Pilsen im Winterschlaf

Von Amberg aus ist Pilsen ein im buchstäblichen Sinn naheliegendes Reiseziel. Dass sich dennoch nur wenige auf den Weg dorthin machen, mag an dem in den (west)deutschen Köpfen sich anscheinend auf Ewigkeiten festgesetzten Eisernen Vorhang liegen. Vielleicht ist aber auch Prag zu verlockend, und man rauscht gedankenlos an Pilsen vorbei, obwohl man sich auch dort einen anständigen Rausch holen könnte. Aber dazu später mehr.

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Der verflixte Bus begeht den gleichen Fehler und fährt von Amberg zwar günstig nach Prag, hält aber Pilsen für keines Haltes wert. Da in Deutschland losfahrende Züge immer etwas teuer sind, galt mein nächster Versuch der Mitfahrzentrale, jetzt BlaBla-Car genannt. Der erste Fahrer verschob die Abfahrt mehrfach und kurzfristig, der zweite fuhr gleich gar nicht. Auf diese jungen Leute ist kein Verlass. Also endete ich doch im Zug. Es war ein grauer, regnerischer, kalter Tag und die Provinz zwischen Furth im Wald und Domažlice sah so deprimierend aus, dass ich verstand, wieso es hier ein Drogenproblem gibt. Wobei die Gegend nichts dafür kann, dass sich der Frühling 2018 ziemlich viel Zeit ließ und es deshalb noch eisiger war, als es Ende März sein sollte.

Den Jugendlichen an der Nadel oder an der Flasche oder wie immer man Drogen nimmt (ich kenne mich da nicht aus) lege ich stattdessen die Auswanderung ans Herz. Eine Fluchtalternative, die in dieser Grenzregion eine lange Tradition aufweist: Auch aus meiner Familie bin ich nicht der Erste. Schon in den 1920ern hielten es zwei Verwandte nicht mehr im Bayerischen Wald aus und zogen in die USA. Hoffentlich betreiben sie dort jetzt kein Crystal-Meth-Labor, sonst wäre die Moral der Geschichte hinüber.

Sobald man in Domažlice in den tschechischen Zug umsteigt, gibt es übrigens reibungs-, kosten- und passwortloses Internet. Osteuropa ist oft technologischer Vorreiter.

Von den Orten unterwegs blieb mir nur einer im Gedächtnis: Babylon. Das böhmische Holzfällerdorf bekam den Namen im 15. Jahrhundert wohl wegen seiner ethnographischen und linguistischen Vielfalt an der Sprachgrenze zwischen Tschechen und Deutschen. Multikulti im ausgehenden Mittelalter.

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Am Hauptbahnhof in Pilsen wird man empfangen von Osteuropaklischees.

Palastartiges Bahnhofsgebäude,

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Wandschmuck im sozialistischem Realismus, sowohl mit den typischen glücklichen, starken und produktiven Bauern,

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als auch in Erinnerung an die von den deutschen Besatzern zwischen 1939 und 1945 getöteten Eisenbahnangehörigen,

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und ein bettelnder Obdachloser. Weil er höflich war, gab ich ihm ein paar Kronenmünzen, über deren Wert ich mir mangels Erfahrung im tschechischen Wirtschaftskreislauf noch nicht ganz klar geworden war. Später erkannte ich, dass ich ihm weit mehr als den angefragten Euro gegeben hatte. Na, hoffentlich hat er es gut investiert.

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In der Wohnung von Jan, dem Vermieter, angekommen, traf ich auf den einzigen Menschen in Europa, der sich über die anhaltende Kältewelle freute. Er fuhr nämlich am nächsten Morgen für eine Woche zum Skifahren und war angesichts des sich teilweise und zaghaft vorgewagt habenden Frühlings schon besorgt.

Ich hingegen hatte mich für den 24. März für den ersten Halbmarathon der Saison angemeldet und milde Temperaturen erwartet.

Die Wohnung von Jan ist übrigens hervorragend geeignet für einen Pilsen-Besuch: Gut gelegen, geräumig, komfortabel, für 17 Euro pro Nacht. Und wer sich über diesen Link bei AirBnB anmeldet, bekommt bei der ersten Buchung 30 Euro Rabatt (auch bei anderen Wohnungen in anderen Städten).

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Als ich Jan danach fragte, wie das so mit den Fahrscheinen für Bus und Straßenbahn funktioniere, sagte er: „Am einfachsten verwendest Du eine kontaktlose Kreditkarte.“ Wieder ist Osteuropa technisch voraus.

Ich wusste nicht einmal, dass es solche Karten gibt, und stand dumm da. Zwar gibt es für die Westopis in den Zeitschriftenläden noch Fahrscheine aus Papier, aber am nächsten Morgen merkte ich, dass ich tatsächlich so eine Karte besitze, ohne es gewusst zu haben.

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In der knallgelben Straßenbahn probierte ich es gleich mal aus: Das 24-Stunden-Ticket wählen, Karte an den Automaten halten, und schon wird der Fahrschein ausgedruckt. 24 Stunden Bus und Straßenbahn kosten übrigens nur 60 Kronen = 2,35 Euro.

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Zum Abendessen orderte ich einen Salat mit Rucola und Rote Beete, eigentlich nur weil rukolový das einzige auf der Karte was, das dem deutschen Wort einigermaßen ähnlich war, das ich deshalb identifizieren konnte, und das ich aussprechen konnte.

Als die Kellnerin fragte, welches Fleisch ich zum Salat wolle, war ich mir sicher, in Tschechien zu sein.

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Am Freitagabend ging ich zu einem Dokumentarfilmfestival in einem alten Bahnhofsgebäude, das als Moving Station jetzt ein Kulturzentrum und Theater ist. Bis zur Renovierung sah es so aus:

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Jetzt sieht es etwas einladender aus:

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Die Umgestaltung begann schon bevor entschieden wurde, dass Pilsen im Jahr 2015 Europäische Kulturhauptstadt sein würde, aber seither ist regelmäßiger etwas los.

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Mir gefällt die Idee der Europäischen Kulturhauptstädte, vor allem wenn es kleinere Städte trifft, die sonst nicht so viel Aufmerksamkeit und Tourismus abbekommen. (Deswegen empfinde ich es als einfallslos, wenn Länder ihre Hauptstadt nominieren, so wie Malta dieses Jahr mit Valletta.)

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In Pilsen wollte ich vor allem herausfinden, wieviel von dieser Auszeichnung drei Jahre später noch zu spüren war. Dass es nicht immer so weiter gehen kann wie im prallvollen Jahr 2015 ist logisch, denn die Fördermittel gibt es ja nur einmal. Aber es wäre schön, wenn ein Teil des Geldes für nachhaltige Projekte verwendet würde.

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Zum Glück konnte ich schon an jenem Abend einiges darüber erfahren, denn als ich etwas verloren auf den Beginn des Film wartete, sprach mich Andrea, eine der Organisatorinnen des Filmfestivals an. Das Festival laufe nun schon seit 20 Jahren und allein in Tschechien in 37 Städten.

Jener Freitag war der letzte Tag des Festivals, also würde es danach eine Abschlussparty geben. Andrea lud mich ein.

Aber jetzt erst mal zum Film. Oder Ihr spult zu Kapitel 10 vor.

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Auf dem Programm stand Mečiar, ein Film über den früheren aber mehrfachen Premierminister der Slowakei, sowie The Cleaners, ein Film über die Menschen, die bei YouTube, Facebook u.s.w. entscheiden, was gelöscht wird und was nicht. Ich wollte keine Enthauptungsvideos von ISIS sehen, und außerdem war die Slowakei gerade in den Nachrichten wegen Korruption und Journalistenmorden, also genau den Dingen, die man mit der Regierungszeit von Vladimír Mečiar verbindet.

So dachten anscheinend viele, denn trotz der Konkurrenz war der Kinosaal voll. Vielleicht waren aber auch alle Besucher Slowaken. Ich kann die beiden Sprachen nicht auseinanderhalten. Der Film war glücklicherweise englisch untertitelt, den Trailer gibt es anscheinend nur auf Tschechisch und Slowakisch.

Mečiar war die prägende Figur der Slowakei nach dem Fall des Kommunismus, Ministerpräsident in den Jahren 1990-91, 1992-94 und 1994-98 und verhandelte die Auflösung der Tschechoslowakei. Je länger er im Amt war, desto autokratischer, korrupter und nationalistischer wurde er. Obwohl er die Unabhängigkeit der Slowakei erst als „absoluten Nonsense“ abgetan hatte, wurde er zu deren stärksten Verfechter.

Dabei, und man sieht das vielleicht auch schon an dem obigen Ausschnitt, ist Mečiar durchaus charismatisch, kann sogar sympathisch sein. Wie so eine Mischung aus Horst Seehofer und Heydar Aliyev, über die man politisch kein gutes Wort verlieren kann, die aber persönlich durchaus ein einnehmendes Wesen haben. Zu dem seltenen Interview taucht er in seinem Garten mit über der Hose hängendem Hemd auf, zeigt einem den Papagei, die Feuerstelle zum Grillen und das Blümchenbild im Spießerheim.

Aber auch für jemanden wie mich, der von der Slowakei so gut wie gar nichts weiß, ist der Film sehr gut. Man erfährt über

  • die Dramatik des Generalstreiks 1989 (Mečiar war erst auf Arbeitgeberseite, wechselte aber die Seiten als der Streik erfolgreich war),
  • die demokratische Naivität der Revolutionäre (für die zu besetzenden Ministerposten hielten sie Wettbewerbe ab – Mečiar wurde Innenminister, weil er alle Fragen beantworten konnte; erst später fragten sich einige, ob das nicht darauf hindeutete, dass er schon zu kommunistischen Zeiten mit dem Staat verstrickt war),
  • die Absurdität der tschechoslowakischen Scheidung (kulminierend im Streit darüber, ob man Tschechoslowakei ohne oder Tschecho-Slowakei mit Bindestrich und im anderen Landesteil nicht Slowako-Tschechien schreiben sollte),
  • den Ablauf der Privatisierungen („Ach, Mirko hat noch gar keine Firma bekommen, obwohl er so ein netter Kerl ist. Geben wir ihm die Erdölraffinerie.“),
  • Morde an Journalisten,
  • und die Entführung des Sohnes von Präsident Kováč durch den slowakischen Geheimdienst.

Zuletzt schlägt der Film einen Bogen zum jetzigen Premierminister Fico, wohlgemerkt einen Bogen, den auch dessen Anhänger begeistert schlagen. Und trotz des Themas musste ich immer wieder herzhaft lachen. Information und gute Unterhaltung in einem, fast wie in diesem Blog.

Profesor Ikebara

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Jetzt also zur Abschlussparty. Der Diskjockey war Akademiker, zumindest nannte er sich DJ Profesor Ikebara und versprach Balkanmusik.

Ich aber hatte den Halbmarathon am nächsten Tag als guten Grund, um mich vor Einsetzen des südosteuropäischen Lärms zu verabschieden. Mit Andrea verabredete ich mich für die darauffolgende Woche.

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Übrigens, wer Bahnhöfe nützlicher findet als Kulturzentren muss nicht traurig sein. Denn obwohl ein Teil des (Stadtteil-)Bahnhofs umgewidmet wurde, ist noch immer genug Bahnhof übrig.

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Das Gebäude rechts hinten ist die Moving Station, das Schloss im Vordergrund der Bahnhof.

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Der Halbmarathon fand in Těškov, etwa 30 km östlich von Pilsen statt. Zu weit zum Laufen, und mit dem Bus oder Zug nicht ganz zu erreichen. Ich schrieb also eine E-Mail an die Veranstalter und fragte, ob mich jemand aus Pilsen mitnehmen könne. Innerhalb kürzester Zeit meldeten sich zuerst Jan, dann Jiří, aber beide mussten schon zum Start des vollen, nicht erst des halben Marathons dort sein, also ziemlich früh losfahren. Mich hätte das nicht gestöret, ich war froh über das Angebot. Aber Jiří telefonierte herum, bis er Marek und Tereza fand, die bei mir in der Nähe wohnten und ebenfalls den Halbmarathon laufen wollten.

Der Lauf begann erst um 11:30 Uhr, eine humane Zeit. Wetter und Temperatur passten auch. Jetzt hätte ich mich nur noch vorbereiten müssen. Der letzte erfolgreiche Halbmarathon lag fast drei Jahre zurück, und jedes Mal beim Trainieren merke ich, dass ich eher ein Spaziergänger als ein Läufer bin.

Aber alle Anzeichen deuteten auf einen entspannten Lauf: Eine niedrige Startgebühr (200 Kronen = 7,80 Euro), ein großzügiges Zeitfenster für den Marathon von 9 bis 16 Uhr und die Läufer weder mit Zeitmessern und anderer Elektronik überfrachtet, noch abstruse Dehnübungen durchführend. Ich mag diese kleinen Rennen, die weder kommerziell noch kompetitiv sind, wo man sich beim Laufen unterhält, wo man mal ein Stück gehen kann, wo allerdings auch manchmal die Strecke nicht so ganz ausgeschildert ist, so dass man sich verläuft.

Und jeder schien jeden zu kennen. Jan und Jiří freuten sich, dass es mit dem Transport geklappt hatte, als sie mich sahen. Marek und Tereza stellten mir ihre Mutter vor, die das Rennen letztes Jahr gelaufen war und dieses Mal Getränke und Essen verteilt. Nach dem Lauf würde mich diese sportliche Familie nicht nur nach Hause fahren, sondern mir ganz mütterlich die übrig gebliebenen Bananen mitgeben.

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Der exotischste Gast war ich übrigens nicht, denn eine Großfamilie aus Indien war extra aus Prag angereist. Sie waren dann auch die letzten, die ins Ziel kamen und mussten sich wie auf einer Himalaya-Expedition gefühlt haben. Denn die Laufstrecke ging über Stock und Stein, Schnee und Eis, Wurzeln und zugefrorene Pfützen.

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Bestzeiten sind auf solch einer Strecke nicht zu schaffen, also genießt man besser die Aussicht. Davon gab es reichlich, denn wo ein Hügel war, führte die Strecke darüber.

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Plötzlich lief ich mitten im Wald auf einer aufgeschütteten Steinmauer entlang. „Was macht der Limes hier?“, wunderte ich mich, bis ich auf einem Schild las, dass es eine Burgruine war.

Beim ersten Getränke- und Essensstopp nahm ich mir einen Becher mit scheinbarer Apfelsaftschorle, die sich als Bier entpuppte. Ich habe in Osteuropa schon öfter erlebt, dass es am Ziel Bier gibt, aber sich schon unterwegs zu betrinken, ist mir neu. Am zweiten Stopp wurde mir dann gleich eine ganze Flasche Bier angeboten. Außerdem gab es jeweils Obst, Schokolade, Brote und überhaupt genug Essen, um ein paar Minuten zu verweilen. „Das ist der beste Teil des Rennens“, stimmten mir die anderen Läufer zu, die sich gleichzeitig stärkten.

Rundherum also ein gut organisierter Lauf mit angenehmer Streckenführung und freundlicher Atmosphäre, und das für einen Bruchteil der Gebühren, die man hinblättern muss, wenn man sich auf dem Asphalt von New York oder Berlin die Knie kaputtläuft.

Nach 2 Stunden und 26 Minuten war ich endlich im Ziel, und nur dank der Inder, die zum ersten Mal im Leben Schnee sahen, war ich nicht der Allerletzte. Ich dachte mir, dass es bei dieser Witterung und dem Streckenprofil unmöglich sein könnte, weniger als zwei Stunden für 21 km zu benötigen. Aber als ich im Ziel Marek traf, erfuhr ich, dass er schon seit einer Dreiviertelstunde auf mich gewartet hatte.

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Die gleichen Organisatoren veranstalten dieses Jahr zwei weitere (Halb-)Marathons, am 2. Juni 2018 und am 10. November 2018, jeweils in schöner landschaftlicher Umgebung und zu den gleichen günstigen Teilnahmegebühren.

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Die Kategorie für Teilnehmer über 40 Jahren hieß „veteráni“, und am nächsten Morgen, nach zwölf Stunden gutem Schlaf, fühlte ich mich immer noch wie ein Invalide. Aber es war der schönste Tag einer ansonsten grauen Woche, also der Tag für ausgiebig humpelnde Spaziergänge.

In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag waren die Uhren umgestellt worden und damit alle Pilsener so verwirrt, dass am Vormittag noch kaum jemand unterwegs war. In manchen Stadtteilen war es so ruhig, dass ich die Schritte anderer Personen hörte, bevor diese ums Eck kamen.

Zu dieser ausgestorbenen Ruhe passte es, dass an der Kneipe auch Ende März noch die Wünsche zum Neuen Jahr standen.

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Nur am Fluss übertönten die Enten alles.

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Dort wagten sich auch die Wassersportler ins Freie, sowohl die aktiven wie die passiven.

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Letztere waren eindeutig in der Mehrzahl.

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Später habe ich übrigens noch zwei Angler gesehen, die an Schnüren befestigte Magneten in den Fluss warfen. Einer holte damit mal einen Stein herauf. Keine Ahnung, was das war. Wird so vielleicht Eisenerz gefördert?

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Pilsen wirkt sehr großzügig geplant und angelegt, mit breiteren Straßen und Gehwegen als notwendig, mit Grünflächen und Parks wie wenn man ein Millionenpublikum erwartet, und mit reichlich Abstand, Spielplätzen und Sportgeräten zwischen den Wohnblocks. Stadtplanung konnten die Sozialisten wirklich gut. Wenn mal der Frühling kommt, muss es ganz schön sein. Wobei ich auch in der Kälte immer wieder auf stahlharte Jogger traf. Wahrscheinlich trainierten sie bereits für die nächsten Halbmarathons.

Insbesondere der Bezirk Slovany, in dem ich wohnte, schien den Stadtplanern die Freude gemacht zu haben, sich irgendwann – wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg – komplett zerstören zu lassen, so dass ungehindert von altem Habsburgerschmarrn Neues erschaffen werden konnte.

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Die Architektur entspricht in Teilen dem Klischee der grauen Stadt mit Mietskasernen, die teils noch immer in Rußgrau gestrichen, teilweise schon etwas farbenfroher übertüncht sind. Ein eckiger Klotz nach dem anderen, aber nicht das schöne Art-Deco-eckig, sondern Kommunistenkubus (nicht zu verwechseln mit dem Kubismus in Prag).

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Andererseits gibt es auch äußerst hübsche Straßenzüge.

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Und manchmal stehen Barock und Beton gleich nebeneinander.

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Die Stadtplanung machte in Pilsen auch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwas Kreatives: Sie riss die Stadtmauer ein und baute die so freigewordene Fläche zu einem die Altstadt umrundenden Park aus. Eine gute Idee, denn Städte mit Stadtmauern gibt es genug, Parks gibt es nie genug.

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An den Straßenbahnhaltestellen stand ich immer wieder fasziniert vor den Anschlagtafeln, die Theater, Kino, Musik, Ausstellungen u.s.w. anpriesen. Zwar konnte ich kaum etwas verstehen (Tři billboardy kousek za Ebbingem war der einzige Filmtitel, der mir etwas sagte), aber es war offensichtlich, dass kulturell noch immer enorm viel geboten ist in Pilsen. Die Smetana-Tage, die eigentlich drei Smetana-Wochen sind, hatte ich gerade verpasst.

Mit Smetana und dem aus dem Exil zurückgekehrten Dirigenten Rafael Kubelík wurde 1990 übrigens auch die Samtene Revolution und die wiedererlangte Freiheit gefeiert.

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Anhänger der Tschechoslowakei findet man kaum mehr. Eher beschweren sich einige Tschechen, dass ihr jetziger Ministerpräsident Andrej Babiš eigentlich Slowake ist und manchmal nicht richtig Tschechisch spricht.

So etwas wie Ostalgie findet man allenfalls in Bezug auf Jugoslawien. Ganz in der Nähe meiner Wohnung hieß eine Straße zum Beispiel noch immer Jugoslávská.

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Die zwei unterschiedlichen Nummern hat übrigens fast jedes Haus.

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Die ältere der Hausnummern (meist die höhere) stammt aus der Zeit Österreich-Ungarns. Warum man diese sogenannten Konskriptionsnummern auch 100 Jahre nach Ende des Habsburgerreiches noch stehen lässt, ist mir allerdings unklar. Die Chance, dass jemand nach so langer Zeit aus dem Urlaub oder der Kriegsgefangenschaft zurückkommt und ohne diese Erinnerungsstütze sein Haus nicht mehr fände, dürfte gering sein.

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Außerdem finden sich an vielen Häusern Hinweise auf die darin ausgeübten Berufe, zum Beispiel Jäger,

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Schankwirt,

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der Typ, der IKEA-Schränke zusammenbaut,

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das Theater

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und ein Gymnasium.

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Warum sind eigentlich alle Tante-Emma-Läden in Tschechien in asiatischer Hand?

Vielleicht liegt es daran, dass sich die Tschechen lieber auf den Drogenhandel konzentrieren. Der findet alles andere als versteckt statt:

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Zum Mittgessen wollte ich mir eine tschechische Spezialität gönnen: Mährisches Rauchschweinfleisch mit böhmischen Knödeln.

Naja. Fett und deftig, aber nicht so meins. Kein Wunder, dass Pilsen mehr für Bier als fürs Essen bekannt ist.

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Auch eine weitere örtliche Spezialität war kulinarisch eher enttäuschend. Im Restaurant der Familie Kroc war alles ein bisschen stressig, fast wie in einer Fabrik, und dann kam das Essen mit einer Unmenge an Verpackungsmüll. Man wurde voll, aber nicht satt.

Trotzdem ist dies eine der erfolgreichsten tschechischen Unternehmensgründungen. Alois Kroc aus der Nähe von Pilsen wanderte in die USA aus, wo sein Sohn Ray Kroc Fast Food, Franchising, Drive-Through und überhaupt alles erfand, was Amerika ausmacht.

Herr Kroc war damit so erfolgreich, dass er seinem tschechoslowakischen Landsmann Andy Warhol empfahl, sein dahinsiechendes Künstlerschaffen ebenfalls mit den Methoden der Automatisierung und der Herstellung großer Stückzahlen zu Produktivität und Profit zu treiben.

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Gleich gegenüber von McDonalds geht es zum Tempel der tschechischen Lebensmittelindustrie, der Pilsner-Urquell-Brauerei, der Bedeutung entsprechend durch ein majestätisches Tor.

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Die Brauerei bietet Führungen an und hat ein eigenes Museum. Da ich selbst kein Bier trinke, habe ich mir das erspart, aber der Anzahl der an- und abfahrenden Reisebusse nach zu urteilen, gehört ein Besuch dieser Hopfenanstalt zu den Höhepunkten eines Pilsen-Besuchs.

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Für eher kulturell Interessierte bieten sich stattdessen vielleicht das Westböhmische Museum

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und das Museum für Kirchenbaukunst im Franziskanerkloster an. Letzteres war aber noch geschlossen und öffnet erst im April. Wie wenn es ein Badeort am Mittelmeer wäre, ist in Pilsen nämlich vieles, ehrlich gesagt fast alles, von November bis März geschlossen.

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Wer kein Bier trinkt, wird in Pilsen übrigens als äußerst suspekt behandelt. Für Montag Abend verabredete ich mich mit Andrew, der mich aber schon am Samstag anrief, um mir für die verbleibenden Tage Geheimtipps bezüglich Biersorten und Schankstellen zu geben.

Als ich wahrheitsgemäß kundtat, dass ich gar kein Bier trinke, trat ein Schweigen in die Leitung, wie wenn ich etwas richtig Schlimmes (oder Dummes) gesagt hätte. Nach ein paar Schocksekunden sagte Andrew: „Ehm, ok, also ich habe viel zu tun diese Woche, aber ich gebe Dir dann am Montag Bescheid.“

Wenn Ihr in Tschechien Freunde finden wollt, müsst Ihr Bier trinken!

Zum Glück siegte Andrews Neugier auf den komischen Kauz, und so trafen wir uns vor der Papírna, einer alten Papierfabrik, die jetzt natürlich auch ein Kulturzentrum ist und neben Café, Galerien, Werkstätten und Konzertsälen sogar eine Kart-Bahn beherbergt.

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„Wein trinkst Du aber schon, oder?“, begrüßte er mich, und man sah, was ihn die Tage umgetrieben hatte. Als ich das ebenfalls verneinte, war er sichtlich enttäuscht, so dass ich schnell erklärte, dass ich aber Cocktails trinke. „Es ist halt nur leider so, dass mir Bier und Wein nicht schmecken.“

Erleichterung trat in sein Gesicht: „Es ist also nichts Religiöses?“

„Nein, nein, ich bin Atheist.“

Von da an verstanden wir uns prächtig. Tschechien ist ein sehr atheistisches Land.

In der Papírna gab es an jenem Abend einen Vortrag über Bali, was den Räucherstäbchengeruch erklärte. Auf der Leinwand brachte ein verlockenedes Foto Wärme und Sonne in den kalten Tag, Palmen und Strand in die graue Stadt. Der Saal war fast voll. Gleich würde es losgehen.

Weil Andrew und ich uns aber in Ruhe unterhalten wollten, schlug er stattdessen das Depo2015 vor. (Wer sich mehr für Andrew als für Andrea interessiert, kann bis Kapitel 31 vorblättern.)

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Das Depo2015 ist das Vorzeigeprojekt des Kulturhauptstadtjahres. Jeder, den ich in Pilsen kennenlernte, schlug es als Treffpunkt vor, fast so wie wenn es nichts anderes gäbe.

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Dabei war es eigentlich eine Notlösung. Ursprünglich hätte die Světovar-Brauerei zur Kulturfabrik umgebaut werden sollen, erzählte mir Andrea, als wir uns im Depo2015 zum Mittagessen trafen, aber 2014, also kurz vor Schluss, fand man Asbest in dem Gebäude.

Zum Glück war gerade das Straßenbahndepot freigeworden, das sogar noch zentraler lag. Asbest gab es dort nicht (oder es hatte niemand Zeit gehabt, um es zu überprüfen), also wurde es flugs umgebaut zu Ausstellungshallen, Workshops, einem Café, einem Fitnesszentrum, Vortragsräumen, Ateliers und einem Garten im Hof, in dem man für kleines Geld ein Beet mieten kann, um sein eigenes veganes, CO2-neutrales, fair gehandeltes Marihuana anzubauen.

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Aber trotz Hipsterflair war das Mittagessen ziemlich gut. Wenn die Vorräte nicht reichen, kommen manchmal noch ein paar Trucks mit Extraessen.

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Mich interessierte vor allem, was drei Jahre später noch von der Kulturhauptstadt geblieben war. „Eigentlich nicht viel“, sagte Andrea, obwohl wir in einem ziemlich akiven Objekt saßen, das es ohne dieses Projektjahr niemals gegeben hätte. „Der bleibendste Effekt war vielleicht der, dass sich all die Kulturschaffenden und Kreativen, all die Aktiven und Tatkräftigen mal gegenseitig kennenlernen konnten. So entstanden viele Kontakte, aus denen Ideen und weitere Projekte entstanden. Das ist eigentlich das einzige, was bleibt.“

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Pilsen hatte 2015 den Anspruch, die eigene Bevölkerung in das Kulturjahr einzubeziehen. So gab es Spaziergänge mit Pilsenern, die Besuchern nicht die ohnehin bekannten Sehenswürdigkeiten, sondern ihre Stadtviertel und Kellerkneipen zeigten.

Das Ganze gibt es natürlich auch als App, was mir mangels Smartphone nichts nützt. (Smarte Menschen dürfen nicht zusätzlich ein Smartphone besitzen, weil das einen unfairen Wettbewerbsvorteil brächte.)

Apropos App, irgendeines dieser teuflischen Teile hatte anscheinend eine Menge Menschen zur gleichen Zeit an den gleichen Ort bestellt, denn im Stadtpark fanden sich Dutzende von Menschen ein, um auf ihre Telefone zu starren.

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Vielleicht wurden wieder neue Pokemons freigelassen.

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Aber zurück zu dem Abend mit Andrew, der eigentlich Ondřej heißt, aber weiß, dass das niemand aussprechen kann. So trafen sich also zwei Andrews, die eigentlich nicht so hießen.

Auf dem kurzen Fußweg von der Papírna zum Depo2015 erzählte er mir, dass das Busdepot zufällig rechtzeitig zum Asbestdesaster freigeworden war, weil die Stadt für 10 Milliarden Kronen ein neues Busdepot gebaut hatte. „Zehn Milliarden für eine Garage!“ Andrew konnte sich gar nicht einkriegen angesichts dieser Verschwendung. „Na gut, die Stadt hat es damit gerechtfertigt, dass es dort auch eine Waschanlage für die Busse gäbe, aber zehn Milliarden, das ist doch hirnrissig!“

Um zu beweisen, dass ich ein normaler Mensch bin, musste ich eine Flasche Kingswood Apple Cider bestellen, die sogar ziemlich gut war. Allerdings war eine Flasche auch genug, um mich betrunken zu machen.

„Hier kannst Du sehen, wieviel in Pilsen los ist“, scherzte Andrew als wir uns setzen. Nur ein weiterer Tisch in dem bekanntesten Treffpunkt der Stadt war besetzt, mit einer Person und einem Laptop. Na, wenigstens war es ruhig, und man konnte sich hervorragend unterhalten. Was gut war, denn es wurde der lustigste Abend der ganzen Woche.

Andrew war Dozent für Philosophie und Wirtschaft an der Westböhmischen Universität, hatte den Job aber gerade gekündigt, weil ihm ein Beratungsunternehmen das dreifache Gehalt angeboten hat. Dafür muss er leider nach Prag ziehen.

Ich hatte schon den Eindruck gehabt, dass viele Pilsener entweder nach der Schule oder spätestens nach der Uni nach Prag ziehen, denn im Stadtbild fehlten diese jungen Erwachsenen. Man sieht junge Kinder und dann hauptsächlich erst wieder Leute ab 40. Darauf angesprochen, bestätigte Andrew, dass das tatsächlich ein Problem ist.

Kein Problem, sondern etwas Positives ist in meinen Augen ein Jobwechsel. Immer das gleiche zu machen, wäre ja langweilig. So denken anscheinend viele in Tschechien, denn ich traf in der Woche auch noch eine Geophysik-Studentin, die das Studium aufgeben wird, um im Hotelgewerbe zu arbeiten, eine ehemalige Stewardess, die jetzt Medizin studiert, und eine Politikwissenschafts-Absolventin, die lieber um die Welt zieht und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Auch Andrew hatte schon im Techmania Science Center in Pilsen und für ein Jahr als Barkeeper in Schottland, natürlich in St Andrews, gearbeitet. Wenn ich vielen solcher Lebensläufe begegne, weiß ich, dass eine Volkswirtschaft boomt. Denn diesen Mut zum Wandel, zu Pausen, zum Neuanfang haben Menschen meist, wenn ein Grundvertrauen besteht, dass man schon irgendetwas finden wird, mit dem man sich über Wasser halten kann. Und tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote in Tschechien unter 3 %, es herrscht praktisch Vollbeschäftigung.

Früher oder später kamen wir natürlich auf unsere Reisen zu sprechen, und es stellte sich heraus, dass Andrew auch schon in meinem Lieblingsland war und genau in dem Tal, in dem ich den Artikel über Abenteuerreisen geschrieben habe, meine Ratschläge beherzigt hat und sogar noch auf den Gipfel getrieben hat. Ohne Bergsteigererfahrung bzw. nur mit in Tschechien erworbener, also kaum nennenswerter, Bergsteigererfahrung wollte er mit seiner Freundin den Huyana Potosí besteigen. Die Freundin wurde dann auch ziemlich höhenkrank, ein Schneesturm zog auf, der Bergführer verirrte sich und fiel in eine Gletscherspalte, aus der ihn Andrew herausziehen musste. Dann setzte zum Glück der Überlebensinstinkt ein, und sie kehrten ein paar hundert Meter unterhalb des Gipfels um.

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Als wir so von unseren Abenteuern erzählten, sagte Andrew plötzlich: „Hey, komm doch zu unserem Roadmovie-Festival und erzähle eine Deiner Geschichten!“ Denn, wie anscheinend jeder in Pilsen, organisiert auch er ein Filmfestival, das natürlich im Depo2015 stattfinden wird.

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Das wäre tatsächlich genau die Art von Filmen, die mir gefällt, aber leider werde ich vom 18. bis 20. Juni noch in Krakau sein. So ein Pech! Aber Euch empfehle ich dieses Festival schon mal als guten Anlass, endlich selbst Pilsen zu besuchen. Alle Filme werden auf Englisch oder mit englischen Untertiteln gezeigt.

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Zum Abschluss – Andrew musste seine Wohnung ausräumen, sich auf den neuen Job vorbereiten und hatte außerdem gerade die höhenkranke Freundin geheiratet, konnte also nicht die ganze Nacht durchmachen – schenkte er mir noch ein Mila, eine Waffel mit Schokoladenüberzug, und eine Erklärung dazu: Es sei die beliebteste Schokolade in Tschechien. Jeder war sich einig, dass es die beste Schokolade überhaupt sei und dass man, einmal angefangen, gar nicht zu essen aufhören könne. Bis vor ein paar Jahren herauskam, dass die Schokolade Stoffe enthielt, die tatsächlich süchtig machen, und das Rezept geändert werden musste.

Ich habe es natürlich getestet, aber gegen Milka hat Mila keine Chance.

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Ein Highlight von Pilsen ist die Große Synagoge, erbaut am Ende des 19. Jahrhunderts im maurisch-romanischen Stil. Einfach dem roten Turm folgen,

Synagoge Turm

bis Ihr vor dem Tempel in seiner ganzen Pracht steht.

Synagoge

Wenn man um das Gebäude bzw. den Block herumläuft, erkennt man erst den kirchengleichen Grundriss und Aufbau.

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Die Juden haben eigentlich ihren eigenen Mondkalender, nach dem der Frühling schon begonnen hätte, aber in Tschechien sind sie so assimiliert, dass sie die allgemeine Winterpause mitmachen. Auch die Große Synagoge öffnet also erst im April (jeden Sonntag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr). An der Tür hing zwar ein Zettel mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse, unter der man auch außerhalb der Sommersaison einen Besuch anmelden kann, aber ich wollte den Rabbi nicht stören.

Für einen Besuch böte sich insbesondere der 7. Mai 2018 an, an dem eine Swing-Band im Saal der Synagoge auftreten wird. So wie schon im vergangenen Jahr:

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Überhaupt ist Anfang Mai die beste Zeit für Liebhaber der Musik, die uns in die 1940er Jahre zurückversetzt. Auch Count Basie wird wieder auferstehen und am 4. Mai 2018 mit seinem Orchester vorbeikommen.

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Warum alljährlich im Mai amerikanische Musik in Pilsen einfällt und die ganze Stadt dazu tanzt, erfahrt Ihr ab Kapitel 46.

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In der Altstadt kam ich an einigen Antiquariaten vorbei, die schon von außen sehr verlockend aussahen, wo ich mich aber nicht hineinwagte. Sonst hätte ich ganz sicher hunderte von Kronen gegen etliche Kilos eingetauscht – und hauptsächlich einen Artikel über Buchhandlungen geschrieben.

So weise ich nur auf eines der Bücher hin, das ich durchs Schaufenster erspähte. Viele wissen nicht, dass die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright in der Tschechoslowakei geboren wurde und in ihrem Leben gleich zweimal floh: 1939 vor den Nazis nach London und – nach der Rückkehr in die Tschechoslowakei – 1948 vor den Kommunisten in die USA.

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Obwohl seither schon eine Menge Zeit vergangen war, konnte Frau Albright ihr Buch, das auf Deutsch als Winter in Prag erschienen ist, 2012 selbst auf Tschechisch vorstellen:

Das war schön, als es noch Außenminister gab, die Fremdsprachen beherrschten.

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Die Tram Nr. 4 fährt zur Endhaltestelle Borsky Park. Das hört sich fast so an wie Gorki Park. Also fuhr ich da einfach mal hin, in der Hoffnung, Spione zu treffen. Ich setzte mich auf eine Bank und las – quasi als Erkennungsmerkmal – A Walk in the Woods von Lee Blessing, ein Theaterstück über einen US-amerikanischen und einen sowjetischen Unterhändler im Kalten Krieg.

Aber auch die Spione waren in der Nebensaison noch nicht tätig, und niemand steckte mir einen Umschlag mit brisanten Dokumenten zu.

Dafür war der Borsky Park der schönste Park der Stadt. Eine Mischung aus Park und Wald. Weitflächig und großzügig. Große Bäume für den Schatten, weite Rasenflächen für die Sonne, weiche Waldwege für gelenkschonendes Joggen.

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Falls ich mal nach Pilsen ziehe, werde ich versuchen, dort in der Nähe eine Wohnung zu finden.

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Praktischerweise – insbesondere für Wohnungssuchende – liegt gleich neben dem Park das Gefängnis von Pilsen in Form eines auf Stadtplänen sehr markanten achtzackigen Sterns, wo unter anderem Václav Havel, der spätere Präsident der Tschechoslowakei und der Tschechischen Republik, inhaftiert war.

Mittlerweile war ich schon daran gewöhnt, dass bis April alles geschlossen ist, also versuchte ich erst gar nicht, das Gefängnis zu besuchen.

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Aber noch etwas anderes hatte ich auf dem Stadtplan gesehen, das mein Interesse weckte: ein Meditationsgarten. Es war zwar ein ziemlicher Fußmarsch, aber der Weg ging durch mehrere zusammenhängende Parks, über kleine Brücken und an Flüssen entlang und führte mich in eine Gegend Pilsens, die so überhaupt nicht zu den Betonblocks passen wollte: Holzhäuser und Ausläufe für Rinder und Cowboys, fast wie in Montana.

Montana.JPG

Aber auch die Rinder waren noch im Winterschlaf.

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Endlich am Meditationsgarten angekommen, war dieser – Ihr ahnt es schon – geschlossen. Andererseits ist eine den ganzen Winter andauernde Pause vielleicht die höchste Form der Meditation.

Für nachahmende Besucher sei gesagt, dass der Garten ab dem 18. April 2018 wieder geöffnet ist. Allerdings habe ich herausgefunden, dass er von der Kirche betrieben wird und damit gar nicht so unterstützenswürdig ist.

Meditationsgarten

Ihr geht also besser in den Borsky Park oder einfach in den Wald.

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Ein Weg durch den Wald führt nach Zruč, etwa 6 km nördlich von Pilsen (wer nicht wandern will, nimmt die Buslinie 20), wo ich durch das Dorf spazierte, bis ich in einem Garten den Hinweis auf die etwas überdurchschnittlich ausgeprägte Sammelleidenschaft seines Eigentümers sah. Dort stapelten sich Busse, Autos, Panzer, Helikopter, Flugzeuge und alles notwendige Zubehör und Ersatzteile.

AirPark Garten

Da nimmt jemand sein Hobby sehr ernst.

Das wahre Ausmaß erkennt man erst auf dem Luftbild.

2015

Das Tor war auch hier verschlossen, aber das Sammelsurium war einfach zu interessant. Also läutete ich ein paar Mal an einer altmodischen Glocke mit Schnur, bis ein Mann, der nur der Eigentümer sein konnte, herbeischlurfte und mir für nur 100 Kronen (= 4 Euro) Eintritt in sein Reich gewährte und dazu noch allerhand erklärte. Karel Tarantík spricht nämlich hervorragend Deutsch.

Ich hatte ihn bei der Arbeit an seiner neuesten Erwerbung gestört, einem T-55-AM2, dem er in liebevoller Handarbeit einen neuen Anstrich verpasste. „Fahrbereit!“, wie er stolz anfügte. Nur um die Straßen nicht zu beschädigen, wurde der über 30 Tonnen wiegende Panzer mit einem Schwertransporter nach Zruč gebracht.

Karel Tarantik.JPG

Manchmal bekäme er alte Stücke zum Schrottpreis, erzählte Herr Tarantík, aber für den Panzer hatte er 20.000 Euro hinlegen müssen. Der Eintrittspreis im Verhältnis zu nur dieser einen Anschaffung zeigt, dass das Museum nicht auf Gewinn ausgelegt ist. Ein viel größeres Problem sei aber die Fläche, denn – wie ich nach einem Rundgang bestätigen kann – es gibt nicht mehr viele freie Stellen im Garten. Der Nachbar würde seine Wiese zwar verkaufen, wolle dafür aber den Preis für Baugrund. „Unverschämt“, waren wir uns beide einig.

Flugzeuge.JPG

Wer ein superscharfes Auge hat, bemerkt bei dem obigen Bild ganz rechts, dass der hintere rechte Flügel der französisch beflaggten Spitfire Mk II abgebrochen ist und darunter etwas verdächtig Weißes zum Vorschein kommt. Tatsächlich war dieses Flugzeug nicht ganz echt, sondern aus Styropor und Pappmaché.

Spitfire 1
Spitfire 2

Damit sollte aber niemand getäuscht werden, vielmehr wies ein Schild darauf hin, dass diese Ikone des Luftkampfes für den Film Dark Blue World nachgebaut wurde. Der Film handelt von tschechoslowakischen Piloten, die im Zweiten Weltkrieg in der britischen Luftwaffe flogen.

Neben zwei weiteren Nachbauten (Me-109 und Curtiss P-40), sind aber alle anderen Flugzeuge, Helikopter und Panzer echt. Man findet hier eigentlich alles, von der schnittigen MiG-15 bis zum selbstzerstörenden Starfighter, vom Einsitzer Let Z-37 bis zum Passagierjet Tupolew Tu-104, vom T-34-Panzer bis zum Mi-24-Helikopter.

Sogar eine Stalinstatue hat sich der Sammler unter den Nagel gerissen. Die wollte sonst aber wahrscheinlich wirklich niemand haben (außer dem Grutas-Park in Litauen, aber der hat schon mehr als genug davon).

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Was ich an dem Tag sah, war nur der allgemein zugängliche Teil des Museums Air Park. Es gibt noch einen „speziellen Teil“, auf dem obigen Luftbild rechts zu sehen, sowie ein Lager, wo noch einmal mindestens 100 weitere Flugzeuge, Panzer und andere Fahrzeuge lagern. Das kann man mit einer gesonderten Führung besuchen, die aber an jenem kalten Märztag mangels Besucheranstrom und Personal nicht angeboten wurde.

Aber wenigstens ist dieses private Museum das einzige, das rund ums Jahr und jeden Wochentag geöffnet hat.

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Wem allein das Bestaunen von Kampfjets nicht ausreicht, der kann in Tschechien in einer MiG-15, L-29 oder L-39 mitfliegen. Das ganze gibt es schon ab 1.250 €. Hört sich erst einmal nach viel an, aber wie oft haut man unsinnig 1.250 € für einen langweiligen „Wellness-Urlaub“, eine neue Küchenzeile oder eine künstliche Hüfte raus?

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Ich selbst hatte keine 1.250 €, sondern konnte mir gerade mal den Bus zurück nach Pilsen leisten. Der Bus Nr. 20 führte doch tatsächlich an einem griechischen Restaurant (Akropolis) vorbei und ich dachte mir „endlich mal wieder gutes Essen“ und sprang sofort ab.

Aber – man glaubt es kaum – sogar Restaurants haben in Pilsen Winterpause!

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Der Zoo wäre vielleicht schon geöffnet gewesen, denn die Tiere müssen sowieso gefüttert werden (versichern möchte ich es nicht). Aber als ich auf dem Plakat sah, dass dort hauptsächlich Reptilien und gar Schlangen für einen „closer look“ präsentiert werden, stellte ich lieber sicher, dass ich nicht einmal in die Nähe dieses Ungeheuerzoos kommen würde.

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Sympathischere Tierchen gab es im Homolka-Park (sehr praktisch gelegen für die Bewohner des Viertels Slovany).

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Auf einem meiner Spaziergänge erregte dieser Wegweiser zum Denkmal „Danke, Amerika“ mein Interesse. Ich versuchte wirklich alles, um das Denkmal zu finden, war aber nicht erfolgreich. Vielleicht haben es die Russen gehackt.

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Dafür fand ich etwas viel Aufschlussreicheres zu diesem Thema, nämlich das General-Patton-Museum. Im Geiste der 3. US-Armee, die in der Ardennenschlacht und beim Kampf um Bastogne auch nicht vor dem Schnee gekniffen hatte, war dieses Museum sogar im Winter geöffnet. Ich war so begeistert, dass ich glatt vergaß, den Studentenrabatt in Anspruch zu nehmen, der den Eintrittspreis von 60 auf 40 Kronen verringert hätte. Dabei hätte hier sogar mal ein Bezug zu meinem Geschichtsstudium bestanden.

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Hier lernte ich tatsächlich eine Menge (für mich) Neues. Für die Bewohner von Pilsen sah es nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich zuerst mal gar nicht nach einem Leben im Ostblock aus. Befreit wurde die Stadt von der US-Armee (übrigens der östlichste Punkt in Mitteleuropa, an den diese vorstieß). Wie der Zweite Weltkrieg ausgehen würde, war schon seit Monaten klar gewesen, und die Bevölkerung hatte die Amerikaner schon herbeigesehnt.

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Zuerst, im April 1945, kamen jedoch die Bomber. Ziele waren die Eisenbahn, Straßen und in Pilsen vor allem die Škoda-Werke, nach Krupp der größte Waffenhersteller im Deutschen Reich. Bei einem dieser Angriffe kam es anscheinend zu einem Fehler und das etwas südlich des Haupbahnhofs gelegene Wohnviertel Slovany wurde weitestgehend zerstört. Jetzt verstand ich, wieso dort alles neu gebaut war.

Ich kann mich allerdings des Verdachts nicht erwehren, dass der Bahnhof absichtlich verschont wurde, weil dieser gleich neben der Pilsner-Urquell-Brauerei liegt. Und die Piloten wussten ja, dass ihre Kollegen von der Infanterie den langen Marsch von der Normandie nur durchhielten, weil am Ende ein frisch gezapftes Pils wartete.

US Army beer

Schon einige Tage vor Kriegsende, am 4. Mai 1945, hatte die 11. Panzerdivision der Wehrmacht in Všeruby (Neumark) gegenüber der 90. US-Infanteriedivision die Kapitulation erklärt und war nach Kötzting in Kriegsgefangenschaft gegangen.

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Als die Wehrmacht kapituliert hatte, war es auch endlich Zeit für den tschechischen Aufstand gegen die deutschen Besatzer. Dieser begann am 5. Mai 1945, die Aufständischen übernahmen tatsächlich das Rathaus und den Rundfunk in Pilsen, aber am nächsten Tag kam ja schon die US-Armee.

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Um ein Gefühl für diese letzten Kriegstage zu bekommen, sei der Hinweis auf die „Operation Cowboy“ gestattet, bei der die US-Armee einige hundert Pferde, darunter wertvolle Lipizzaner, aus der Gefangenschaft durch die Nazis befreite.

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Das alles und viel mehr erfuhr ich im Patton-Museum, das ein bisschen ein ungeordnetes Sammelsurium von alten Fotos, Uniformen, Waffen, Blechdosen, Zeitschriften ist, aber andererseits doch bewegend ist, weil es die Geschichten der Verbrüderung der US-amerikanischen (und netterweise nicht übergangenen belgischen) Soldaten mit den Tschechen in den Vordergrund stellt. Insbesondere die Lebensmittelhilfe und die Unterstützung des Wiederaufbaus, aber natürlich auch die vielen persönlichen Beziehungen mit mehr als 100 Eheschließungen zwischen Soldaten und tschechischen Mädchen, und vielleicht auch die beiderseitige Erleichterung über das Ende des Krieges ließen diese Epoche in guter Erinnerung bleiben.

Doch das Glück währte nur kurz. Denn bei einer Konferenz in Jalta hatte Stalin beim Pokern mit Churchill und Roosevelt die Tschechoslowakei gewonnen. Und so mussten die US-Soldaten im November 1945 abziehen, und die etwas weniger geschätzten Kollegen von der Roten Armee übernahmen das Ruder. 1947 boten die USA auch der Tschechoslowakei Hilfe aus dem Marschall-Plan an, aber Stalin brachte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei dazu, ihr ursprünglich gegebenenes Einverständnis zu widerrufen. Statt kostenloser Hilfe aus dem Westen sollte lieber Getreide von der Sowjetunion gekauft werden. Von 1948 bis 1953 war die Tschechoslowakei dann eine stalinistische Diktatur unter Klement Gottwald.

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Was ich mich die ganze Zeit fragte: Wie gingen die Tschechen, die, wenn auch nur für ein halbes Jahr, die US-Armee erlebt und weitestgehend willkommen geheißen hatten, damit um, dass die USA ab 1948 zum Feind erklärt wurden?

Denn dass die US-Soldaten nicht mehr als Befreier gefeiert wurden, konnte ich diesen beiden Büchern entnehmen, ohne sie lesen zu können.

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Zur Rückfahrt suchte ich mir bei BlaBla-Car den ältesten Fahrer aus, weil ich dachte, wir Älteren sind zuverlässiger.

Olaf (74 Jahre) war Tscheche (das hätte ich mir eigentlich schon denken können, als er die Pilsner-Urquell-Brauerei als Treffpunkt vorschlug), lebte aber seit 1980 in Nürnberg. Damals war er vor den Kommunisten geflohen und wollte eigentlich nach England, das er bereits von einem Studienafenthalt kannte. Aber da seine Mutter schon in Deutschland lebte und sein Vater nicht mehr lebte, blieb er ihr zuliebe in Deutschland hängen. „Dabei war Deutsch die zweitletzte Sprache auf der Welt, die ich lernen wollte.“ Auf meinen verwunderten Blick löste er das Rätsel auf: „Die letzte war Chinesisch“. Gelernt hat er es natürlich trotzdem, und mittlerweile ist er sogar Dolmetscher und Übersetzer.

Außerdem hat er Psychologie und Soziologie studiert, promoviert und noch etliche Zeit mehr an Hochschulen verbracht. Als ich erzählte, dass ich mit 42 gerade wieder zum Studieren begonnen habe, blitzten seine Augen merklich auf. Jura würde er noch gerne studieren, sagte er. „Nach dem Abitur habe ich am Aufnahmetest für Jura teilgenommen und erreichte Platz 9 – landesweit! Studieren durfte ich es in der Tschechoslowakei trotzdem nicht, weil ich nicht aus einer regimetreuen Familie kam.“

Und schon waren wir beim Prager Frühling 1968. Begeistert erzählte er mir vom Zusammenhalt der Menschen, der Hoffnung, der Einheit des Volkes, der Zuversicht. Doch dann kamen „die Russen“, wie er die Truppen des Warschauer Paktes bezeichnete, mit denen sich trotz Russischkenntnissen nicht über Politik und Freiheit diskutieren ließ.

Bei einem erklärten Antikommunisten wie Olaf konnte ich endlich die Frage anbringen, wie die Erinnerung an die Befreiung von Pilsen während der Tschechoslowakei gehandhabt wurde. „Man durfte die Amerikaner nicht erwähnen“, erinnerte er sich an seine Schulzeit. Offiziell hatten sich die Pilsener selbst befreit bzw. die sowjetischen Brüder waren zur Hilfe geeilt (nach einer Version zur Täuschung des Feindes in US-Uniformen gekleidet). „Es war verwirrend, denn unsere Eltern erzählten von den Amerikanern, und in der Vorratskammer standen noch die großen Blechdosen mit amerikanischer Beschriftung. Aber in der Schule wurde gelehrt, dass allein die Sowjets die Nazis besiegt hatten.“ Um die Erinnerung an die persönlichen Bekanntschaften mit US-Soldaten auszulöschen, wurde sogar das perfide Gerücht in die Welt gesetzt, dass die einst in Pilsen stationierten Einheiten alle bei der Überfahrt nach Japan gesunken wären.

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Erst ab 1990 sind die Veteranen aus Übersee wieder willkommen. Wie die Unterschriften im Patton-Museum zeigen, sind zumindest einige von ihnen alt genug geworden, um noch zu erleben, wie die Tschechoslowakei erneut „befreit“ wurde.

Unterschriften Veteranen.JPG

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Seit 1990 findet jährlich in der ersten Maiwoche das Befreiungsfestival statt. Auch das ein guter Anlass für eine Reise nach Pilsen!

Liberation festival 2018.JPG

Die noch lebenden Veteranen aus den USA und aus Belgien werden gefeiert (wieso wird das eigentlich in Deutschland nirgendwo gemacht?), alte Jeeps und Panzer rollen mal wieder durch die Stadt, und überhaupt wird alles getan, um einen in die Zeit zurückzuversetzen, als Musik tanzbar, die Hot Dogs gesund und Zigarren noch nicht krebserregend waren.

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Fazit:

Pilsen ist eine gemütliche, freundliche, interessante Stadt. Bei weitem nicht so überwältigend schön wie Prag, aber dafür noch viel tschechischer als das internationale Prag. Wegen des Wegzugs junger Leute und der Intelligenzija wirkt es vielleicht manchmal ein bisschen ausgestorben, andererseits ist dafür doch einigermaßen etwas geboten. Und Prag ist ja nur 90 Minuten Zugfahrt weg. Außerdem hat so eine ruhige Stadt auch Vorteile, insbesondere wenn man mal eine Doktorarbeit oder ein Buch schreiben will.

Und denkt bei Eurer Reiseplanung daran: Von November bis April ist fast alles geschlossen.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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30 Antworten zu Pilsen im Winterschlaf

  1. Paul schreibt:

    Der Unterschied zwischen Tschechisch und Slowakisch ist die Aussprache des Buchstaben ř. Den gibt es nur im Tschechischen und nicht im Slowakischen. Richtig ausgesprochen klingt er lautmalerisch wie eine Verbindung vom rollenden R mit dem SCH. Und zwar gleichzeitig erzeugt. Das können nur Tschechen aussprechen. Slowaken können das nicht. Und daran werden sie erkannt.
    Herzlich, Paul

    • Andreas Moser schreibt:

      Danke für die Erklärung!
      Ich habe es wie „rsch“ ausgesprochen, zum Beispiel dem Namen „Jirschi“, aber das hat dann wahrscheinlich noch falscher geklungen als wie wenn ein Slowake es versucht.

    • Paul schreibt:

      Ja, so genau sprechen es die Slowaken aus. Wird aber Ausländern nicht übel genommen. Die Tschechen kennen die Problematik. Habe schon alte Tschechen getroffen, die behaupteten, dass heute nicht mal mehr alle jungen Tschechen diesen Buchstaben richtig aussprechen können.
      Meine Oma ist Tschechin und ich war während des Krieges etwa 2 Jahre in diesem Land. Habe als Kind perfekt Tschechisch gesprochen. Inzwischen alles wieder verlernt. Nur das ř ist mir geblieben. Als Urlauber habe ich gerne damit geprotzt und gerne immer drei (tři )Sachen in der Gaststätte bestellt. Oder Schweinebraten mit Knödeln – Pečené vepřové maso s knedlíčky a zelím -.
      Das ist übrigens das Nationalgericht der Tschechen. Ist ganz billig. Meine Oma sagte immer Kutscheressen dazu. Das war abfällig gemeint. Es schmeckt mir aber hervorragend.

      Übrigens das ř darf man in der Slowakei nicht aussprechen.
      Tschechen und Slowaken sind sich spinnefeind. Das ist geschichtlich bedingt und schon mehr als 100 Jahre alt. Das ist wirkliche Feindschaft und nicht so eine Frotzelei wie bei uns zwischen Preußen und Bayern oder Berlinern und Sachsen.

      Allerdings gab es Ausnahmen: Der Slowake Dubček war eine Ausnahme, den mochten die Tschechen auch.

      Hrzlich, Paul (Im richtigen Leben heiße ich Jiři.)

    • Andreas Moser schreibt:

      So erfahre ich interessante Dinge über Dich, Jiři!

      Aber trotz der Abneigung zwischen Tschechen und Slowaken funktionierte der Staat doch ganz gut. War die Tschechoslowakei nicht sogar die einzig stabile Demokratie in Mittel- und Osteuropa zwischen demErsten und zweiten Weltkrieg? Und auch die Trennung 1992/93 verlief doch eigentlich ganz vorbildlich friedlich und organisiert.

      Noch etwas zur Sprache:
      Ich komme ja aus der bayerischen (Fast-)Grenzregion zu Tschechien und fand es seit dem Fall des Eisernen Vorhangs schade, dass hier kaum jemand Tschechisch lernt. Zum einen steckt da wohl noch die Westorientierung in den Köpfen, zum anderen will man verständlicherweise eher Sprachen lernen, die in mehr als einem Land gesprochen werden.
      Aber noch immer fühle ich mich nicht ganz gut dabei, wenn ich sehe, wieviele Tschechen Deutsch sprechen und wie wenige Deutsche Tschechisch. Andererseits, wenn ich dann Tschechich lese, denke ich mir: „Wer könnte das auch lernen, selbst wenn man wollte?“ Ist Deutsch für Tschechen eigentlich genauso kompliziert, oder ist im Vergleich zu Tschechisch alles anderes ein Kinderspiel?

    • Paul schreibt:

      Deine Fragen zum Erlernen der Sprachen kann ich nicht wirklich beantworten, weil ich als Kind, 6-8 Jahre alt alles spielend gelernt habe. Habe mich mit den anderen Kindern gut verstanden und da ging alles ganz einfach. Ich weigerte mich auch deutsch zu sprechen. Tschechische konnte ich akzentfrei. War also als Deutscher nicht zu erkennen. Nach dem Krieg konnte mich meine Oma in der Bahn mitnehmen, um die Uroma zu besuchen, die ein paar Stationen entfernt wohnte. Deutschen war die Benutzung der Bahn verboten.

      Im Sommer 46 mussten wir Tschechien verlassen. Zwei Lageraufenthalte, einer in Tschechien, der andere in Deutschland machten das zu einer „Fahrt“, die 3 Monate dauerte. Da habe ich dann wieder Deutsch gelernt. Allerdings nicht Akzentfrei. Deshalb wurde ich in Berlin manchmal als Pole beschimpft. War aber robust genug das auszuhalten. Bald konnte ich auch wieder akzentfrei Deutsch sprechen.

      In der Erinnerung kommt mir das Tschechische einfacher als das Deutsche vor. Jedenfalls was die Grammatik angeht. Auch die Aussprache halte ich für wesentlich einfacher.
      Es gibt ein paar Besonderheiten. Wer weiß, dass das Z ein weiches S ist und dieses mit einem Häkchen drüber zum Sch wird, hat den „Krieg“ schon halb gewonnen. Auch Doppelbedeutungen von gleichlautenden Wörtern erinnere ich nicht, wie z.B. „regen“ im Deutschen. Davon gibt es noch viel mehr.

      Ich halte die tschechische Sprache für leichter erlernbar als das Deutsche.
      Es kann aber sein, dass die Tschechen leichter Deutsch lernen als wir Tschechisch. Das hängt aber mit der Motivation zusammen. Als ich 1968 das erste mal meine Oma in Poděbrady Lázně (gesprochen: podjebradi laasnje [mit ganz weichem s]) besucht habe, konnte mein Freund, bedingt durch einige Ostseeurlaube, besser Deutsch als ich Tschechisch. Zumal mein Tschechisch durch den Russischunterricht Schaden genommen hatte.

      Herzlich, Paul

  2. Guntron schreibt:

    Es ist immer wieder eine Freude. Lehrer sollten eigentlich immer ein Jahr reisen, ein Jahr unterrichten, ein Jahr reisen… Bis das durchgesetzt ist, tröstet das Lesen deines blogs. Die Amerikaner auf diesen Pferden… toll. Ich bin in (West)-Berlin aufgewachsen und meine Eltern brachten mir bei, den Soldaten fröhlich zuzuwinken, die an uns vorbeifuhren. In dem Fall waren es Franzosen. Zu einem Fest hat es dann nicht gereicht.

    • Andreas Moser schreibt:

      Auf den Anteil von 50% Reisen neben 50% Arbeit komme ich leider auch nicht. da ich aber oft länger in anderen Ländern wohne, sieht es so aus und fühlt sich zugegeben auch so an.

      Ich habe mittlerweile erfahren, dass die Veteranen der erwähnten Wehrmachtsvision sich noch jährlich in Kötzting, mittlerweile befördert zu Bad Kötzting, treffen. Da feiern leider die Falschen.

  3. Wenn du das nächste Mal in Pilsen bist, empfehle ich dir trotzdem – Bier hin oder her – den Besuch der Brauerei. Ich habe wirklich schon viele Brauereien gesehen aber diese war die beeindruckendste. Gefühlt die gesamte Altstadt ist mit Bierkellern untertunnelt und dieses Tunnelsystem ist Teil der allgemeinen Brauereiführung. Allein dafür lohnt es sich!

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  8. Andreas Moser schreibt:

    Ich bin jetzt noch auf einen Artikel zu Pilsen im Dreissigjährigen Krieg gestoßen:
    https://dkblog.hypotheses.org/1848

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  18. Anonymous schreibt:

    Es gibt nicht nur unendlich lang wirkende Keller der Brauerei in Plzen: das ganze Altstadtzentrum ist „mehrfach unterkellert“.
    Auch ohne Bier zu trinken, lohnt sich ein Abstieg in manches Pub, wo hinter der Sitzbank ein Gitter den Schacht zu den Kellern schliesst. Da würden sich Deine Gedanken ganz artgerecht in Fragen weiterschlängeln. Um diese zu beantworten:
    Ganz offiziell gibt es auch unabhängig von der Brauereibesichtigung eine Führung durch einen Teil dieser Kellersysteme – und dazu ein klein wenig Einblick in das unterirdische Stadtleben im Verlauf der Stadtgeschichte … wo es ein Kamel laaaange Zeit vor dem Zoo gab. (Du scheinst (fast) in der Reptilienabteilung im Stadtzentrum gelandet zu sein – etwas weiter hinter einem der Flüsse ist der eigentliche Zoo – sogar ganzjährig tagsüber geöffnet (?) … während das meiste andere auch während den Schulferien im Juli und August zu ist! 😉 ).

    • Andreas Moser schreibt:

      Haha, das ist mir ja eigentlich eine sympathische Stadt: im Winter ein paar Monate zu, im Sommer ein paar Monate zu, und dazwischen wahrscheinlich auch kein Stress. 🙂

      Ich muss also mal in den Zwischenmonaten kommen, um die Museen, die Kneipen und die Tunnel zu besichtigen.
      Mittlerweile trinke ich sogar ein bisschen Bier. 🙂

      Aber was hat es mit dem Kamel auf sich??

  19. Anonymous schreibt:

    Auch über das Kamel wirst du während der Führung durch die mehrstöckigen Keller von Plzen mehr erfahren.
    Wir hatten die Führung mit einer sehr geschichtskundingen Frau, die auf viele Fragen Locker vom Hocker zu antworten fähig war.
    Vorspann: Das Kamel ist soger im Stadtwappen – womit du nun den richtigen Schlüsselbegriff hast, falls du vorab Informationen online suchst und so in die Stadtgeschichte über mehrere Jahrhundert mit nur ein paar Klicks eintauchen kannst.

  20. Anonymous schreibt:

    Zu Plzen und kein Stress: im Vergleich zu Südböhmen und Mähren geht es in Westböhmen und schon gar nicht in Plzen wirklich gemütlich zu. Es ist und bleibt der Charakter einer Industriestadt – inklusive der Probleme der zugezogenen Arbeiter (seit der Wende), Verunsicherung der Alteingesessenen usw. Für sehr viele Einwohner scheint die EU Kulturstadt irgendwie so eine Veranstaltung für paar Monate gewesen zu sein, die neue Oper integriert sich vom Stil her aussen super zum danebenstehenden Parkhaus und innen so ziemlich der gleiche Stil wie die Kinos im Einkaufszentrum in der gleichen Strasse. Die Preise für Theater bzw. Musik und Ballet sind rauf, viele haben das Jahresabo gekündigt und mit Bussen sind (zumindest noch bis vor Corona) die deutschen „Ein-Abend-Touristen“ zum Musical eingefahren worden. (Die Zeiten als in Böhmen ein Opernbesuch oder Theater für alle einfach erschwinglich gewesen ist, wie im ehemaligen Ostblock wohl allgemein, sind vorbei, zumindest in Plzen.)

  21. Pingback: Von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul (Teil 1) | Der reisende Reporter

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