Sankt Nikolaus im Mai

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Überall auf der Welt kommt der Heilige Nikolaus am 6. Dezember. Nicht so in Bari, einer Stadt im Süden Italiens. Hier kommt er im Mai und bleibt gleich eine ganze Woche.

19:40 Uhr. Mittwoch, 7. Mai 2014. Der Hafen von Bari. Kleine Fischerboote in allen Farben genießen ihren Feierabend. Segelschiffe warten auf den Sommer. Gegen Abend wird es windig und kühlt etwas ab, aber der ansonsten sonnige, fast heiße Tag hängt noch in der Luft. Das Licht der untergehenden Sonne spiegelt sich für ein paar Minuten auf der gegenüberliegenden Mole.

Hafen Abend

Darsteller von historischen Figuren mit Trommeln und Hellebarden stehen neben einem aus Holz aufgebauten und mit einem dicken roten Teppich bezogenen Steg. Auf ihren Umhängen prangt ein großes, goldenes N, für den Star des heutigen Abends. Daneben Marinesoldaten, Polizisten, Carabinieri, die Umweltpolizei. Einige der aktuellen Uniformen sehen historischer aus als die der auf alt getrimmten Ritter. Zwei weiß uniformierte Polizistinnen tragen Säbel. Einer der Ritter telefoniert mit seinem Mobiltelefon.

Nikolaus Armada

In die Dämmerung hinein schieben sich in der Ferne blinkende Blaulichter. Vom Meer her kommen fünf Polizeiboote und ein Boot der Marine mit einer Geschwindigkeit, die mit den Lichtsignalen und Sirenen nicht in Einklang steht. Nur langsam kommt der Schwarm an Schiffen näher, fast vorsichtig, so wie wenn er eine wertvolle Fracht beschützt. Und tatsächlich: Im Zentrum dieser Armada ragt das größte Boot heraus. Es ist mit Aufbauten versehen, die wiederum mit Girlanden, Blumen und Fahnen geschmückt sind. Die bunten Bänder wehen im Wind, genauso wie die italienische und die EU-Flagge. Manchmal heult eine Sirene auf.

Das im Zentrum dieses Zugs stehende Schiff wendet etwa 10 Meter von der Kaimauer entfernt, um dann rückwärtig an den Steg anzudocken. Dabei wird der Name des Bootes sichtbar: Nicolaus. An Bord steht ein Bild auf einer Staffelei. Es ist die Ikone des heiligen Nikolaus, die hier in Bari feierlich an Land getragen wird.

Boot mit Ikone

Warum ausgerechnet Bari? Weil vor 927 Jahren süditalienische Kaufleute die Gebeine des Heiligen Nikolaus aus seiner Grabstätte in Myra in der heutigen Türkei entwendeten und nach Bari entführten, wo dann zur weiteren Lagerung der Beute eigens die Basilika San Nicola errichtet wurde. Dort ruhen die Gebeine noch heute.

Zwei kräftige Männer nehmen die Ikone in ihre Mitte und machen sich zwischen Uferpromenade und Stadtmauer auf den Weg. Vorweg laufen die beiden uniformierten Damen, die ihre Säbel jetzt gezückt haben und mit ausgestreckten Armen vor sich halten, um sowohl ihre Bereitschaft zur Verteidigung des eben angelangten Gemäldes auszudrücken, als auch um sich den Weg zu bahnen. Etwa 10 Meter davor eine Anordnung von mittelalterlich gekleideten Trommlern, die die Prozession ankündigt und den Weg weist. Neben den Ikonenträgern laufen etliche Marineoffiziere und Polizisten, dahinter folgt wer immer schnell genug ist, um Schritt zu halten. Denn diese Prozession geht nicht, sie läuft.

Ikone mit Eskorte

Durch ein Tor in der Stadtmauer, durch enge Gassen, immer mit dem dröhnenden Trommelwirbel vornweg. Da ich Fotos mache, falle ich manchmal zurück, komme dann nicht mehr an der Prozession vorbei und muss durch Seiten- und Parallelgassen sprinten, um ihr wieder zuvorzukommen. Die Trommler weisen mir den Weg. Einige Bareser schaffen es, die vorbeigetragene Ikone kurz zu berühren und dann ihre Hand zu küssen. Sie sind vor Freude außer sich. An der weißgetünchten Kathedrale vorbei geht es zum Schwäbischen Schloss, so benannt nach Kaiser Friedrich II. Hier wird das Nikolausbild auf ein enormes, hölzernes Boot gehievt, das jetzt allerdings nicht im Hafen liegt, sondern auf einem langen Heuwagen aufgebaut ist. Badathea ist der Name dieses Bootes. Der entführte Nikolaus kann hier eine Verschnaufpause einlegen. Unter den Palmen und im orientalischen Gewirr der engen Altstadtgassen von Bari muss er sich richtig heimisch fühlen.

Aber ein Schiff, das steht, macht keinen Sinn. Zwei dicke Taue gehen von dem Heuwagen ab, auf jeder Seite postieren sich acht kräftige Männer. Noch können sie sich die eine oder andere Zigarette gönnen, denn sie bilden nur das Ende des kilometerlangen Zuges. Vor ihnen natürlich wieder Trommler, Darsteller verschiedener historischer Figuren, von Bauern bis zu Bischöfen, Fahnenträger, Akrobaten, Sänger, Posaunenchöre, und dazwischen immer wieder Trommler, Trommler, Trommler. Den ganzen Abend wird die Stadt beben vor dumpfen Schlägen.

Ich postiere mich auf dem Viktor-Emanuel-Boulevard, der breiten Prachtstraße Baris, um dort auf die Prozession zu warten. Ich bin jetzt ca. 250 Meter von meiner Wohnung entfernt, könnte aber nicht nach Hause gelangen, so dicht stehen die Nikolaus-Fans gedrängt. Dann muss ich eben ein paar Stunden ausharren. Dort wo ich stehe, haben die Teilnehmer des Zuges schon zwei Stunden hinter sich wenn sie vorbeikommen. Manchen sieht man die Erschöpfung an. Nur ein Chor von Kindern im Grundschulalter ist fit wie beim ersten Lied. Aus voller Kehle versetzen sie die Stadt in Begeisterung. Erst ganz am Ende des Zuges, nach vier Stunden, kommt das Holzschiff mit der Ikone des Heiligen um die Ecke gebogen, gezogen von erwachsenen Männern, denen man die Energie des Kinderchores wünscht.

Holzschiff mit Ikone

Ich laufe zurück zum Hafen, um dort noch eine andere Perspektive auf das Spektakel zu erheischen, aber dort ist der Zug noch gar nicht angekommen. Auf dem Weg dorthin gönnt er sich nämlich noch einen Umweg, um wirklich das meiste aus dem Abend rauszuholen.

Es ist 23 Uhr, ich muss mich endlich stärken. Die Küstenstraße ist auf Kilometer hinaus beidseitig gesäumt von Ständen, die Gebratenes, Frittiertes, Süßes, Gegrilltes, Eisgekühltes, Salziges, Klebriges, Buntes, Schmackhaftes, Kalorienreiches aber nicht allzu viel Gesundes verkaufen. Die verschiedenen Gerüche vertragen sich gut miteinander, die aus den Lautsprechern der Buden dröhnenden Bässe und Gesangseinlagen weniger. Die Einwohner von Bari werden dank dieses Festes insgesamt geschätzte 1 Million Kilos zunehmen. Als integrationswilliger Neubürger trage ich zu dieser gemeinsamen Kraftanstrengung gerne meinen Teil bei. Der Heilige Nikolaus ist der Schutzpatron vieler (u.a. Seeleute, Rechtsanwälte, Apotheker, Bäcker) aber bestimmt nicht derer, die auf Diät sind. Während des Abendessens höre ich noch das Trommeln aus den fernen Straßenzügen.

Beleuchtung

Morgen um 6:45 Uhr gibt es die nächste Prozession. Ab 4:30 Uhr macht die Basilika auf, und ab 5 Uhr gibt es stündlich eine Messe. Es wird in dieser Woche so viele Gottesdienste geben, dass man noch leichter das christliche Jahrespensum absolvieren kann als zu Ostern oder Weihnachten.

9:45 Uhr. Donnerstag, 8. Mai 2014. Auf der Mole Sant’Antonio. In 15 Minuten findet auf der gegenüberliegenden Mole San Nicola (natürlich ist auch ein Teil des Hafens nach dem Schutzpatron benannt, genauso wie das Fußballstadion, Schulen und die meisten der männlichen Einwohner Baris) ein Gottesdienst statt, aber für mich beginnt der Tag mit Böllerschüssen. Zehn Minuten lang donnert es ununterbrochen, und der helle Himmel über dem Hafen färbt sich grau vor Rauch. Ältere Einwohner fühlen sich womöglich an die Bombardierung Baris durch die deutsche Luftwaffe am 2. Dezember 1943 erinnert. Jene Nacht brachte Bari die fragwürdige Auszeichnung ein, als einzige Stadt in Europa während des Zweiten Weltkriegs die Folgen der chemischen Kriegsführung zu erfahren.

10 Uhr. Mole San Nicola. Egal was gefeiert wird, es ist auch ein normaler Donnerstagvormittag. Also arbeiten die Fischer an und auf ihren Booten. Im Klang der Choräle und Posaunen werden frische Muscheln, Seesterne, Tinten- und andere Fische feilgeboten. Die Kleriker versuchen mit möglichst viel Weihrauch dagegen zu halten.

Abends wieder ein feierlicher Umzug. Der mehrstündige Trommelwirbel vom Vortag scheint auch die letzten Bareser auf das mehrtägige Fest aufmerksam gemacht zu haben. Das Gedränge ist doppelt so dicht wie am Tag zuvor. Heute wird anstatt der Nikolaus-Ikone eine lebensgroße Statue des Heiligen mit goldenem Umhang und Heiligenschein vom Hafen aus aus durch die Stadt getragen. Die Gläubigen bekreuzigen sich, wenn die Statue an ihnen vorbeigetragen wird.

Statue vor Burg 1
Statue vor Burg 2
Statue Abendmesse

Noch zwei Stunden bis zum abendlichen Feuerwerk. Angesichts der Menschenmengen und dem noch zu erwartenden Zuwachs derselben muss ich mir also schon jetzt einen guten Aussichtspunkt suchen. Klare Sicht ist wichtiger als Nähe, also dränge ich mich durch zur nächsten Mole, um zu eruieren, wie von dort aus der Blick über den Hafen aussieht. Was vernehmen meine Ohren da? An der Spitze der Mole findet schon wieder ein Gottesdienst statt, neben der golden leuchtenden Nikolausstatue. Wie kam die so schnell hier her? Oder gibt es gleich mehrere von diesen Nikoläusen? Der Bischof, der die Mütze trägt, die der den Anlass zum Fest gebende Bischof von Myra modern gemacht hat, spricht darüber wie Nikolaus als Bindeglied zwischen Ost und West (im Italienischen verwendet man dafür die schönen altertümlichen Begriffe Orient und Okzident) dienen kann. Dass aus der Türkei die Reliquien zurückgefordert werden, erwähnt er nicht. Den Raubzug bezeichnet er durchgehend als “traslazione”, also als Überführung. So wird kein öst-westlicher Dialog zustande kommen.

Unterhalb der Mole, wo ich es mir gemütlich zu machen versuche, ist leider der Platz, der von Jugendlichen den ganzen Abend über zum Pinkeln benützt wird, nachdem sie sich in der Hafenbar mit Bier versorgt haben. Hier werden heute Hektoliter an Peroni-Bier ins Meer fließen. Ich merke mir vor, morgen keine frisch gefangenen Fische zu kaufen. Der Gestank von Marihuana konkurriert mit dem Weihrauch. Ich ziehe also an der Uferpromenade weiter nach Süden, bis es etwas lichter wird und finde so, ganz zufällig, den perfekten Platz um das Feuerwerk zu bewundern. Es spiegelt sich so im Hafen, dass es den Effekt verdoppelt. Ab jetzt wird für mich jedes Feuerwerk ohne Wasser nur mehr ein halbes Feuerwerk sein.

Feuerwerk

Ein 15-minütiges Feuerwerk, das wäre doch ein perfekter Ausklang für ein Fest. Aber es ist noch lange nicht vorbei. Morgen werden wieder etliche Messen, Umzüge und am Abend nochmal ein Feuerwerk stattfinden. Zur Sicherheit, falls heute jemand keine Zeit hatte. Die nächsten beiden Samstage gibt es noch jeweils eine feierliche Prozession, und bis zum 13. Mai dauert die Ausstellung der “Biere des Heiligen Nikolaus”.

Dagegen ist ein Stiefel vor der Tür richtig schäbig.

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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8 Antworten zu Sankt Nikolaus im Mai

  1. Pingback: Santa Claus in May | The Happy Hermit

  2. Pingback: Was erwartet Ihr von 2015? | Der reisende Reporter

  3. Ich wusste gar nicht, dass auch im katholischen Italien Ikonen von Heiligen verehrt werden.

  4. Pingback: Die Heiligen Geister der Azoren | Der reisende Reporter

  5. Bravo, was für ein Nikolausfest! Schön, ein wenig dabei gewesen zu sein.

    • Andreas Moser schreibt:

      Das war wirklich eine Riesen-Fete!
      So macht Nikolaus Spaß. 🙂

      Irgendwo muss ich noch etliche Videos herumliegen haben, die werde ich irgendwann noch ergänzen.

  6. Pingback: Santa Claus in May | The Happy Hermit

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