Tödliche Bären in der Slowakei

Vor kurzem, als ich in der Nähe von Kremnica beim Wandern war, habe ich mich ein bisschen über dieses vor Braunbären warnende Schild lustig gemacht. Quickfidel und lebensfroh ging ich in den hinter dem Schild liegenden Wald, qualmte eine Bärenanlockungszigarre und legte nur deshalb kein die Kuscheltierchen anziehendes Futter aus, weil ich sogar meine eigene Wegzehrung vergessen hatte.

Ich war enttäuscht, dass ich keinen Bären antraf.

Dabei war ich dem Tod – mal wieder – näher, als mir bewusst war.

Es fiel mir natürlich erst nachträglich auf, als ich in der Zeitung von einem Bärenangriff in der Slowakei las. Und dann recherchierte ich und musste erkennen: Hoppla, das war kein Einzelfall.

Unklar bleibt bei den meisten dieser Meldungen, ob die Bären die Menschen angegriffen haben, weil sie eine ausgepackte Stulle rochen. Oder ob sie die Menschen angriffen, weil diese eben kein Futter für sie mitgebracht haben. Das ist wieder so ein Beispiel für sinnlosen Sensationsjournalismus (also das diametrale Gegenteil dieses Qualitätsblogs), ohne jegliche klare Anweisungen, wie man jetzt in einen Bärenwald gehen soll.

In Kanada wird das klarer kommuniziert, siehe Kapitel 23 meiner Bärenjagdgeschichte aus den Rocky Mountains. Aber da packt man ja sowieso das Bärenspray ein, wenn man aus dem Haus geht. Wie bei uns ein Mücken- oder in Malibu ein Haifischspray.

bear spray.JPG

Jetzt weiß ich auch, wieso der nationale Wanderweg durch die Slowakei „Weg der Helden“ heißt.

Ich würde übrigens jederzeit wieder in der Slowakei heldenhaft durch die Wälder streifen, denn es ist einfach traumhaft schön da. Und ich verbringe lieber ein paar wunderbare Wochen im Wald, und dann ist Schnapp-Schmatz-Schluss, als dass ich 30 Jahre lang im Büro von Universal Exports versauere und kein einziges Mal in den Karpaten war. „Ein Leben ohne Karpaten ist kacke“, wie Hemingway einst sagte und sich aus Frust über ein bärenloses Leben mit dem Bärentöter erlöste.

Persönlich habe ich bisher nur gute Erfahrungen mit Bären gemacht, die ich jedes Mal mit Alkohol und Poesie beruhigen konnte. Und als Tierpfleger habe ich sowieso einen besonderen Draht zu Tieren. So wie der heilige Franziskus.

Der Ausflug in der Slowakei war Teil der Reise zum Mittelpunkt Europas, und wenn man sich die Karte ansieht, dann lauert da hoffentlich noch der eine oder andere Bär.

Estland ist stolz auf die dichteste Bärenpopulation in Europa. Im Białowieża-Nationalpark in Polen sind bereits Bären aufgetaucht. Litauen liegt ebenfalls auf der baltischen Bärenroute. Sogar in Ungarn, nicht gerade mit dichten Wäldern gesegnet, gibt es Bären. Belarus warnt auf seinen Briefmarken und aktiviert die Luftwaffe.

Von einem atomar verstrahlten Braunbären in Belarus gefressen zu werden, während ich mich vor dem dortigen KGB im Wald verstecke, das wäre allerdings selbst für Hemingway zu dick aufgetragen.

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Vor hundert Jahren zerstörte Lawrence von Arabien die Eisenbahn – März 1923: Transjordanien

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Vor nicht ganz hundert, aber mittlerweile mehr als dreißig Jahren war ich auf Schüleraustausch in Australien. Darüber habe ich noch nichts erzählt, weil man damals noch auf durchsichtigen Rollfilmen fotografierte, die ich hier nicht so einfach hochladen kann wie Digitalfotos. Wenn jemand von Euch eine Dia-Digital-Umwandlungsmaschine und Interesse an meinen Fotos aus den 1990ern hat, könnt Ihr Euch gerne melden. (Der eher akademisch interessierte Teil der Leserschaft winkt entsetzt ab: „Ach nein, nicht noch mehr persönliche Anekdoten! Wir wollen etwas über Geschichte lernen. Wie an der Universität, nur in lustig.“ Aber das kommt gleich, versprochen.)

Der beste Film, der aus dem kleinen Flugzeug, mit dem ich über die Olgas gedüst bin, ist leider sowieso zerrissen. Das ist damals öfter passiert, weil man mit der Hand zurück spulen musste, dabei aber nicht zu viel Kraft aufwenden durfte. Andere häufige Probleme waren versehentliche Belichtung, Wasserschaden oder Beschlagnahme durch den Geheimdienst.

Damals war gerade der Zweite Golfkrieg gewesen. Das war der mit Saddam Hussein, Norman Schwarzkopf, Colin Powell und so weiter, Ihr erinnert Euch. Es ging um Kuwait oder um Öl, aber vielleicht ist das auch das gleiche. Manche von diesen Kleinstaaten sind ja nicht mehr als glorifizierte Tankstellen.

„Selbstverständlich erinnern sich alle an diesen glorreichen Sieg der irakischen Helden gegen die feigen Armeen der ungläubigen Hunde!“

Der Propagandaminister kam eigentlich erst im dritten Golfkrieg zum Einsatz, aber er weckt einfach so schöne Erinnerungen. Wie die Biene Maja. Oder Wicki und die starken Männer. Ich fand es übrigens immer uneindeutig, ob Wicki ein Junge oder ein Mädchen war, woraus heute sicher wieder jemand ein Gender-Drama machen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbieten wollen würde.

Jedenfalls erklärte mir damals der Onkel der australischen Gastfamilie, dass alles, was im Nahen und Mittleren und Fernen Osten schief läuft, die Schuld von „some stupid fucking pommy“ sei. „Pommy“ ist ein liebenswürdig gemeintes australisches Wort für Briten.

Weil dieser Blog und insbesondere diese kleine Geschichtsreihe schon dafür kritisiert wurde, die Schuld an allem historischen Unbill immer vor deutschen Türen abzuladen, folge ich heute ausnahmsweise mal der These von der britischen Kollektiv- und Gesamtschuld. (Aber ehrlich: Wenn die Germanen in der Varusschlacht nicht die Römer besiegt hätten, dann hätte Pontius Pilatus niemals so eine übertriebene Furcht vor dem Aufstand in Palästina gehabt. Und Jesus könnte noch leben!)

„Das haben mir die Deutschen mit ihrem verdammten Antisemitismus eingebrockt!“

Ach wisst Ihr was? Wenn es hier eh schon kontrovers zugeht, dann lasst uns doch gleich bei Palästina bleiben.

Also, ursprünglich war das Gebiet östlich des Mittelmeers, auch als Levante bezeichnet, natürlich römisch. Das erkennt man, wenn man dort am Strand entlang läuft und immer wieder auf römische Aquädukte und Amphitheater stößt, wie z.B. hier in Caesarea im heutigen Israel.

Caesarea aqueduct

Vielleicht war vor den Römern noch jemand anders da, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Wenn die Karthager, Hellenen, Makedonier, Seleukiden, Ptolemäer und Phönizier nicht den Anstand haben, gut lesbare lateinischen Schriftzeichen zu verwenden, dann bleiben sie eben außen vor.

Außen vor bleiben auch die Details, die sich in der kleinen Zeitspanne zwischen König Herodes und dem Ersten Weltkrieg ereignet haben mögen. Grob abgekürzt: Das Römische Reich zerfiel, und der Völkerbund musste die Welt neu ordnen. (Der Völkerbund war der Vorläufer der UNO, nur ohne Kalten Krieg. Dafür mit ein paar anderen Macken, aber wer ist schon fehlerfrei?)

Dass sich in dieser Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg aus der Konkursmasse der einstigen Großreiche (Österreich-Ungarn, Russisches Reich und in diesem Fall das Osmanische Reich) viele neue Staaten gründeten, haben wir bereits an Beispielen wie der Tschechoslowakei, dem Freistaat Fiume, dem Königreich Mongolei, Finnland, Baranya-Baja und Tannu-Tuwa, Ungarn und Großrumänien kennengelernt.

„Selbstbestimmungsrecht der Völker“ war das Modewort jener Zeit, und jeder, der wollte, konnte unabhängig werden. Also, zumindest jeder weiße Europäer. (Die Mongolen profitierten von der Zusammenarbeit mit den Nazis.)

Auf den anderen Kontinenten war das ein bisschen komplizierter.

Für Schwarzafrika (das Afrika südlich der Sahara, mit Ausnahme Südafrikas) waren sich die Europäer einig, dass so komplizierte Sachen wie Unabhängigkeit, Staat und Verwaltung nichts für Afrikaner sind. „Die wollen das gar nicht“, sagten die Kolonialherren, so wie heute die Vertreter der deutschen Exportwirtschaft sagen, man dürfe „der Welt nicht unsere westlichen Werte aufdrängen“. Wie wenn sich Chinesen gerne foltern und einsperren lassen würden, damit Volkswagen und Apple noch mehr Gewinn machen. So ein zynischer Unsinn.

Im Nahen Osten konnte man die Menschen nicht so leicht wie Untermenschen abstempeln. Schließlich hatten sie dort die Mathematik, die Medizin, den Ackerbau, die Astronomie, die Bibel und das Bier erfunden.

„Tu den Safran weg; das verstößt gegen das Reinheitsgebot!“

Im Osmanischen Reich hatten sie sogar schon Eisenbahnen. Und zwar richtig viele, tolle, wunderschöne Eisenbahnen. Zu fast allen Orten, die man in seinem Leben je besuchen will.

Den Orient-Express kennt Ihr sicher schon, und sei es nur aus dem Krimi von Agatha Christie oder einer der vielen Verfilmungen.

Halt, falscher Mord im falschen Zug! Hier ist der richtige:

Weniger bekannt (und weniger verfilmt) wurde der Balkanzug, eine kaiserlich-deutsche Konkurrenzveranstaltung, die Berlin mit Konstantinopel ausschließlich über die Territorien verbündeter Staaten verband.

Aber am Bosporus war noch lang‘ nicht Schluss.

Wenn man erst einmal durch die anatolischen Gebirge bis nach Aleppo (auf der obigen Karte mit dem türkischen Namen der Stadt gekennzeichnet: Halep) vorgedrungen war, so konnte man sich in die Bagdadbahn setzen und über Mosul nach Bagdad, Babylon und Basra am Persischen Golf tuckern. Das freute die Badetouristen, wenn auch mit einigen Jahrzehnten Verspätung, weil der Bau immer wieder unterbrochen wurde.

Es war aber auch ein kompliziertes Projekt, weswegen die Osmanen es gerne der Siemens AG überließen. Die waren einerseits für Großprojekte, aber vor allem für Schmiergeld bekannt. (Habt Ihr eigentlich schon mal gezählt, wie viele DAX-Konzerne kriminell sind? Wir müssen uns echt nicht echauffieren über die Korruptionsprobleme anderer Länder.)

Wer nicht baden, sondern beten wollte, der bestieg in Aleppo den Zug nach Süden und fuhr nach Damaskus, nach Haifa, nach Jerusalem, nach Medina. Das letzte Teilstück nach Mekka, eigentlich der Anlass für die gesamte Strecke, wurde nicht mehr verwirklicht, weil – naja, dazu kommen wir später. Aber dass die Briten daran schuld sind, das wisst Ihr ja schon.

Aus eigener Hand und erster Erfahrung kenne ich die alten Bahnhöfe aus Damaskus und aus Jerusalem, beide nicht mehr so ganz aktiv. Und vor allem nicht mehr miteinander verbunden. Früher war eben doch vieles besser.

Auch dieses Projekt, die Hedschasbahn, stand unter deutscher Führung, unter anderem der von Heinrich August Meißner und Paul Levy. Letzteren ereilte das tragische Schicksal, als deutscher Eisenbahningenieur und zeitweise Direktor bei der Deutschen Reichsbahn 1943 von eben jener Reichsbahn nach Auschwitz deportiert zu werden, wo er im Konzentrationslager ermordet wurde. – Wie ich immer warne: Identifiziert Euch nicht zu sehr mit dem Arbeitgeber. Er wird es Euch nicht danken.

Jedenfalls versteht Ihr jetzt den Hintergrund, wenn Ihr nächstes Wochenende beim Wandern in der arabischen Wüste auf kleine Bahnhöfe stößt, die genauso aussehen wie diejenigen im Neckartal oder in Oberfranken. Sogar mit Schrägdach gegen den Schnee und mit Kamin gegen die harten Winter. Man kann ja nie wissen, bei diesen Klimakapriolen. (So ist die Siemens AG. Die bescheißen auch noch bei der Bahn zum Heiligen Propheten.)

Die Fotos stammen von dieser Website, die alle Stationen auf der Strecke von Damaskus nach Medina auflistet, inklusive der traurigen Eisenbahnfriedhöfe. (Eisenbahnfreaks gibt es wirklich überall auf der Welt, was den völkerfreundschaftlichen Charakter dieses Verkehrsmittels betont.)

Apropos Völkerfreundschaft: Wir waren ja eigentlich bei der Aufteilung der Welt nach dem großen Krieg gewesen, mit dem, wie diese Reihe Monat für Monat zeigt, so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Und – dafür diente eigentlich der kleine Eisenbahnexkurs – ich hatte gerade erklärt, warum die Europäer die Araber nicht ganz so offensichtlich unterjochen konnten wie die Afrikaner.

Die Lösung war, dass bestimmte Gebiete praktisch für minderjährig erklärt wurden: Sie sollten zwar irgendwann, in ferner Zukunft, unabhängig werden dürfen. Aber weil sie noch nicht reif dafür waren, wurden sie zu Protektoraten oder Mandatsgebieten erklärt. Erwachsene Staaten sollten ihnen an die Seite gestellt werden, wie ein Vormund.

Im Nahen Osten übernahmen Frankreich und Großbritannien diese Aufgabe. Gemeinsam beugten sie sich über eine Landkarte und zeichneten die Sykes-Picot-Linie ein. Einfach so. „Ist ja eh alles nur Sand“, dachten die Diplomaten, weil sie keine Ahnung hatten von Sunniten, Schiiten, Drusen, Kurden, Zoroastriern, Sufis, Kopten, Marsch-Arabern, Mandäern, Alawiten, Chaldäern, Nubiern, Jesiden, Juden, Aramäern, Assyrern, Berbern und den württembergischen Templern.

Das war, was der Australier gemeint hatte.

Von Orten der Hochkultur wie Philae, Hegra, Ktesiphon oder Hatra hatten die Europäer, die jeden alten Komposthaufen stolz zu einem Keltenwall erklären, noch nie gehört. Und seien wir doch mal ehrlich: Wer von uns kennt irgendeinen der genannten Orte? (Die Bilder sind in der Reihe der Ortsnamen aufgeführt. Mehr zu jedem dieser Orte in der ARTE-Dokumentation oder dem Buch von Daniel Gerlach.)

Eine dieser Konferenzen, mit denen die Europäer den Samen für zukünftige Nahostkonflikte legen wollten, fand im April 1920 im italienischen San Remo statt. Frankreich übernahm die Vormundschaft für das Gebiet, das später Libanon und Syrien werden würde. Großbritannien nahm sich des Gebietes an, das später zu Israel, Palästina, Jordanien, dem Irak und Kuwait werden sollte.

Das britische Gebiet war größer. Im Gegenzug erhielt Frankreich ein Viertel des im Nordirak (Provinz Mosul) geförderten Erdöls. Überhaupt könnte man fast den Eindruck gewinnen, es wäre den Großmächten eher um Öl als um Entwicklung von Staatlichkeit gegangen, aber wir wollen hier nicht zynisch werden. Sicher waren ausschließlich hehre Absichten im Spiel. (Außerdem erfand Frankreich bald die Atomenergie und konnte sich damit aus dem Nahen Osten zurückziehen. Für das Uran ist Afrika viel wichtiger.)

Weil die Konferenz in San Remo stattfand und weil die westlichen Staaten dort den Nahen Osten wie eine Pizza unter sich aufteilten, ist „San Remo“ auch heute noch ein beliebter Name für Pizzerien. Und deshalb dürfen Pizzas – obwohl das sonst nach dem EU-weit verpflichtenden Dezimalsystem eigentlich verboten ist – noch immer nach dem britisch-imperialen Hexal-, Oktal- oder Duodezimalsystem zerschnitten werden. (Aus der beliebten Reihe „Fakten, bei denen Ihr Euch wundert, dass Euch das noch nicht selbst aufgefallen ist.“)

Gar nicht lustig fanden das die Kurden, weil sie schon wieder keinen eigenen Staat bekommen hatten. Aber das ist vielleicht ein Thema für Juli 1923, wenn wir den Vertrag von Lausanne behandeln. Gar nicht lustig fanden das die Armenier. Aber die waren weitgehend tot. Gar nicht lustig fanden das die Juden, insbesondere als die Araber plötzlich beste Freunde mit den Nazis wurden. Aber das ist eine andere Geschichte.

In dem britischen Mandatsgebiet Palästina gab es immer wieder Probleme. Die Juden wollten einen Staat. Die PLO wollte einen Staat. Die Hamas wollte keinen Staat, wollte aber auch nicht, dass die PLO oder die Juden einen Staat bekamen. Der Papst wollte die Kontrolle über Jerusalem. Die Leute aus Jerusalem beschwerten sich, dass die Leute aus Tel Aviv zu laut Party machen. Die Österreicher mischten mit. Die Joghurtpreise stiegen. Jeden Tag nur Probleme.

Man kann über die Briten sagen, was man will, aber Bildung haben sie. So erinnerten sie sich aus dem Lateinunterricht an das alte römische Motto „divide et impera“ und dachten: „Wir machen das wie in Irland oder in Indien. Wir teilen das Land, dann bekriegen sich alle gegenseitig.“ Das ganze war eine Idee von Winston Churchill, der war damals britischer Kolonialminister. In dieser Rolle haben wir ihn ja bereits kennengelernt.

Die Briten teilte das Mandatsgebiet Palästina entlang des Flusses Jordan in Cisjordanien (das heutige Israel und Palästina) und Transjordanien (das heutige Jordanien). Dieser Fluss ist übrigens ein enttäuschend kleines Rinnsal. Man liest immer darüber in der Bibel und im Tanach, im Alten wie im Neuen Testament. Und dann kommt man hin, und der Fluss ist so mau und lau, dass man ihn glatt zu Fuß überqueren könnte. Aber man will ja nicht wegen so einer dämlichen Wasserüberquerungsstory plötzlich als Prophet dastehen. Den Stress braucht keiner.

Transjordanien wurde ein autonomes Emirat und der Familie der Haschemiten zugeschustert. Die stammen direkt vom Urgroßvater des Propheten Mohammed ab, aber wenn Ihr schon mal im Orient wart, dann wisst Ihr, dass jeder direkt vom Propheten Mohammed oder einem seiner Verwandten, Freunde oder Weggefährten abstammt. Genauso wie in Neuengland jeder von den Pilgervätern abstammt. Und in Deutschland jeder von Karl dem Großen.

Im Zweiten Weltkrieg unterstützte der jordanische Emir die Alliierten gegen die Nazis. Das war durchaus bemerkenswert, denn der von seinem (ebenfalls von den Briten eingesetzten) Haschemitenbruder regierte Irak paktierte zeitweise mit den Nazis. (Diese Episode ist selbst für mich, der ich gerne auf der Zeitachse und der Weltkarte hin und her springe, zu verworren.) Abdallah wurde 1946 zum König befördert, und Transjordanien wurde als Königreich Jordanien unabhängig.

Daraufhin drehte König Abdallah ein bisschen durch. Wenige Stunden nachdem der Staat Israel gegründet worden war, griff Jordanien (zusammen mit Ägypten, Syrien, Libanon und dem Irak) den neuen Nachbarn an und annektierte das Westjordanland sowie Ostjerusalem. König Abdallah ließ sich zum „König aller Palästinenser“ ausrufen, wurde dann aber 1951 in Jerusalem von einem Palästinenser aus dem Zirkel des Nazi-Muftis, den Ihr oben beim Tee mit Adolf Hitler gesehen habt, erschossen. (Vielleicht sind doch die Deutschen am Nahostkonflikt schuld?) Der König verblutete in den Armen einer österreichischen Krankenschwester. (Österreich ist auch gar nicht so unschuldig, wie es immer tut.)

Die (alte) Königin von Jordanien, Nūr al-Hussein, habe ich übrigens mal persönlich getroffen. Es war 2009, und ich studierte Volkswirtschaft an der London School of Economics. Ich habe das später abgebrochen, weil Mathematik auf Englisch zu schwer war. Eigentlich komisch, weil ich gleichzeitig auf Englisch Philosophie studierte, und ich vorher jederzeit gewettet hätte, dass Philosophie in einer Fremdsprache komplizierter ist als Mathematik. Aber es war halt auch sehr hohe Mathematik. Und dann noch diese blöden britischen Maßeinheiten wie Unzen und Shillings.

Jedenfalls gab es an der LSE jeden Abend Vorträge, oft hochkarätig besetzt, manchmal sogar interessant. Und eines Abends ging es um die Abschaffung aller Atomwaffen. Es war November und London, also kalt und regnerisch, und ich hatte keine Lust, zurück in mein kleines, mäuseverseuchtes Zimmerchen in Tottenham zu gehen. (Dem Vermieter wollte ich nichts mehr von den Mäusen sagen, nachdem er die ersten erschlagen hatte und sagte, dass die toten Mäuse zur Abschreckung im Flur liegen bleiben müssen. Das sah so aus wie die Meerschweinchen, die sie in Peru essen.)

Abschaffung aller Atomwaffen war ein Thema, das mir 2009 am Herzen lag. Denn im April des gleichen Jahres war ich in Prag gewesen, um der Rede von Barack Obama zu lauschen, in der er seinen Plan für eine atomwaffenfreie Welt vorstellte. Und im Zug dorthin hatte ich – es war Zufall, ich schwör’s – drei iranische Rechtsanwälte getroffen, die ebenfalls nach Prag mussten, weil sie einen Termin mit Hillary Clinton hatten. Irgendwas über Menschenrechte. Und zwei Monate später, im Juni 2009, brach im Iran die Grüne Revolution aus (leider ebenso erfolglos wie der Atomwaffenabschaffungsplan).

Verprügelt ist besser als erschossen.

Wie Ihr schon merkt, war ich damals ein bisschen politisch interessiert, also flog ich in den Iran, ging auf Demos, ließ mich von der Polizei verprügeln, wich den Kugeln der Scharfschützen aus, und wurde schließlich zusammen mit einem der iranischen Rechtsanwälte verhaftet.

Wir wurden natürlich getrennt inhaftiert und verhört. (Ich habe ihn erst Jahre später wieder gesehen.) Aber es bringt ja nichts, zu lügen, wenn man nicht davon ausgehen kann, dass der jeweils andere genau die gleiche Lüge erfindet. Also musste ich auf die Frage, wie wir uns kennengelernt hatten, wahrheitsgemäß antworten:

„Im Zug von Amberg nach Prag.“

„Und was wollten Sie in Prag?“

„Ich wollte mir eine Rede von Barack Obama anhören.“

Ihr hättet die Blicke der iranischen Geheimdienstmitarbeiter im Raum sehen sollen! Ganz ehrlich, ich habe sie selbst nicht gesehen. Mir waren nämlich während der ganzen Zeit die Augen verbunden. Jedenfalls folgte eine sehr intensive Befragung, warum der US-amerikanische Präsident gerade mich zu seiner Rede eingeladen hatte (es war eine öffentliche Veranstaltung), was er gesagt hatte (das stand in der Zeitung und wahrscheinlich auch auf YouTube) und über meine persönliche Meinung zum iranischen Atomprogramm. Die darauf folgende Diskussion war so interessant, dass ich sie für das Buch aufspare, das ich vielleicht irgendwann über diese kleine Episode schreiben werde.

Mein Juristen- und Gefängniskollege, Mohammad Mostafaei, hat ein Buch geschrieben, das es bisher allerdings nur auf Norwegisch gibt. Aber ich habe gehört, Norwegisch soll für Deutsche sehr leicht zu lernen sein. Wenn das Land nicht so teuer wäre, könnte ich es dort glatt noch einmal mit dem Mathematikstudium versuchen. Aber ich glaube, ich mache erst einmal Soziologie auf Spanisch.

Das erste Zimmer, das ich in London bewohnte, war übrigens kleiner als die Zelle im Evin-Gefängnis. Vor 15 Jahren habe ich dort schon den Immobilienmarkt erlebt, den jetzt in Berlin alle verteufeln.

Deshalb wollte ich an jenem Abend nicht nach Hause, sondern blieb an der Universität. Ich war dann ziemlich verdutzt, als im Vorlesungssaal bewaffnete Leibwächter standen. Und dass ein Vortrag über die Abschaffung von Atomwaffen so gut besucht war. Und dass alle Selfies mit einer der Referentinnen machen wollten. – Vor allem in Großbritannien, wo die Leute ja eigentlich jeden Tag die Königin sehen. Jedes Mal, wenn sie eine Briefmarke oder einen Geldschein in der Hand halten. Das muss jetzt übrigens alles eingestampft und neu gedruckt werden. Und über 100.000 Briefkästen im Land müssen ausgetauscht werden, weil die Initialen der Königin drauf stehen, was der neue König natürlich nicht tolerieren kann.

Holla, jetzt bin ich aber wirklich abgeschweift!

Schlimmer als beim Schwejk. Und der hatte wenigstens den Alkohol als Ausrede.

Eigentlich soll es in dieser kleinen Geschichtsreihe ja um Ereignisse gehen, die vor genau 100 Jahren stattfanden. Das passt ganz wunderbar, denn am 25. März 1923 erfolgte die formelle Trennung von Cis- und Transjordanien, womit wir endlich das Datum in Händen halten, das den an den Haaren herbeigezogenen Kontext konstruieren muss. Aber hier geht es ja immer eher um die großen Linie. Die Menschheitszusammenhänge. Die Schienenstränge, auf denen der Zug der Weltgeschichte vorwärts braust.

Wenn dieser Zug noch fahren würde.

Aber er rostet im Wüstensand vor sich hin, und das seit mittlerweile 100 Jahren.

Denn der Erste Weltkrieg, das Ende des Osmanischen Reichs, die Aufteilung der Region in neue Gebiete, Territorien und Staaten, das alles besiegelte das Ende der Eisenbahn.

Schuld war dieser Mann: Thomas Edward Lawrence, britischer Offizier im Ersten Weltkrieg, später bekannt (und verfilmt) als „Lawrence von Arabien“. Er war begeisterter Motorradfahrer und hatte eine fast schon krankhaft-pathologische Abneigung gegen Eisenbahnen. Er hasste die Eisenbahn so sehr; wenn nicht gerade der Krieg zwischen England und Deutschland getobt hätte, dann wäre er wahrscheinlich deutscher Verkehrsminister geworden.

Die Eisenbahn war aus der Sicht von Lawrence ein Instrument, mit dem sich der Pöbel und die Petit-Bourgeoisie zu Reisen und Abenteuern aufschwangen, die ihnen standesgemäß nicht zustanden. „Jede Hausfrau aus Hackney kann jetzt mit ihrer Wurstdose in die Wüste fahren“ und „die Bahn ist für Bünzlibürger“, zürnte er und jagte Eisenbahnbrücken, Bahndämme und Züge in die Luft.

Der Psychopath mit den Terroristenmethoden hatte es geschafft, seinen persönlichen Feldzug gegen Schienenstränge und Stahlrösser als politisch opportun zu verkaufen. Die Argumentation ging so: Großbritannien war im Krieg gegen Deutschland. Das Osmanische Reich war mit Deutschland verbündet. Also schadet man Deutschland, indem man den Osmanen schadet. Die Osmanen herrschen über den gesamten Nahen und Mittleren Osten, von Kairo bis Kerbala. Also würden die Briten die dort lebenden Beduinen mit Waffen ausrüsten und zum Guerillakampf aufstacheln. Die Osmanen müssten Truppen in die Wüste schicken, die dann nicht die Deutschen in Ypern oder Verdun unterstützen könnten. So die Kurzfassung.

Weil Lawrence den Beduinen und Arabern versprach, dass sie alle ihren eigenen Staat bekommen und König werden würden, spielten diese mit. Außerdem waren die Beduinen in der arabischen Wüste schon immer gegen die Eisenbahn gewesen, weil sie bis dahin ein Monopol für Pilgerkarawanen nach Mekka und Medina inngehabt hatten. Ebenso für den Warentransport in Städte, die nicht mit dem Schiff angefahren werden konnten. Die Eisenbahn war also schlecht fürs Kamelgeschäft.

Den Briten und Franzosen ging es nicht nur um den Krieg (der im Nahen Osten ohne sie ja nie entflammt worden wäre). Ihnen war die Eisenbahn zu den Heiligen Stätten des Islam auch deshalb suspekt, weil dadurch Muslime aus ihren Kolonien (von Algerien bis Kaschmir) leichter zum Hadsch, zur Pilgerfahrt, gelangten. Der Islam war zu jener Zeit ein anderer, als der, den wir jetzt von friedlich vor dem Bahnübergang wartenden Moscheen kennen. Damals waren Moscheen Treffpunkte der politischen Opposition, von aufkeimenden Befreiungsbewegungen, ja von Revolutionären. Die Muslimbrüder sind das wohl bekannteste Beispiel.

Und nach dem Ersten Weltkrieg ging es auch noch ums Öl.

Wer, wie das 1932 in seiner jetzigen Form gegründete Saudi-Arabien fast ausschließlich von Petroleum und Benzin lebt, der hat natürlich kein Interesse an der Wiederbelebung der Eisenbahn.

Wie beim Mord im Orientexpress starben die Hedschas- und die Bagdadbahn also an vielen Messerstichen, ausgeführt durch viele Hände, aus ganz unterschiedlichen Motiven.

Und so liegen auch 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg noch immer die entgleisten Lokomotiven in der Wüste. Je trockener es ist, umso länger hält sich das alte Zeug. Wie in der Geisterstadt in der Atacama-Wüste, wo es auch Jahrzehnte später so aussieht, wie wenn die Leute erst gestern ausgezogen wären. Da habe ich ja auch ein paar Lokomotiven gefunden, um, wenn wir schon von Kontinent zu Kontinent springen, wenigstens beim Eisenbahnthema zu bleiben.

Mit den nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Staaten verblasste schnell die Erinnerung an die gemeinsame Eisenbahnvergangenheit. Die Länder wollten ihre eigene nationale Identität schaffen, Austausch war nicht erwünscht. Friede war nicht mehr von guten Beziehungen mit den Nachbarn, sondern vom fernen London oder Paris, später Washington oder Moskau abhängig. Kein Araber wollte den Zug durch Israel nehmen, kein Jude wollte mit dem Zug durch Syrien in den Irak fahren. Die meisten Grenzen waren dicht. Minenfelder statt Bahnhofsbuffets.

Fast so schlimm wie die Kleinstaaterei im deutschen ÖPNV.

Und so verschwand die gute alte Welt, als man am Bahnhof in Berlin, Braunschweig oder Berchtesgaden ohne Umstände ein Ticket nach Bagdad erstehen konnte. Versucht das mal heute! Auch Dortmund-Diyarbakir-Damaskus oder Aalen-Aleppo-Amann werden nicht mehr angeboten.

Heute muss man, wenn man zu den geschichtsträchtigen Orten im Zweistromland will, notgedrungen trampen. (Ja doch, das geht auch im Nahen Osten. Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3 und hoffentlich irgendwann Beispiel 4 auf diesem Blog.)

Bei den oben aufgeführten Wüstenstädten habt Ihr vielleicht eine vermisst. Die einzige, die man wirklich in aller Welt kennt: Petra, die Hauptstadt der Nabatäer, im heutigen Jordanien.

Da war ich sogar schon mal. Ist ein bisschen touristisch geworden, seitdem die Haschemiten das Zepter von den Nabatäern übernommen haben. Aber vielleicht ist das die Schuld der UNESCO. Die mischt sich ja überall ein, anstatt etwas gegen den Hunger in der Welt zu unternehmen. Die Dresdner kennen das.

Und ich muss sagen, auch wenn ich touristische Highlights gerne links liegen lasse und mich auf die Routen abseits der Touristenströme begebe: Petra ist den Besuch absolut wert. Es ist nicht nur die eine Schlucht und der eine Tempel, den man aus dem Fernsehen kennt. Da sind Dutzende von prächtigen Gebäuden, verteilt über mehrere Täler. Und man kann ziemlich unbeaufsichtigt herumklettern und einen ruhigen Platz auf dem Dach eines alten Palastes finden, wo man in der untergehenden Sonne über die Vergänglichkeit von Hochkulturen sinnieren kann.

Ich war damals mit zwei Freunden in Petra. Weil wir alle drei Rechtsanwälte waren, konnten wir uns sogar einen Mietwagen leisten. Ich war der älteste (das passiert mir oft), also sollte ich fahren und navigieren (das passiert immer seltener). Ich wusste, dass es von Akaba einfach in Richtung Norden ging, und dann würde sicher ein Schild auf das Weltkulturerbe hinweisen. Gar kein Problem.

Leider nahm ich schon beim ersten Kreisverkehr die falsche Ausfahrt und fuhr auf die Straße Nr. 65, die ganz nah am Jordan entlang nach Norden geht. Die Richtung stimmte, aber es war militärisches Sperrgebiet.

Bald kam ein Checkpoint mir jordanischen Soldaten, die uns freundlich sagten, dass das hier für Zivilisten leider, leider gesperrt sei. Aber damals war gerade irgendeine Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft, und als sie merkten, dass wir aus Deutschland waren, wollten sie nur mehr über Fußball reden.

„Wo wollt Ihr eigentlich hin?“ fragten sie irgendwann.

„Nach Petra.“

„Hm. Falsche Straße.“

„Aber hier geht es doch nach Norden, oder?“ fragte ich, um zu zeigen, dass wir uns von Profi zu Experten unterhalten konnten.

„Ja, aber nur für Militärfahrzeuge. Außerdem führt von dieser Straße keine Straße ins Wadi Musa. Ihr kommt also von der falschen Seite nach Petra.“

Ich sagte nichts.

Die Soldaten beratschlagten sich, bis einer sagte: „Wenn Ihr jetzt umkehrt, verliert Ihr eine Menge Zeit. Wir lassen Euch also durch und geben dem nächsten Posten per Funk Bescheid. Sagt einfach jedes Mal, dass Ihr nach Petra wollt. Die Jungs zeigen Euch dann schon den Weg.“

Gesagt, getan. Zwei weitere Checkpoints, und beim letzten die Anweisung, nach dem Ort Ar-Rishah noch genau 3 km zu fahren, und dann rechts in einen Wüstenweg einzubiegen, der uns nach etwa 20 km auf die richtige Straße bringen sollte.

Auf dem Foto seht Ihr im Hintergrund die Militärstraße, davon abzweigend den „Wüstenweg“ (wenn ich den verpasst hätte, könnte mir auch niemand einen Vorwurf machen, ehrlich), das nicht für solche Exkursionen ausgelegte Auto, und mich auf einem Hügel, um die Gegend zu erkunden und hoffentlich eine Route zu erspähen. (Das war alles in der Zeit vor GPS und Handys und so.)

Wahrscheinlich machten meine Freunde das Foto, weil sie eine Ahnung vom nahenden Tod überkam und sie der Nachwelt übermitteln wollten, wessen Schuld das alles war. Wir blieben ein paarmal fast im Sand stecken. Uns ging das Wasser aus. Der Hirte war nicht erfreut, als ich durch seine Schafherde fuhr, und schoss in die Luft. Das Auto dampfte und zischte. Aber endlich fanden wir wieder auf eine Teerstraße, die Straße Nr. 35, die richtige, offizielle Route nach Petra. Große Erleichterung! (Die Freunde von damals sind noch immer Freunde, das sagt ja eigentlich alles.)

Jedenfalls kann ich Euch sagen, dass ich noch selten in einem Land mit so freundlichen und humorvollen Soldaten und Grenzpolizisten war. Obwohl wir nur einen Tag in Jordanien waren, halte ich das Land in äußerst positiver Erinnerung. Eigentlich sollte ich mal wieder hinfahren, da gibt es ja auch einen schönen langen Wanderweg.

Und von Amman aus funktioniert sogar noch ein 80 Kilometer langes Teilstück der Hedschasbahn. Mit den Original-Waggons, wie es aussieht.

Hoffentlich kommt nicht wieder so ein verrückter Engländer vorbei und sprengt auch noch diesen letzten Zug in die Luft.

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Paragraphenreiterei

Ich finde es ja grundsätzlich gut, wenn Hauseigentümer ihre Garagenwände mit Auszügen aus Gesetzestexten und insbesondere aus der Verfassung schmücken.

Aber das Grundgesetz hat Artikel, keine Paragraphen!

Für Wohnungsgesellschaften und andere Großgrundbesitzer böte sich übrigens auch der Abdruck von Art. 15 GG an.

(Fotografiert in Gosen, Brandenburg, während meiner Frühlingswanderung.)

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Frühlingswanderung

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Egal, was Wettervorhersage, Kalender, Meteorologen oder Theologen sagen, für mich war heute der Frühlingsanfang.

Also bin ich gewandert:

  • Von Müggelheim nach Gosen, und damit gleichzeitig von Berlin nach Brandenburg.
  • Immer am Ufer des Seddinsees entlang, bis zur Einmündung des Spree-Oder-Kanals, der ins schöne Eisenhüttenstadt führt.
  • Von Wernsdorf nach Neu-Zittau bin ich eine kurze Strecke getrampt; danke an die beiden netten Männer aus Müggelheim!
  • Aber dann wieder zu Fuß weiter nach Erkner, das sich wegen eines Krankheitsaufenthalts des Meisters als Gerhart-Hauptmann-Stadt schmückt, aber sonst, naja. Sagen wir mal so: Es gibt schönere Städte in Brandenburg.

Wie immer in dieser Gegend ziemlich viel Wasser, was zu Fuß große Umwege für kurze Luftlinien erfordert. Hier ist der Bootsführerschein echt sinnvoller als ein Autoführerschein.

Aber vielleicht löst sich das Problem ja bald, wenn das Tesla-Werk im benachbarten Grünheide das ganze Grundwasser abpumpt. Wir sollten auf Schiffe statt auf Autos setzen. Die Kanäle haben wir ja schon, und auf denen kommt man durch ganz Europa.

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Am Hauptbahnhof in Berlin

Hier ist weniger los, als ich gedacht hätte.

Jedenfalls weniger Trubel als auf den Hauptbahnhöfen vergleichbarer Metropolen wie Tokio, Schanghai oder Neu-Delhi. Aber vielleicht warten auch nur alle, bis das 49-Euro-Ticket kommt.

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Großprojekt

Einer der Biber in Müggelheim scheint ein bisschen größenwahnsinnig zu sein.

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Fastenzeit: Wann verzichten die Kirchen?

Gerade haben die Hohenzollern ihren Verzicht auf Millionenforderungen gegen uns unschuldige deutsche Staatsbürger bekannt gegeben, und die meisten Reaktionen lauteten: „Na, endlich!“

Die seit der deutschen Revolution und der Entmachtung dieser Familie mittlerweile vergangenen 105 Jahre erscheinen tatsächlich wie eine lange Zeit. – Bis man erfährt, dass die christlichen Kirchen (und in geringerem Umfang andere Religionsgemeinschaften) in Deutschland noch immer jedes Jahr Staatsgeld einsacken, und zwar basierend auf Ansprüchen, die sie auf die Säkularisation von 1802 zurückführen. Das sind 221 Jahre.

Und nein, ich meine nicht die Kirchensteuer. Wer die noch zahlt, um damit die Vertuschung sexuellen Missbrauchs zu finanzieren, der ist selber schuld. Das Erzbistum Köln hat beispielsweise doppelt so viel an Rechtsanwälte, Medien- und Kommunikationsberater bezahlt wie an die Opfer des Missbrauchs. Bei diesen Prioritäten könnte man fast meinen, es ginge bei den geringen Zahlungen an die Opfer auch nur um Public Relations.

„Kirche oder Mafia, manchmal erkenne ich selbst den Unterschied nicht.“

Nein, ich meine die sogenannten Staatsleistungen.

Das sind Zahlungen, die die deutschen Bundesländer aus dem allgemeinen Steueraufkommen (also auch dem von Atheisten und Agnostikern, Heiden und Häretikern, ja sogar von gar nicht religionsfähigen juristischen Personen, falls diese sich bequemen, in Deutschland Steuern zu bezahlen) bezahlen.

Im vergangenen Jahr waren das 687 Millionen Euro. Zusätzlich zur Kirchensteuer und zusätzlich zu zweckgebunden Subventionen an die Religionsgemeinschaften. (Zum Vergleich: Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das sich immerhin mit so Kleinigkeiten wie Extremismusbekämpfung, Verhinderung von Terroranschlägen und Spionageabwehr beschäftigen soll, kostete im gleichen Jahr 488 Millionen Euro.)

Warum und wofür bezahlen wir das?

Das Wofür ist einfach: Die Kirchen können mit dem Geld machen, was sie wollen. Sie müssen keine Rechenschaft ablegen. – Aber gut, die werden das sicher irgendwie sinnvoll verwenden und sich keinen geschmacklosen Klimbim davon kaufen. Die Bescheidenheit unserer Kirchen ist schließlich sprichwörtlich, nicht wahr?

Beim Warum hingegen wird es historisch und kompliziert.

Ich habe das schon einmal am Beispiel Bayerns ausgeführt, und zwar in den Kapiteln 49 und 50 meiner Wanderung zu den Königsschlössern, die ich deshalb einfach zitiere. Wenn es gut ist, Joghurtbecher und Altpapier zu rezyklieren, dann kann es nicht falsch sein, Blogbeiträge mehrfach zu verwenden.

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Vom Schiff aus erblicke ich das Kloster Andechs, dem ich erst gestern einen Besuch abgestattet habe, und erinnere mich an das dort (Kapitel 24-26) gegebene Gelübde, etwas aus der guten alten Zeit der Säkularisation zu berichten.

Säkularisation bezeichnet die staatliche Einziehung kirchlichen Eigentums, meist von Grundbesitz und Klöstern, aber auch von Kunstschätzen oder Bibliotheken. Das ging bis zur Annexion und Einverleibung ganzer kirchlicher Fürstentümer.

Einzelne Bestrebungen dazu gab es schon vorher, aber ab 1802 machte Bayern richtig Tabula rasa. Fast alle Klöster, Hochstifte, Reichsabteien und Fürststifte wurden aufgelöst, ihr Eigentum wurde verstaatlicht. (Das war die Erfindung des Kommunismus, noch weit vor Marx und Lenin!) Nur einige Klöster wurden als sogenannte Aussterbeklöster belassen. Dort durften die bisherigen Mönche noch ergebnislos beten, aber das Kloster war vom Transfermarkt ausgeschlossen und konnte keine neuen Mitspieler aufnehmen.

Das Projekt wurde generalstabsmäßig durchgezogen. Zuerst waren die Klöster der Bettelorden dran, für die sich natürlich niemand einsetze. („Selbst schuld, dass sie arm sind“, denken Reiche oft über Arme.) In die reichen Prälatenorden entsandte Bayern Kommissare, die auflisteten, was alles an Gold, Weihrauch und Myrrhe da war. 1803 kam es zu dem zumindest dem Namen nach bekannten Reichsdeputationshauptschluss, in dem das Heilige Römische Reich den Gliedstaaten freie Hand gegenüber den Klöstern ließ. Bayern schlug sofort zu und enteignete gnadenlos wie das Landgewinnungskomitee zum Bau der Baikal-Amur-Magistrale. Ein Beweis, dass Beten nicht hilft.

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Nur leider hatte diese Säkularisation zwei Mängel:

Zum einen wurden nur die selbständigen Klöster und Fürstbischöfe enteignet, nicht aber die katholischen oder protestantischen Kirchen als solche. Die gewöhnlichen Pfarrkirchen und Kathedralen blieben also bestehen. Eine verpasste Chance.

Zweitens haben sich die Kirchen mittlerweile fette Entschädigungszahlungen für die einstigen Enteignungen gesichert. Ich könnte jetzt viel verwirren mit dem Konkordat zwischen dem Königreich Bayern und dem Heiligen Stuhl von 1817, warum Bayern die Bischöfe besoldet, dem Konkordat des Freistaats Bayern von 1924, der Einführung der Kirchensteuer, dem Konkordat des Deutschen Reichs von 1933, den Konkordatslehrstühlen, sowie der Frage, warum auch heute noch die Religionsverfassungsartikel der Weimarer Reichsverfassung gelten.

Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 verlangte, dass die Länder die Entschädigungszahlungen durch einmalige Zahlung ablösen, wofür das Deutsche Reich aber die Rahmengesetzgebung verabschieden sollte. Das geschah nie. Als 1949 das Grundgesetz die Möglichkeit zum Neuanfang gegeben hätte, war die Sache schon so unübersehbar kompliziert geworden, dass man in Artikel 140 des Grundgesetzes einfach die teilweise Weitergeltung der Weimarer Reichsverfassung anordnete und hoffte, dass es niemandem auffallen würde. Es scheint tatsächlich nie jemandem aufgefallen zu sein, denn auch in der Geschichte der Bundesrepublik kam es nie zu der geforderten Ablösung.

Und so zahlen deutsche Steuerzahler seit mehr als 100 Jahren Staatsleistungen an die katholischen und protestantischen Kirchen wegen der Säkularisation von vor 200 Jahren. Wohlgemerkt aus dem allgemeinen Steueraufkommen; das hat nichts mit der Kirchensteuer zu tun. Hier zahlen auch die Atheisten mit. Aber gut, in diesem Jahr sind es nur 656 Millionen Euro, und die Kirche revanchiert sich dafür, indem sie staatliche Behörden nicht mit Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs belastet, sondern die kriminellen Angelegenheiten kostengünstig intern klärt.

Wie Ihr seht, sind es seither ein paar Millionen mehr geworden.

Aber die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, dass es in dieser Legislaturperiode zu einer endgültigen Regelung kommen soll, um die unendlichen Zahlungen zu beenden. Und wie wir wissen, werden alle Punkte aus dem Koalitionsvertrag zügig und einvernehmlich umgesetzt, so dass Hoffnung besteht. Wem das nicht reicht, der muss halt doch beten.

Oder die Kirchen könnten, wenn es sogar die Hohenzollern können, einfach verzichten.

Schließlich ist gerade Fastenzeit.

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Die Hohenzollern geben auf

Das waren harte Monate für die deutschen Fürstenhäuser.

Zuerst wurde Heinrich XIII. Prinz Reuß verhaftet, vorgeführt und weggesperrt, obwohl er doch so gerne König, Kaiser oder Reichspräsident geworden wäre.

Weil er bei der Festnahme eine FFP2-Maske trug, verscherzte sich das fast zukünftige Staatsoberhaupt sogleich die Sympathien mindestens der Hälfte seiner Unterstützer, die nicht an Viren glauben, den Gesundheitsminister ermorden wollen und in allen Stoffen außer Tweed (nur echt, wenn von unterdrückten schottischen Leibeigenen gewebt) eine Freiheitsbeschränkung sehen. Deshalb gab es bisher wohl keinen Versuch der „Patriotischen Union“, ihren Vorzeige-Clown aus dem Gefängnis freizubomben.

Auf diesem Blog findet Ihr natürlich alle Hintergründe zu den Reichsbürgern. Wie immer sachlich fundiert, vollkommen objektiv und total neutral. Denn mit der deutschen Geschichte macht man keine Witze.

Und jetzt hat Georg Friedrich Prinz von Preußen, Clan-Chef der Hohenzollern-Bande, klein beigeben müssen. Rechtzeitig vor dem auf den 13. und 14. Juni 2023 anberaumten Gerichtstermin beim Verwaltungsgericht Potsdam, für den ich mir schon extra freigenommen hatte, hat der von seinem Naturell (oder vom BWL-Studium her) eigentlich eher geldgeile Prinz erklärt, auf millionschwere Forderungen gegen ostdeutsche Bundesländer zu verzichten.

Man verzichtet aber halt auch leichter, wenn die entscheidende Frage die ist, ob die Vorfahren mit den Nazis unter einer Decke gesteckt haben und eben jene Vorfahren ganz freiwillig, offen, regelmäßig, dauerhaft und lautstark in die Nazi-Kiste gehüpft waren. So ein Pech, dass es damals schon Fotos und Zeitungen gab.

Auch zu dem Hohenzollern-Nazi-Entschädigungskomplex, der wirklich ein bisschen kompliziert ist, gibt es auf diesem wunderbaren Blog einen sachlich-objektiven, historisch und juristisch fundierten Erklär-Artikel. Letzteres ist auch besser so, denn andernfalls wird man ziemlich schnell verklagt.

Aber auch damit soll jetzt Schluss sein, hat der Prinz von Preußen versprochen. Anscheinend ist sogar das Geld für Anwälte knapp, was mir als Jurist natürlich besonders leid tut. Denn wenn man schon bei den Juristen sparen muss, tja, dann wird Preußen niemals auferstehen. (Wenn Euch der verarmte Adel so richtig leid tut, könnt Ihr zur Feier des Tages ein Hohenzollern-Bier bestellen. Freibier gibt es leider keines, wir sind ja nicht in Bayern.)

Ach ja, zu den beiden Komplexen, Reichsbürger und Hohenzollern, gibt es auch jeweils einen Podcast, zu finden unter den angegeben Links.

Lang lebe die Republik!

Jetzt müssten nur noch die Kirchen nachziehen.

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Mit dem Flugzeug zum Müggelsee

Der Artikel über die Flaschenpost im Müggelsee, von der ich nach nur wenigen Tagen kaum annehmen darf, dass sie diesen schon verlassen hat, enthält zwei Fotos, die die etwas jüngeren Menschen unter der Leserschaft in Erstaunen versetzt haben. Viele wissen gar nicht, dass man den Lieblingssee aller Berlinerinnen und Berliner nicht nur mit dem Bus, zu Fuß, mit dem Fahrrad, auf einem Kanu, Ruder-, Paddel-, Tret- oder Hausboot und notfalls wohl auch mit dem Automobil erreichen kann, sondern dass man einst mit dem Flugzeug anreiste.

Auf dem ersten Foto erkennt man gut die Müggelberge, mit den jeweiligen Müggeltürmen. Das zweite Foto muss am Steg vor dem Ausflugslokal „Rübezahl“ an der Südseite des Sees aufgenommen worden sein, denn dort sieht es noch immer genauso aus.

Die Landung der Dornier Do-X auf dem Müggelsee am 24. Mai 1932 war der Schluss-, End- und Höhepunkt einer 18-monatigen Welttournee des seinerzeit größten Flugzeuges der Menschheitsgeschichte.

Früher sahen die Flugzeuge nicht nur besser aus, man hatte auch viel mehr Platz und Komfort. Und man durfte an Bord noch rauchen.

Ich in so alt, an letzteres kann ich mich noch aus eigener Erfahrung erinnern. Vielleicht muss man das für die Kinder hier mal erzählen: Damals wurde bei Flug-, aber auch bei Bahnreisen beim Ticketkauf gefragt, ob man lieber im Raucher- oder Nichtraucherbereich sitzen möchte. Im Flugzeug saßen die Raucher dann hinten, die Nichtraucher vorne. Manchmal gab es einen Vorhang zwischen den beiden Abschnitten, manchmal nicht.

Auf langen Flügen (nach Singapur oder so) war das aber egal, weil die gesamte Kabine voller Qualm und Gestank und Gift und Tod war.

Das war ziemlich eklig. Deshalb sind damals viel mehr Menschen getrampt. Da gerät man zwar auch oft an Raucher, aber man kann das Fenster öffnen. Oder einfach unterwegs aussteigen, wenn es einem zu viel wird.

Hier noch ein paar Fotos von der Do-X am Müggelsee:

Und, ein ganz besonderes Schmankerl, eine Filmaufnahme von jenem freudigen Tag im Mai 1932:

Das Flugschiff wurde wirtschaftlich kein Erfolg, obwohl es so großzügig aus dem geheimen Rüstungsfonds der Weimarer Republik finanziert wurde, über dessen Machenschaften meine Leser bereits umfassend informiert sind. Von der Dornier Do-X wurden nur drei Stück gebaut, die bald alle im Museum beziehungsweise bei Altmetallhändlern landeten.

Und deshalb muss man jetzt wieder mit dem Bus zum Müggelsee fahren. Mit der Nr. 169 von Köpenick bis zur Haltestelle „Rübezahl“. Von dort spaziert Ihr schnurstracks nach Norden zum Müggelsee oder nach Süden zum Teufelssee. Seen und Wasser allenthalben und überall, fast wie in Finnland.

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Flaschenpost vom Müggelsee

Viele Leute kennen Müggelheim und insbesondere den Müggelsee nicht aus eigener Anschauung oder von meinem kleinen Reiseblog, sondern aus dem preisgekrönten Hollywood-Blockbuster-Erfolgsfilm „Hai-Alarm am Müggelsee“.

Der Film ist so naja, auch wenn er durchaus ein paar lustige Anspielungen aufweist, unter anderem auf das Vorbild aller Hai-Filme, aber auch auf die Schabowski-Pressekonferenz sowie die Westerwelle-Pressekonferenz und wahrscheinlich einiges mehr, welches ich als Ortsfremder nicht verstanden habe.

Die interessanteste Erkenntnis des Films war aber, dass der Müggelsee über alle möglichen Wasserstraßen mit den Weltmeeren, ja sogar mit Hawaii, verbunden ist.

Als Freund der völkerverständigenden Kommunikation, insbesondere der nicht-elektronischen, wofür ich manchmal, um zur naheliegenden Meeresmetapher zu greifen, als vorsintflutlich beschimpft werde, kam mir natürlich sofort eine Idee: eine Flaschenpost!

Nun ist diese Idee keine neue, nicht einmal für mich.

Bereits vor fast drei Jahren habe ich von den Azoren, mitten im Atlantik, wo diese Idee naheliegender als am östlichen Stadtrand von Berlin erscheinen mag, etliche in leere Glasflaschen und – mangels ausreichenden Alkoholkonsums – Gurkengläser gepackte, natürlich handgeschriebene Botschaften dem Meer, den Wellen, den Gezeiten und dem Schicksal überantwortet und auf eine Reise entlassen. Leider habe ich auf diese Briefe bis heute keine Rückmeldung erhalten, obwohl ich, aller Abneigung gegenüber jeglichem modernen Klimbim zum Trotz, neben meiner Post- sogar meine E-Mail-Adresse angegeben habe.

Der Müggelsee ist – in Fließrichtung – über die Müggelspree, die Spree, die Havel und die Elbe an die Nordsee angebunden, von wo aus einst die kaiserliche Hochseeflotte die Welt mit allen möglichen unsinnigen und sinnigen Missionen terrorisierte bzw. beglückte.

Das ist eine Karte von Berlin. Die markierten Flughäfen sind irrelevant, die funktionieren nicht mehr. Zur Nordsee geht es nach Norden, klar. Das ist oben. Aber man sagt bei Karten nicht „oben“ oder „unten“, zumindest nicht, wenn man bei den Pfadfindern oder ähnlichem war. Außerdem ist der Wasserweg zur Nordsee äußerst kurvig und verworren, so dass Berlin niemals zur wichtigen Hafenstadt wurde und niemand weiß, ob die hier den Naturgewalten übergebene Flasche jemals die raue See erblicken wird.

Mindestens eine Geschichte einer im Müggelsee erfolgreich versandten Flaschenpost scheint es zu geben, auch wenn mir wegen der Bezahlschranke der Märkischen Allgemeinen Zeitung die Details verschlossen bleiben. Eine Frau, die während eines Ausflugs an den Müggelsee eine Flaschenpost ins Wasser warf, hat dadurch und durch eine Antwort aus Paris (anscheinend haben die da auch Wasser, auch wenn sie immerzu Wein trinken) ihre große Liebe, ihren Mann und das Joch der Ehe gefunden. Wer Zugang zur MAZ hat, kann ja vielleicht Details beisteuern. Danke!

Von so hochtrabenden Hoffnungen bin ich gar nicht geleitet, als ich auf einem meiner vielen Spaziergänge, die in Müggelheim unweigerlich zum Wasser führen, eine Bouteille-Botschaft auf den Weg bringe. Ich habe extra einen regnerischen und windigen Tag ausgewählt, um wenig Zuschauer, aber mehr Strömung zu haben. Außerdem wollte ich es vor dem morgigen Feiertag erledigen, wenn wieder Millionen von Badegästen aus aller Welt einfliegen und die Strände von Köpenick, Friedrichshagen und Müggelheim bevölkern.

Gleich der erste Wurf gelingt. Schwungvoll und in weitem Bogen. Kraftvoll wie von einem gedopten Olympioniken. Elegant wie der Pinselstrich von Salvador Dalí (wahrscheinlich auch gedopt). Und dann dümpelt die Flasche im See, wabert auf und ab mit dem sanft plätschernden Wellengang, lässt sich treiben, ziellos, planlos, antriebslos. Sie kommt nicht recht vom Fleck. Wie eine hämische Metapher auf das Leben des Postabsenders und Flaschenwerfers.

Eine Zigarrenlänge, also eine gute halbe Stunde, verbleibe ich an dem Stück Strand, von dem aus das Kommunikationsband geknüpft ist und seine Finger und Fühler in die große, weite Welt ausstreckt. In dieser Zeit macht die Flasche vielleicht 10 Faden oder Klafter, also höchstens 60 Fuß. (Auf dem Wasser darf man nicht in Metern rechnen, das stört die Fische.) Noch enttäuschender als die Distanz ist die Richtung. Es ist nämlich die falsche.

Vielleicht hätte ich auf Ost- statt auf Westwind warten sollen, denke ich, und dass es vielleicht besser war, dass meine Bewerbung an der Marine-Akademie gescheitert ist.

Hoffentlich schafft es die Flasche zumindest durch Berlin und wird nicht schon in Kreuzberg abgefangen und im nächsten Späti zu schnödem Flaschenpfand umgewidmet. Denn an 25 Cent sollte eine Weltumrundung wahrlich nicht scheitern.

Links:

  • Es gibt einen ganzen Blog, der sich den Buddelbriefen widmet.
  • Schade, dass ich auf meinen Atlantiküberquerungen keine Flasche zur Hand hatte. Aber damals war ich so knapp bei Kasse, dass ich mir nicht einmal ein Bier leisten konnte.
  • Hier gibt es noch mehr Geschichten vom Meer.
  • Wenn man im Wasser versucht, in Metern und Kilometern zu messen, verunsichert man nicht nur die Meeresbiologie. Man verfährt sich auch leichter. So wie einst Kolumbus.

Falls Ihr nicht auf den Zufall vertrauen wollt, meine Flaschenpost zu finden, oder nicht am Meer wohnt, schicke ich Unterstützern dieses Blogs auch gerne eine Postkarte.

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