“ frage ich, denn wer sonst liest Bücher von John Grisham.
„Jaa!“ rufen sie begeistert und stellen sich als Kensa (23) und Jessica (25) vor, wie wenn ich mit den Altersangaben irgendetwas anfangen sollte.
Ach wie hübsch! Dann kann ich die verfassungshistorische Diskussion aus Kapitel 20 fortsetzen, und das auch noch mit Frauen vom Fach. Leider stellt sich bald heraus, dass sie mit den Anwaltsroben auch das juristische Wissen abgelegt haben und dass Mädchen im Badeanzug keine guten Gesprächspartnerinnen sind. Zum Glück fällt mir ein, dass ich ganz dringend die Katze füttern und kuscheln muss.
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In einer Seitenstraße vom Sainsbury-Supermarkt sitzen zwei heruntergekommene Männer, gezeichnet von Armut, Alkohol und vielleicht Schlimmerem. Das erbetene Kleingeld kann ich nicht erübrigen, aber etwas Zeit habe ich. Alex und Craig stellen sich vor, wir reichen uns formell die Hand, und als ich auf die Frage, woher ich komme, antworte, dass ich aus Deutschland bin, antwortet Alex erfreut: „Wie Heisenberg! Guten Tag.“
Ob er den Physiker persönlich kennt oder ob er mal Physik studiert hat, bleibt unklar, weil ihm Craig immer wieder ins Wort fällt.
Alex steht auf, so dass wir ein paar Schritte weiter gehen können und entschuldigt sich für seinen Kumpanen, der leider psychische Probleme habe. „Deshalb bin ich mit ihm unterwegs. Er braucht jemanden, der ihn beschützt.“
Schöne altmodische Solidarität, wie es sie wohl nur unter Armen gibt. Das hatte Charles Dickens richtig beobachtet.
Ganz nüchtern ist Alex aber auch nicht mehr, denn er fragt mich fünfmal, wie ich heiße, und gibt mir fünfmal die Hand, um sich vorzustellen.
Craig hievt seinen in viel zu viele Pullover gehüllten Körper hoch, wobei ihm ein Feuerzeug aus der Hand fällt. Instinktiv hebe ich es auf und reiche es ihm zurück. Das ist den beiden anscheinend noch nie passiert, denn sie erwähnen es immer wieder, wie um sich zu versichern, dass es wahr ist: „Hast du das gesehen? Der Herr hat mein Feuerzeug aufgehoben.“
Zum Abschied bedanken sie sich herzlich und überschwenglich: „Du bist echt ein guter Mensch.“ Craig umarmt mich wie ein Bär.
Nach Geld fragen sie gar nicht mehr. Es ist offensichtlich, wie selten sie jemand als gleichwertige Menschen behandelt. Dabei wäre das so einfach. Nur ein paar Minuten plaudern, sich in die Augen sehen, keine Furcht oder Abscheu, sondern Interesse zeigen. Und behauptet jetzt bitte nicht, dass Ihr dafür keine Zeit habt.
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Am nächsten Tag ist mal wieder Wandertag, diesmal von Perranporth nach Newquay, circa 20 km.
Der Strand von Perranporth ist nicht gerade voll, aber wer einen Hund hat, der muss bei trübem Wetter raus. Wobei sich der nominell kältere und bewölktere Tag erneut milder als ein sonniger, aber windiger Tag erweist.
Der Strand ist so lang und breit, dass zehntausend Menschen zwanzigtausend Hunde ausführen könnten, ohne dass er überlaufen wäre. Und dazwischen wäre noch Platz für die Landung von zwei Marineinfanterie-Divisionen.
Die Marineinfanteristen kommen mir in den Sinn, weil der Strand von Perranporth genauso tückisch ist wie die Strände in der Normandie. Überall ziehen sich kleine Wasserläufe durch den Sand, die einen plötzlich umspülen und vom Land abschneiden. Man muss dann ganz schnell zurücklaufen und einen anderen Weg einschlagen. Oder wagemutig über einen gerade erst aufgetretenen Kanal springen. Oder man wird nass.
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Überall auf der Welt ist der 24-Stunden-Zyklus in Tag und Nacht eingeteilt. Am Äquator ist dieser Rhythmus stabil, näher an den Polen variiert er mit den Jahreszeiten, aber das Prinzip ist überall gleich.
An den Küsten von Cornwall unterteilt ein weiteres Phänomen den Tag: Ebbe und Flut.
„Na und, du bist doch kein Schiff?“ denken sich jetzt die Leser in den Bergen, die bei Ebbe und Flut an den Unterschied zwischen ein- und ausgelassener Badewanne denken.
Aber für Wanderer ist die Kenntnis der Gezeiten enorm wichtig, überlebensnotwendig sogar. Denn wenn sich bei Flut das Meer ausdehnt, beansprucht es den Platz, den die Landschaftsplanung eigentlich der Naherholung zugedacht hat. So kommt es vor, dass man eine weite Bucht mit Sandstrand, imposant umfasst von steilen Klippen, sieht, dort ein Nickerchen macht – und ein paar Stunden später weggespült wird.

Ich muss mich entscheiden, ob ich den Weg über die Klippen oder barfuß über den Sand wähle. Ganz friedlich sieht die Bucht aus, also wähle ich den Surferweg statt den Klettersteig.
Immer dann, wenn man genau in der Mitte der (hier 3 km langen) Bucht ist, kommt die Springflut angerauscht, und man rennt Richtung Klippen um sein Leben, hoffend, dass man eine Stelle findet, an der man hochklettern kann.
Und klettern muss man ganz schön, denn die Flut misst hier nicht Badewannenniveau, sondern mehr als 7 Meter an zusätzlichem Wasser! Das sind mehr als zwei Stockwerke. Wenn die Klippen zu steil sind, und das sind sie oft, dann stirbt man halt.
Eine Alternative ist es, auf einen der Felsen zuzurennen, die aus dem Meer ragen, und dort auszuharren, bis die Ebbe einsetzt. Aber als Ortsfremder weiß ich natürlich nicht, welche Felsen oder Sandbänke vor der Flut schützen und welche nicht. Ich würde also wahrscheinlich im Meer stehen und einfach nur langsamer und weniger dramatisch ertrinken anstatt gegen den Felsen zu knallen.

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Schlaue Wanderer haben für solche Fälle ein Mobiltelefon dabei und rufen die Seenotrettung. Immer wieder sehe ich tieffliegende Helikopter, die hilflose Hunde samt Herrchen vor den hungrigen Haifischen retten.
Wer mich kennt, weiß aber, dass es mir gänzlich unangenehm wäre, jemand anderen wegen einer selbstverschuldeten Misere zu bemühen.
Außerdem, wie Ihr den letzten Fotos entnehmen könnt, habe ich es gerade noch geschafft, die steilen Felsen nach oben zu klettern. Es ist erstaunlich, was die herannahenden Wassermassen an Flinkheit und Geschicklichkeit zum Vorschein kommen lassen. Wie eine wasserscheue Katze bin ich senkrecht nach oben gesprintet.
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Ab jetzt werde ich nur mehr oben auf den Klippen wandern und mich von keinem Meerbusen in angeblich romantische Buchten locken lassen.
Aber hier oben lauert eine andere Gefahr, sogar rund um die Uhr, wetter- und gezeitenunabhängig. Man blickt aufs Meer, guckt in die Wolken, pflückt ein paar Blümchen, und plötzlich öffnet sich ein Krater, wie wenn die Grasnelken der letzte Faden gewesen wären, der die Erdkruste zusammengehalten hat.

Ich weiß gar nicht, wieso die Leute nach Turkmenistan zu diesem Feuerschlund fahren, wo sich hier auf Schritt und Tritt das Tor zur Hölle öffnet. Und zwar gleich neben dem Wanderweg. Ohne warnendes Schild, ohne schützenden Zaun. So ist das im Kapitalismus. Schiffe bekommen Leuchttürme spendiert, Menschen können verloren gehen.
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Vielleicht wurden die Löcher aber auch absichtlich gegraben.
In Kapitel 19 habe ich es schon angekündigt, jetzt ist das dunkelste Kapitel dieses Berichts erreicht: der kornische Terrorismus.
Wenn man schon seit Jahrhunderten für ein unabhängiges Cornwall streitet, diskutiert, publiziert und prozessiert (siehe Kapitel 20), dann bleibt es nicht aus, dass selbst unter den gutmütigsten Völkern dieser Erde manch einem die Geduld ausgeht. Man kennt das ja von ISIS und den Republikanern, wie schnell man sich radikalisieren kann.
Die kornischen Terrorgruppen heißen An Gof, benannt nach dem Hufschmied Michael An Gof – Ihr wisst schon, dem Anführer des Aufstandes von 1497 -, Kornisch-Nationale Befreiungsarmee und Kornisch-Republikanische Armee. Sie haben schon Feuer in einem Friseursalon, einer Bingohalle und einem der verhassten Schnöselrestaurants gelegt, aber immer nachts, damit niemandem etwas passiert. Ansonsten reißen sie englische Flaggen herunter, und in Tressilian sollen sie 2007 sogar ein anti-englisches Graffiti auf eine Gartenmauer gesprüht haben.
2017 behauptete die Kornisch-Republikanische Armee, dass eine Selbstmordattentäterin bereit sei, ihr Leben für Cornwall zu geben. Allerdings habe man dafür noch kein entsprechendes Ziel gefunden, und man wolle das Leben der jungen Frau nicht sinnlos vergeuden. Wahrscheinlich warten die Terroristen auf die nächste Bingo-Meisterschaft unter englischer Flagge.
Ich glaube, bei internationalen Terroristenkongressen werden die Cornwalisen nicht ganz ernst genommen.
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Aber weiter auf der Wanderung, denn heute ist es so bewölkt, dass ich – wie immer ohne Uhr unterwegs – keine Ahnung habe, ob der Weg nach Newquay überhaupt noch vor Einbruch der Dunkelheit zu schaffen ist. Mit all den fiesen Fluten und der Kletterei komme ich langsamer voran, als gedacht.
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Heute treffe ich keinen Wander- und Gesprächspartner. Alle, die unterwegs sind, haben schon Begleitung, entweder Mensch oder Hund. Wobei die Schafhirten die Hunde gar nicht gerne sehen, denn die Schafe sind anscheinend so pazifistisch, dass sie sich selbst von einem Dackel zerfleischen lassen, wie ein grausames Foto an einem Zaun eindringlich vor Augen führt.

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Westlich von Hollywell klaffen riesige Löcher in den Klippen, so rechteckig, dass sie unnatürlich aussehen. Wie U-Boot-Häfen.

Eine Assoziation, die durch die Militärbasis bestärkt wird, an der ich jetzt vorbei gehe. Wobei zwischen Kaserne und Meer natürlich ausreichend Platz für den Wanderweg gelassen wurde. Prioritäten müssen sein, Wandern geht über Wehrkraft, Natur vor NATO.

Allerdings sieht die Basis so aus, wie wenn sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr genutzt wurde. Und vielleicht nicht einmal dann. Denn ab 1939 wurden in Großbritannien etliche Scheindörfer, Scheinflughäfen und Scheinkasernen gebaut, die deutsche Bomben auf sich ziehen und damit echte Dörfer, Flughäfen und Kasernen schützen sollten. Auf den Scheinflughäfen gingen dafür ständig Lichter an und aus, und es wurde intensiver Funkverkehr simuliert, um regen Flugverkehr vorzutäuschen. Einer, der sich davon täuschen ließ, war Rudolf Heß, der bei seinem Sturzflug auf eine als Flughafen getarnte Wiese allerdings von noch viel weitgehenderen Fehlvorstellungen über Großbritannien geleitet wurde.

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Auch wer strikt auf dem Weg bleibt, ist nicht davor gefeit, in einen plötzlichen Abgrund zu stürzen.

Das Vereinigte Königreich verliert beständig an Land. Manchmal große Brocken auf einmal, wie 1776 in Nordamerika, 1947 in Indien und beim nächsten Referendum in Schottland. Aber viel öfter machen sich kleine Küstenabschnitte auf in die Unabhängigkeit. Die Erosion ist, wie vieles, was sich auf den ersten Blick nach Erotik anhört, zerstörerisch und habgierig. Mit ihren feuchten Klauen reißt sie immer wieder Fetzen aus der Insel, egal ob dort noch Menschen wohnen oder nicht.

Ich sag’s ja immer: Investiert nicht in Immobilien!
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Zurück zur Wanderung, die mich hoffentlich vor Einbruch der Dunkelheit zurück nach Newquay führen wird. Wenn ich die Karte richtig lese, muss ich nur noch einen Hügel überwinden, das Flussbett des ausgetrockneten Gannel durchqueren, und schon bin ich zuhause, wo Bigfoot bereits darauf wartet, dass ich den ganzen Abend im Fernsehsessel verbringe.
Aber hinter dem letzten Hügel wird es kompliziert. Die Flut kommt nämlich nicht wie die Nacht einmal, sondern zweimal pro 24 Stunden. Und nicht jeden Tag zur gleichen Uhrzeit. Und natürlich an jedem Küstenabschnitt wann anders. In den Buchhandlungen gibt es ein Büchlein zu erwerben, das für alle Strände, Häfen und Leuchttürme die genauen Ebbe- und Flutzeiten vorhersagt, aber die Tabellen sehen so aus, wie wenn man sie ohne Studium an der Marineakademie nicht verstehen kann.

Wenn ich ein Kapitänspatent von Dartmouth hätte, dann hätte ich auch gewusst, was ein Ästuar ist. Das ist so ein Zwischending zwischen Flussdelta und Meeresarm. Und nun weiß ich auch, wieso das kleine Bächlein so ein riesiges Flussbett braucht: Es füllt sich nämlich zweimal am Tag mit dem von der übermütigen Flut herangeschwemmten Wassermassen.
Dummerweise tut es das genau jetzt.
Mein Rückweg ist abgeschnitten.

Die Pflöcke markieren, wo sonst der Weg verläuft, aber er ist schon mehr als einen Meter unter Wasser. Gut, da könnte ich noch durchwaten, aber es gibt ein weiteres Problem: Der Wasserspiegel steigt unaufhörlich, und starke Strömung drängt landeinwärts.
Von Minute zu Minute werde ich unüberwindbarer abgeschnitten.
Ich rechne verzweifelt: Zweimal pro Tag Flut, zweimal pro Tag Ebbe. Also dauert eine Flut mindestens 6 Stunden. Es dürfte jetzt etwa 18 Uhr sein, und die Flut beginnt gerade erst. Bis zur Ebbe müsste ich also bis nach Mitternacht warten, und mich dann im Dunkeln durch das tückische Ästuar wagen.
Nein, das ist zu riskant, das sehe sogar ich ein.
Also muss ich zuerst zurück auf den Hügel klettern, um mich in Sicherheit zu bringen, und dann im Wettlauf gegen die Flut landeinwärts laufen. Wenn ich schneller bin als das Wasser, muss ich irgendwann eine Stelle erreichen, wo ich noch schnell durch das Flussbett waten kann. (Oder im Treibsand stecken bleibe und ertrinke.)
Das Tal füllt sich unerbittlich mit Wasser. Immer wieder steige ich von den Hügeln herab, in der Hoffnung, von Süden nach Norden, von Gefahr nach Sicherheit, von Wildnis nach Zuhause kreuzen zu können. Aber jedes Mal ist das Wasser schon da, wie wenn es sich lustig macht über meine kraftlosen Anstrengungen.

Jedes Mal muss ich enttäuscht den Rückzug antreten, wobei ich wieder wertvolle Zeit im Wettkampf gegen die Gezeiten verlieren. Die vom Atlantischen Ozean hereindrängenden Wassermassen sind viel schneller als ich je sein könnte, dabei verzichte ich sogar auf Rauchpausen.
Am Ende bleibt mir nichts anderes übrig, als mehrere Meilen und Stunden Umweg auf mich zu nehmen, bis ich zu einer Straße gelange, die sicher über die Wasserstraße führt.
Natürlich könnte man das Problem lösen, indem man an der Mündung des Gannel eine hohe Brücke baut. Aber immer, wenn ich das vorschlage, sagen die Leute aus Newquay: „Wofür denn?“ „Aber da gab es noch nie eine Brücke.“ „Das braucht doch niemand.“ Wenn man hier lebt, gehen einem die Zeiten von Ebbe und Flut anscheinend so in Fleisch und Blut über, dass man mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die aquatische Verwirrung gleitet.
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Am nächsten Tag fahre ich nach Perranporth, um von dort den South West Coast Path weiter nach Westen zu laufen. Da muss ich mir keine Gezeiten merken, sondern nur, wann der letzte Bus zurück nach Newquay fährt.
Von Perranporth geht es so steil bergan, dass ich mich freue, oben auf den Klippen eine Bank mit weitem Blick über das morgendliche Meer anzutreffen. Zeit für die erste Pause, nach etwa 20 Minuten Wanderung.

Die Bank steht vor einem Häuschen, das sich seinen Ausblick hoffentlich nie mit dem Konsum von Nachrichten wie in Kapitel 38 verdirbt.
Wer hier wohl wohnt, frage ich mich, als – wie um zu beweisen, dass Cornwall noch kleiner ist als die schon sprichwörtliche kleine Welt – Hannah mit geschultertem Rucksack und voller Tatendrang aus dem Häuschen tritt. „Das ist eine Jugendherberge,“ erklärt sie, „und zwar eine der schönsten, in denen ich je war.“ Um den Campingplatz im Garten ist sicherheitshalber ein kleiner Zaun gezogen, es geht immerhin ein paar Meter in die Tiefe.
Hannah geht heute nur ein kurzes Stück, weil sie in St. Agnes bei Freunden unterkommt. Das liegt auf meinem Weg, und so ziehen wir zusammen gen Westen, oft gefährlich nah an den Klippen.
Ich sollte echt weniger Geschichten erzählen und mehr auf den Weg achten, sonst werde ich selbst zur Geschichte, wogegen ich, wovon dieser Blog zeugt, grundsätzlich zwar keine Einwände habe, bei denen ich mir aber, wenn schon kein hollywoodklischeemäßiges Happy End, so doch das unverletzte Überleben des Protagonisten ausbedinge.
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Ebenfalls abgestürzt ist die Zinnindustrie, nicht zuletzt wegen der in Kapitel 20 erwähnten Überbesteuerung durch den Feudalherren. Wenn Prinz Charles nicht so raffgierig wäre, dann würden hier die Hämmer schlagen, die Öfen glühen und die Münzen klimpern.
Jetzt flattern nur die Fledermäuse erschreckt auf, als wir durch die Ruinen steigen.
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St. Agnes ist so ein Ort, an dem man bedenkenlos vorbeilaufen würde, wenn man nicht auf der Karte gesehen hätte, dass er eine Kirche, eine Bibliothek und sogar ein Pub hat.

Im Railway Inn ist es allerdings so stumm, als wir eintreten, wie wenn wir bei einem Begräbnis stören. Die zwei Männer am Tresen schauen weiter in ihr Bier. Der Wirt kommt aus der Küche und bedauert nicht wirklich, dass es kein Mittagessen gibt.
Wir ziehen weiter zum „Miners & Mechanic Institute“, wo freundliche Frauen in einem bunten Café fröhlich gesundes Essen servieren.


Auch solche Cafés machen Fernwanderungen in Großbritannien zu einem Vergnügen. Man findet sie in kleinen Orten, sie vermitteln ein Wohnzimmergefühl, sehen sich mehr als Treffpunkt für Gespräche denn als ein Wirtschaftsunternehmen. Die Speisekarte ist handgeschrieben. Die Mutter steht in der Küche, und wenn das Essen fertig ist, steht die Tochter von ihren Schulaufgaben auf, um es an den Tisch zu bringen. An den Wänden werden Aquarelle, Töpferhandwerk und gestrickte Handschuhe zum Verkauf angeboten. Oft zugunsten eines Gemeindemitglieds, das Krebs bekommen oder ein Bein verloren hat. In einem Regal stehen Bücher zum Entleihen oder Mitnehmen. Eine Broschüre des „St Agnes Writers Club“ lädt ein, Gedichte für die nächste Anthologie beizusteuern. Schade, dass sie keine Reiseschriftsteller suchen.
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Zwei Damen am Tisch nebenan unterhalten sich über die Menschen, die in den vergangenen Tagen von den Klippen gestürzt sind.
„Die drei Teenager, die über den Zaun zum Festival wollten, das ist traurig.“
„Und der Junge, der die Mauer einer alten Ziegelei entlang ging und am Ende die Klippe hinunter fiel.“
„Fünf Stunden waren die Rettungsmannschaften beschäftigt!“
„Ich habe den Helikopter gesehen.“
„Der ist im Krankenhaus. Wird nie mehr unbeschwert leben können, sagen sie.“
„Wenigstens nicht tot.“
„Naja.“
„In Newquay ist letzte Woche auch einer abgestürzt.“
„Aber das war ein Tourist.“
„Die Touristen sind echt die dümmsten.“
In diesem Moment erkannte ich die Torheit meines Unterfangens. Als vor dem Café ein Bus hielt, rannte ich hinaus, sprang auf und flog nach Bayern, sichere 1000 km vom nächsten Meer entfernt.
Links:
- Die Website des South West Coast Path hat alle Informationen, die man zur Planung braucht, inklusive Etappenvorschläge für unterschiedliche Wandertempi, Tagesausflüge, Informationen zu Bus und Bahn, zu Übernachtungsmöglichkeiten und zu allem, was es unterwegs zu sehen gibt.
- Wanderführer gibt es wie Sand am Meer. (Endlich passt der Vergleich einmal.) Am besten sind wohl die aus der Trailblazer-Reihe (Band 1, Band 2, Band 3).
- Mehr Wanderungen.
- Mehr aus Großbritannien.
- Wenn Ihr auch mal Housesitting – in Cornwall oder anderswo – machen wollt, dann habe ich ein paar Tipps für Euch.
- Spenden für die RNLI (Kapitel 12) und für diesen Blog.
Gewohnt schön geschrieben.
Dankeschön!
Aber als nächstes wandere ich besser um den Bodensee, da dürfte es nicht so dramatischen Tidenhub geben.
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Sehr schöner Schreibstil und sehr schöne Bilder! Danke! Das macht richtig Lust auf Cornwall : -)
Vielen Dank!
Wenn ich daran zurück denke, bekomme ich auch wieder Lust, noch ein paar Abschnitte der Küste abzuwandern – und in dem wunderbar weichen Gras einen Mittagsschlaf zu halten.