Seit Jahren kämpfe ich gegen das Vorurteil, dass jeder, der um die Welt reist, auf einem Selbstfindungstrip ist. Und dann erscheinen ständig Bücher von Leuten, die auf der Suche nach sich selbst um die Welt trampen. Zuletzt hatte ich „Warm Roads“ von Stefan Korn rezensiert, der auf seiner Weltumrundung weder einen entspannten, noch einen besonders sympathischen Eindruck gemacht hat.
Wesentlich entspannter und lockerer lässt es Nic Jordan angehen, die in „aWay“ von London nach Australien trampt. Eile hat sie eigentlich nur, wenn ein Visum abläuft. Ansonsten macht sie gerne Umwege, z.B. durch ganz Skandinavien, bleibt auch mal ein paar Wochen an einem Ort hängen, und steigt unterwegs aus, wenn ihr ein Ort spontan zusagt.
Und sie nimmt sich Zeit, um die Menschen kennenzulernen. Nicht nur aus Interesse, sondern auch, um mit Gesprächen, Aufmerksamkeit und Unterhaltung etwas zurückzugeben im Austausch gegen eine Fahrt oder eine Unterkunft. (So halte ich es auch.) Wenn sie auf bedürftige Menschen trifft, dann teilt sie ihr Essen mit dem Obdachlosen und steckt ihm noch unbemerkt einen Geldschein in die Tasche.

Mit so einer Herangehensweise (und mit etwas Mut) ergeben sich bewegende Geschichten, wie von dem Mann, der sie an einem Winterabend in Finnland von der Straße aufliest, wortlos ihren Rucksack ins Auto packt und ihr bedeutet, einzusteigen. Mangels gemeinsamer Sprache können sie nicht kommunizieren, und bald bemerkt sie, dass dem Fahrer eine frische Narbe über das gesamte Gesicht läuft. Nic Jordan schließt mit ihrem Leben ab, vermutet das Schlimmste, greift schon zum Pfefferspray in der Jackentasche, als der Fahrer bei einem Haus einbiegt, wo seine Frau, zwei Kinder und ein süßer Hund sie freudig begrüßen. „Es wundert mich, dass du bei meinem Papa eingestiegen bist“, sagt die Tochter auf Englisch, „viele Menschen haben Angst vor ihm.“ Die Narbe rührt von einem Feuer, bei dem der Vater mehrfach ins Haus rannte, um seine Familie zu retten. Als er auch noch die Katze retten wollte, verletzte er sich lebensgefährlich.
Gerade für mich als männlichen Tramper, für den Regen eigentlich schon das Unangenehmste ist, war die Perspektive einer Frau erhellend. Manche Fahrer benehmen sich widerlich. Andere Fahrer machen sich besonders wichtig. Und in China sagt ihr ein Gastgeber, sie solle weniger essen, weil sie schon zu dick sei. Das wird mir als Mann wohl nie passieren.
Das Kapitel über China fand ich übrigens am besten. Wie mir schon andere Tramper berichtet haben, scheint das ein Anhalterparadies zu sein. (Vielleicht mit Ausnahme des Smogs, der so schlimm ist, dass die Autorin in Peking in die U-Bahn geht, um durchzuatmen.) An einer Raststätte sammeln die Gäste ungefragt Geld für sie und überreichen ihr mehr als 50 €. Andere Fahrer bezahlen ihr ein Hotel. Und die Polizei errichtet kurzerhand eine Straßensperre, um ein Auto zu finden, das sie nach Nanping mitnimmt. Da muss ich endlich mal hin!
Was mir an „aWay“ weniger gefallen hat, ist der Stil. „Das Tagebuch einer Vagabundin“ steht auf der Rückseite, und wie ein Tagebuch liest es sich. Viel zu viele Details. Welchen Kaffee sie wo trinkt. An welchen Ex-Freund sie wann denkt. Und ganz viel Flow und Vibe und esoterische Selbstfindung. Die 408 Seiten hätte man drastisch kürzen können.
Die andere Seite der Spontanität ist die Planlosigkeit. Nic Jordan will unbedingt am 24. Dezember in Moskau ankommen, um dort Weihnachten zu feiern. Mit nur etwas Vorbereitung wüsste man, dass orthodoxe Christen am 7. Januar Weihnachten feiern. Ich glaube, das fällt ihr während ihres ganzen Aufenthalts in Russland nicht auf, weil sie sich beklagt, dass es „im fernen Russland Weihnachten in unserem Sinne nicht gab“. Auch das kyrillische Alphabet müsste nicht unbedingt eine schockierende Überraschung darstellen.
Aber die Autorin ist eher instagraphisch als intellektuell unterwegs.

So passiert es, dass sie in Thailand die „Liberalität“ preist, ohne mit einem Wort die Militärdiktatur im Land zu erwähnen. Aber ich glaube, liberal wird hier rein hedonistisch und pharmazeutisch interpretiert. Selbst wenn ich nur einmal durch Deutschland oder nach Österreich trampe, gibt es bei mir mehr Sozialkritik als bei dieser Weltreise.
„aWay“ von Nic Jordan ist wie „Eat Pray Love“ für Abenteurerinnen. Für mich hat das zu wenig Tiefgang. Aber dafür habe ich wieder mal erfahren, wie viele herzensgute und hilfsbereite Menschen es überall auf der Welt gibt. Und das ist doch das Wichtigste.
Das Buch hat mir riesige Lust gemacht, selbst wieder ein Pappschild zu beschriften und mich an die Straße zu stellen. Wo es wohl nach der Pandemie als erstes hingeht?

Links:
- „aWay“ bei Amazon.
- Meine Anhaltergeschichten.
- Weitere Buchrezensionen und meine Wunschliste, um die reisefreie Zeit zu überbrücken.
Danke für diese Rezension. Diese Frau wirkt auf mich wie ein rotes Tuch. Was für eine Nervensäge… Ok, ein bisschen Neid ist natürlich auch dabei. Aber diese epische Selbstbespiegelung kann ich nur schlecht ertragen. Da kauf ich mir lieber einen Reiseführer für China.
Hui, du bist ja noch härter als ich!
So nervig fand ich sie gar nicht. Sie will ja immerhin etwas zurückgeben, sie hilft den Armen, sie wirft den Nazi aus dem Zug-Abteil u.s.w.
Aber dieses ganze Hippie-lasst-uns-alle-Freunde-sein-und-LSD-nehmen, das war mir zu banal. Vor allem für eine 7-monatige Reise und anscheinend für eine Lebensphilosophie.
Aber ja, es war schon ziemlich ego-zentriert. Wenn ich trampe, finde ich eigentlich immer die anderen Leute am interessantesten. Und so hoffe ich, dass denen in meinen Gschichten auch der gebührende Platz eingeräumt wird, anstatt mich selbst zu bespiegeln.
Sie will etwas zurückgeben… das macht es fast noch schlimmer. Inszeniertes Gutmenschentum auf hohem Nutzlosigkeitsniveau. Bin gerade überarbeitet und höre jetzt besser auf 😉 Da kommt immer meine Oma so durch…
Da muss ich aber schon eine Lanze für uns Tramper brechen:
Nutzlos sind wir nicht. Wir halten die Fahrer wach. Wir unterhalten sie. Sie können sich endlich mal aussprechen. Ich löse manchmal rechtliche Probleme. Einmal habe ich eine Studienberatung durchgeführt.
Ich versprühe auch Freude und Optimismus, denke ich.
Und das ist doch nützlicher, als wenn ich Marketing Account Executive Manager oder Adventisten-Prediger wäre.
Oje, jetzt habe ich ein Podcast-Interview mit Nic Jordan gefunden. Du hattest Recht.
Sie ist nervig. Und der Interviewer auch.
Das kann man sich keine paar Minuten antun:
https://travel-echo.com/2020/10/29/podcast-episode-94-away-mit-nic-jordan/
Nicht so nervige Tramper waren die Macher von „Weit“, dem Film aus Freiburg. Die haben ich auch persönlich kennengelernt und als sympathisch in Erinnerung. Zum Film gibt es auch ein Buch, aber eher die Kategorie Reisebildband mit Text. Das einzige, was mich bei denen etwas gestört hat, war, dass die in ihrem Ehrgeiz möglichst nüscht zu verbrauchen, wohl auch ihren Fahrern nüscht gegeben haben ;-). Das mag in Deutschland so üblich sein, aber in Indien oder Tadschikistan??
Oh ja, das war ein schöner Film!
Ich selbst bin kein Purist beim Trampen. In Ländern, wo es üblich ist, dass Fahrer durch das Aufsammeln von Leuten am Wegesrand etwas dazu verdienen, zahle ich schon. In Bolivien ist das oft so, vor allem auf den Strecken, wo keine Busse fahren. Und die Fahrer wollten immer nur maximal einen Euro oder so für 10 oder 20 km.
Ich fände es komisch, als Europäer darauf zu insistieren, gratis mitzufahren, wenn jeder andere Hirte und Feldarbeiter im Auto bezahlt.
Nur in Aserbaidschan habe ich mich mal verarscht gefühlt. Ich dachte, der alte Mann fährt sowieso von Göygöl nach Ganja, aber er sah sich eher als Taxist und verlangte eine Riesensumme, nachdem er einen Riesenumweg gefahren war. (Aber auf dem Hinweg hatte ein freundlicher Aseri sogar das Busticket für mich bezahlt, obwohl ich ihn nur nach dem richtigen Bus gefragt hatte.)
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