Abendessen à la carte

Mehr als acht Stunden bin ich unterwegs gewesen, auf dem Weg zur Tara-Schlucht, durch ausgestorbene Dörfer und dichte, dunkle Wälder wie aus Grimmschen Märchen. Die Sonne hat sich den ganzen Tag nicht gezeigt, und es ist unklar, ob die kalte, feuchte Suppe, die mich umwabert, noch Nebel ist oder schon die Wolken sind. Mir ist kalt bis auf die Knochen, und die dunklen Tannen, das matte, abgestorbene Gras und die Abwesenheit jeglichen Vogelgezwitschers macht es nicht besser. Wenn ich noch länger in dieser Landschaft verbliebe, würde meiner Seele genauso kalt werden wie meinen Zehen.

Zabljak highlands spooky

Zurück in Žabljak benötige ich also dringend einen Ort zum Aufwärmen. Es ist der letzte Tag im Oktober, weit nach Ende der Saison, und nur in wenigen Fenstern brennt Licht. Immer mal wieder kommt ein Hund zum Vorschein, der mir eine Weile nachtrabt. Erst am Busbahnhof werde ich fündig: ein kleines Restaurant, eher ein Wirtshaus oder eine Kneipe.

Zabljak highlands house tree

Sobald ich eintrete, spüre ich die wohlige Wärme. Manche der Gäste haben trotzdem ihre Anoraks oder Winterjacken an, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht damit sie schneller verschwinden können, wenn die Forstpolizei oder die Blutrache hereintritt. Alle Gäste sind Leute vom Schlage Holzfäller, Automechaniker, Metzger. Hier falle ich mit meinen schmutzigen Schuhen und meinem karierten Hemd nicht auf.

Denkste! Natürlich falle ich sofort als Fremder auf, denn in einem Ort mit etwa 2.000 Einwohnern wird jeder Neuankömmling argwöhnisch beäugt. Mit einem in den oben, unten und an den Wänden mit Holz vertäfelten Gastraum geworfenen „dobro veče“ zeige ich gleichzeitig, dass Serbisch/Montenegrinisch nicht meine Muttersprache ist und dass ich höflich bin. Die Mienen entspannen sich. In die erhofften Gespräche werde ich hier trotzdem nicht kommen, das spüre ich. Oder wenn, dann nur über viel Alkohol.

Auf den meisten Tischen stehen jedoch Fantaflaschen. Ich bestelle eine Cockta, weil ich das bisher überall in Montenegro bekommen habe. Die Kellnerin sagt, sie hätten stattdessen Fanta. Anscheinend kommt der Getränkewagen nur einmal pro Woche  in die Berge.

Eine Speisekarte gibt es nicht. Die Kellnerin merkt, dass es angesichts meines Sprachdefizits zu kompliziert wäre, das Angebot verbal zu erklären und bedeutet mir kurzerhand: „Komm mit!“ Ich folge ihr durch die Küche in die Speisekammer, wo mir in der Tiefkühltruhe eine Auslage wie in einer Metzgerei gezeigt wird, mit Steaks, Koteletts, Würsten u.s.w. „Grill“ erklärt die Kellnerin die anscheinend einzige Zubereitungsmethode. Die Steaks sind so groß, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie man eine Kuh aufschneiden muss, um solche Stücke zu erhalten. Vielleicht wird sie vorher plattgewalzt. Oder es sind Bärensteaks. Drei Würste sind genug für mich.

Über dem falschen Kamin hängt ein Bild des Klosters Ostrog. Die Musik ist melancholisch-tragisch bis schnulzig. Fünf Euro kostet das Abendessen inklusive Salat und Getränk. Um 19:45 Uhr verlassen die letzten anderen Gäste das Wirtshaus. Ein Bergdorf in diesem rauhen Klima ist kein Ort für lange Nächte, und Menschen, die den ganzen Tag Baumstämme zerlegt haben, fallen jetzt selbst ins Bett wie ein gefällter Baum.

Morgen fahre ich an die Küste Montenegros, wo es noch 25-30 Grad hat und wo die russischen Millionäre auf ihren Yachten speisen. Ein Land der Gegensätze, wie wenn man den ganzen Kontinent von Portugal bis zum Ural in dieses kleines Land gezwängt hätte.

Promenade Tivat

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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4 Antworten zu Abendessen à la carte

  1. American Viewer schreibt:

    Ein toller Bericht. Du könntest ein Buch schreiben. Oder eher ein Dutzend.

    OT: Warst du nicht JB-Fan? Es gibt einen neuen Trailer:
    http://www.imdb.com/title/tt2379713/

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank!
      Ja, wenn ich nur nicht so träge und undiszipliniert wäre! Ich müßte mich mal ein Jahr mit meinen gesammelten Notizbüchern in eine mittelalterliche Burg einsperren lassen, aus der ich nur entlassen werde, wenn ich druckreife Manuskripte abliefere. Ich erinnere mich, das wir kürzlich kurz das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert hatten. Ich wäre so jemand, der das zum kreativen Schaffen nützen würde. Aber jetzt muss ich immer noch als Übersetzer und Jurist arbeiten (wenn auch weit weniger als zuvor, weil ich mich an einen minimalistischen Lebensstil gewohnt habe) und habe so nie einen ganz freien Kopf.
      Und dann fehlt mir noch ein roter Faden für ein Buch. Ich habe gute Geschichten aus dem Iran, Erlebnisse aus Israel, Jersey und Sizilien, Beobachtungen aus Tallinn und Las Vegas. Das alles passt aber nicht richtig zusammen und wäre keine „runde Sache“.

    • American Viewer schreibt:

      Und dann fehlt mir noch ein roter Faden für ein Buch. Ich habe gute Geschichten aus dem Iran, Erlebnisse aus Israel, Jersey und Sizilien, Beobachtungen aus Tallinn und Las Vegas. Das alles passt aber nicht richtig zusammen und wäre keine “runde Sache”.

      Hm. Dann mach doch ein Buch in der Richtung „gesammelte Reiseberichte“. Der rote Faden besteht dann darin, dass es sich um Reiseberichte handelt. Die Abwechslung ist dann kein Manko, sondern ein Qualitätsmerkmal.

      Ein andere, ähnliche Idee wären Kurzgeschichten. Ich kenne so einige Leute in meinem Bekanntenkreis, die auch „Bücher“ schreiben wollen. Diese Leute machen allerdings immer den Fehler, dass sie wirklich gleich ganze Bücher schreiben. Da kommt selten etwas Gutes heraus. Weniger ist bekanntlich mehr.

    • Andreas Moser schreibt:

      James Bond ist auf diesem Blog nie off-topic, insbesondere nicht unter einem Artikel über Montenegro (Casino Royale).
      Nur mehr einen Monat… Ich bin gespannt.

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