Ein Blinder zeigt mir den Weg

Böse Zungen, insbesondere solche aus anderen Städten, die das Ergebnis zur Wahl der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 noch immer nicht verwunden haben, behaupten oft, Chemnitz sei die größte Stadt in Deutschland ohne Anbindung an den Schienenfernverkehr.

Ganz abgesehen davon, dass es schon Europäische Kulturhauptstädte gab, die gar keinen Eisenbahnanschluss haben, stimmt es einfach nicht. Zum einen kommt man natürlich auch von Chemnitz mit ein oder zwei Umstiegen fast an jeden Bahnhof Europas oder Asiens. Zum anderen fahren jeden Tag Intercity-Züge von Chemnitz nach Warnemünde. Und weil die ostdeutschen Bundesländer ein Herz für Bahnfahrer:innen haben, legen sie eine Extraschippe Kohle drauf, so dass man die Schnellzüge sogar mit dem Deutschlandticket nutzen kann.

Warnemünde liegt an der Ostsee, und der Zug ist voll mit Reisenden, die sich auf den Strand freuen. Riesige Koffer haben sie gepackt, mit Badesachen und Bikinis, Taschenbüchern und Taucherbrillen. Die Kinder rennen wie von der Tarantel oder vom Seestern gestochen durch den Zug. Der Schaffner bringt Cappuccinos und Coca-Colas an den Platz. Man ist irgendwo zwischen Elsterwerda und Doberlug-Kirchhain, aber die Gedanken schwelgen bereits auf der Fähre nach Finnland oder am Frühstücksbuffet im FDGB-Ferienheim.

Ein älterer Mann ist erkennbar blind. Weißer Stock, drei Punkte, aber sympathisch. „Offener Blick“ würde ich schreiben, aber das ist ja irgendwie unpassend bei einem Blinden.

Er sitzt gegenüber zwei Jugendlichen, die zwar noch ihre Sehkraft, aber dafür keinen Blick für nichts haben. Zumindest nicht für ihre Mitmenschen. Jeder von ihnen trägt einen riesigen Kopfhörer und taucht ab in ferne Hip-Hop-Welten, oder was immer die Jugend von heute so hört. Aber ich will nicht vorschnell urteilen, vielleicht sind es Studenten und sie lauschen aufmerksam dem jüngsten Vortrag von Professor Heisenberg oder einer Vorlesung über die Geschichte des Rassismus. Oder sie lernen Fremdsprachen, das soll ja sinnvoll sein. Außer Uigurisch, dafür kommt man ins Umerziehungslager.

Weil ich keine konversationshemmenden Kopfhörer trage, spricht mich ein junger Mann an.

„Chemnitz?“ fragt er.

„Ja, ich komme aus Chemnitz“, bestätige ich und erzähle, dass ich zwar ursprünglich nicht von dort, sondern aus Bayern komme, dass ich aber, nach Jahren der Wanderschaft, mich im vergangenen Jahr in Chemnitz niedergelassen habe, dass es mir dort super gefalle, und zähle einzeln, detailliert und umfangreich – aber nicht abschließend – einige der Gründe auf, warum es mir dort gefällt. Nach etwa drei Minuten Monologisieren fällt mir ein, dass das als unhöflich oder egozentrisch interpretiert werden könnte, und frage den jungen Mann, ob er ebenfalls aus Chemnitz sei.

„Sorry, no German“, antwortet er hilflos und sieht mich etwas ängstlich an.

„Oh, that’s not a problem“, repliziere ich weltmännisch und unterbreite meinen eben schon vorgetragenen Sermon auf Englisch, wo er allerdings fünf statt drei Minuten in Anspruch nimmt, weil bekanntermaßen keine der vielen Sprachen dieser Welt zu so kurzer, knapper und bündiger Kommunikation einlädt wie das Deutsche und weil ich außerdem, wenn wir uns schon in dieser Weltsprache unterhalten, ein bisschen von meinen Weltreisen erzählen muss. Am Ende frage ich ihn wieder, ob er auch aus Chemnitz sei.

„Chemnitz?“ fragt er, und endlich merke ich, dass er weder Deutsch noch Englisch spricht.

Mittlerweile bin ich schlauer geworden und frage ihn, welche Sprache er spricht. Er versteht die Frage nicht. Nicht auf Deutsch, nicht auf Englisch, nicht auf Spanisch, nicht auf Italienisch, nicht auf Französisch, nicht auf Rumänisch.

Da zückt er sein Handy, zeigt mir einen Zugfahrplan, laut dem er in einem Zug von Elsterwerda nach Chemnitz sitzen sollte. Jetzt verstehe ich seine Frage!

Leider sitzt er im genau in die entgegengesetzte Richtung fahrenden Zug, von Elsterwerda nach Berlin, Rostock und Warnemünde. Weg von Chemnitz. Ich erkläre mit Handzeichen und Kopfschütteln, dass er nach Süden muss, aber nach Norden reist. Er ist, das muss ich jetzt so hart sagen, leider keiner, der blitzschnell kapiert.

Ich hingegen, naja, ich will mich jetzt nicht selbst loben, aber mir kommt die Idee, sein Handy genauer zu inspizieren, weil man daraus vielleicht ablesen kann, in welcher Sprache der junge Mann parlieren könnte. Und tatsächlich: Der Bildschirm ist mit einer Schrift übersäht, die den Älteren von uns aus den Tagen der Phönizier und Nabatäer bekannt ist. Damit ist das Rätsel gelöst: Er muss also Arabisch, Persisch, Paschtu, Pandschabi oder Urdu sprechen.

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„?العربية“ frage ich und achte darauf, das Fragezeichen richtig zu setzen, weil man im Arabischen bekanntermaßen von rechts nach links spricht.

„نعم“ antwortet er und rächt sich für meine vorherigen Redeschwalle mit einem ebensolchen in der Sprache des Propheten.

Jetzt bin ich derjenige, der dumm aus dem orientroten Pullover guckt.

Zum Glück sitzt an einem anderen Tisch ein Ehepaar, das Arabisch spricht und sich jetzt einschaltet. Die beiden haben zu zweit so viele und große Koffer dabei, wie anderswo für eine Schulklasse reichen würden. Wahrscheinlich ein reiches Ölscheichpaar, das in Deutschland, nachdem ihnen schon der halbe DAX gehört, auch noch fleißig Souvenirs eingekauft hat. Aber immerhin umweltbewusste Ölscheichs, die mit der zweiten Klasse der Deutschen Bahn reisen.

Zusammen übersetzen, eruieren und lösen wir auf, dass der junge Mann nach Roding will. Das ist in der Oberpfalz, da komme ich her, da kenne ich mich aus. Also erkläre ich – hilfsbereit, wie ich heute aufgelegt bin -, dass er beim nächsten Halt aussteigen und sodann Züge zurück nach Elsterwerda, nach Chemnitz, nach Hof, nach Schwandorf und von dort ins schöne Roding nehmen müsse.

Das ist noch eine ziemliche Tagesreise, aber so lohnt sich das Deutschlandticket wenigstens.

Als ich mich wieder meiner Zeitung zuwende, merke ich, wie die drei Reisenden aus dem Morgenland die Angaben des Weisen aus dem Abendland mit einem kleinen Taschencomputer überprüfen. Das begegnet mir jetzt leider immer öfter, dass Menschen gar nicht mehr glauben, man könne sich ohne Computer zurecht finden. Eigentlich sollte jeden Monat für eine Woche das Internet abgeschaltet werden, damit die Menschheit so Grundfähigkeiten wie Kartenlesen, einen Busfahrplan zu entziffern oder einfach jemanden zu fragen, nicht verlernt.

Der ältere Mann ist zwar blind, aber er hat eine funktionierende Blase. Er steht auf, tastet sich ziemlich sicher durch den Flur in Richtung Toilette. Leider haben die Türen dort keine Griffe mehr, weil irgendein Digitalisierungsdoldi geglaubt hat, dass Türgriffe altmodisch und out seien. Dafür gibt es jetzt Schalter, die die Hälfte der Zeit nicht funktionieren. (Man wünscht diesen Computerfuzzis, dass, wenn sie auf der Toilette sind, einmal für eine Woche der Strom ausfällt und sie die Tür nicht mehr öffnen können.)

Weil ich mich, was Ihr wahrscheinlich schon bemerkt habt, gerne in fremde Angelegenheiten einmische, stehe ich auf und biete dem blinden Mann meine Hilfe an. Ich sehe anhand eines roten Lichts, dass das rollende Badezimmer okkupiert ist, und verspreche, ihm mitzuteilen, sobald es frei wird. Außerdem, und das ist viel wichtiger, sage ich zu, die Toilette vor Eindringlingen zu bewachen, weil der Blinde möglicherweise den Knopf nicht findet, mit dem er das rote Licht anschalten und die Tür blockieren kann.

Auf einer TEDx-Konferenz in Rumänien, bei der ich auch eine kleine Rolle spielte, hatte ich einst einen blinden Programmierer kennengelernt. Vielleicht braucht es viel mehr Blinde in wichtigen Positionen, damit die Welt nicht mit dummen Toiletten, Minenfeldern und Stacheldrahtzäunen zugebaut wird.

Während ich vor der Zugtoilette warte und wache, spricht mich eine ältere Frau mit osteuropäischem Akzent verzweifelt an: „Sagen Sie, hält dieser Zug in Brandenburg?“

„Ich denke schon. Wir fahren ja gerade durch Brandenburg,“ sage ich etwas unsicher, weil meine vorhin gepriesenen Geographiekenntnisse sich im flachen Land verflüchtigen. Ich weiß echt nicht, wie man sich ohne Gebirgsketten orientieren soll. Das sieht ja alles gleich aus, von Ostende bis Königsberg, von der Maas bis an die Memel.

„Wo müssen Sie denn genau hin?“ frage ich.

„Zum Flughafen.“

„In welcher Stadt?“

„Brandenburg.“

Ach so. Jetzt geht mir ein Leuchtfeuer auf. Sie meint den Flughafen Berlin-Brandenburg, was tatsächlich der nächste Halt ist. Ich mache ihr diese freudige Mitteilung, womit ich glaube, die Angelegenheit erledigt zu haben.

„Aber auf der Anzeige steht Flughafen Berlin“, sagt sie zweifelnd.

„Das ist der gleiche Flughafen“, sage ich mit dem ganz besonderen „trust me“-Timbre in der Stimme.

Es hilft nichts, sie will jetzt wissen, warum der angeblich gleiche Flughafen einmal Flughafen Berlin und einmal Flughafen Brandenburg heißt. Zu allem Überfluss mischen sich einige der umstehenden Passagiere ein und behaupten, dass sei der Flughafen Schönefeld. Ein anderer meint, der Flughafen heiße Berlin-Brandenburg, weil Berlin in Brandenburg sei. (Arrghhh!) Und bald erzählen sie Geschichten von Tegel, von Tempelhof, von der Luftbrücke und von der Erfindung der Currywurst.

„Madame,“ denke ich mir nur, „seien Sie einfach froh, dass Sie so wenig wie möglich über diesen Flughafen wissen.“ Denn wer diese Geschichte hört, der muss verzweifeln.

Am Flughafen steigen dann all die Menschen, Koffer und Rucksäcke aus, von denen ich dachte, sie fahren nach Warnemünde an die Ostsee. Tja, anscheinend wollen die Menschen im Februar doch ins Warme. Vielleicht ist die Ostsee auch zu problematisch als Reiseziel. Wegen Peenemünde und dem Raketenprogramm. Ich meine, man macht ja auch keinen Urlaub in Nordkorea, oder?

Der blinde Mann kommt zurück und sagt, dass ich sehr hilfsbereit sei. Das stimmt wohl, deshalb arbeite ich auch in einem sozialen Beruf. Aber die dunkle Wahrheit ist, dass ich Blinden besonders gerne helfe, weil auf der mütterlichen Seite meiner Familie alle Menschen früher oder später erblindet sind. Und weil ich auf einem Genetikgymnasium war, kann ich ausrechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mir einst das gleiche Schicksal das Augenlicht trüben wird.

Deshalb halte ich nichts von der standardisierten Lebensplanung, bis Mitte 60 zu arbeiten und dann auf ein paar entspannte Jahre im Ruhestand zu hoffen. Denn wenn ich erst blind bin, kann ich nicht mehr um die Welt reisen. Ne, da nutze ich lieber die gesunden Jahre vorher.

„Nächste Station ist der Hauptbahnhof, da muss ich raus“, sagt der Blinde.

„Ich auch. Dann kann ich Ihnen gerne helfen“, biete ich an.

„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, sagt er und klärt mich auf, dass die Deutsche Bahn, wenn man vorher anruft, Mitarbeiter bereitstellt, die einen vom Zug abholen und zum Bus oder zum Anschlusszug bringen. So wie früher die Gepäckträger beim Orient-Express, als das Reisen noch stilvoll war. Andererseits wurde man da immer ermordet.

Wie ich die stets bahnkritischen Deutschen kenne, würden die sich darüber wahrscheinlich mächtig aufregen. Die machen ja schon jedes Mal ein Riesentamtam, wenn der Zug nach Buxtehude ein bisschen bummelt oder sich auf dem Weg nach Speyer verspätet. Und wenn gar ein Zug ganz ausfällt und man 30 oder 60 Minuten auf den nächsten warten muss, oh la la, dann ist das für den Bünzlibürger ein Weltuntergang!

Mir selbst ist das immer vollkommen egal, weil ich weiß, dass der Tag 24 Stunden hat. Und kein Zugausfall kann mir die wegnehmen. Wer immer mit einem Buch aus dem Haus geht, kann überall entspannt warten. Und dank verspäteter oder ausgefallener Züge, Schiffe und Flüge habe ich schon die interessantesten Menschen kennengelernt.

Außerdem finde ich es piefig, sich wegen kleiner Verspätungen aufzuregen, während Menschen nur wenige hundert Kilometer weiter östlich froh sind, die Eisenbahnreise überhaupt zu überleben.

Am Hauptbahnhof in Berlin wird man eher selten ermordet oder erschossen, dafür stirbt man im Winter an Unterkühlung. Ehrlich, das ist nicht nur der hässlichste, sondern auch der dümmste Bahnhof Europas. Da pfeift sowas von der Wind durch. Wahrscheinlich ist das sogar Absicht, weil sich die Bahn so das Ausfegen spart.

Ich muss in eines der oberen Geschosse, zur S3 nach Köpenick. Und was sehe ich da? Zwei Bahnkümmerinnern stellen gerade den blinden Mann ab, mit dem ich vorhin im Zug war. Das ist ja ein Zufall!

Weil er mich nicht gleich erkennt, stelle ich mich vor und teile erfreut mit, dass ich ebenfalls nach Köpenick fahre. Daraufhin entlässt er die beiden Begleiterinnen. Ich helfe ihm in den Zug und erzähle, hauptsächlich aus Sorge, dass er glaubt, dies alles sei irgendein Trick, um einen blinden Mann auszurauben, dass ich nach Köpenick fahre, weil ich die kommenden sechs Wochen in Müggelheim verbringe. Ich mache dort Haus- und Katzensitting für eine Familie, die in der Zeit in Thailand urlauben wird.

„Ah, Thailand,“ sagt er, „das ist schön! Da fliege ich im Mai auch hin.“

„Oh“, sage ich, weil ich vorhin noch vermutet hatte, dass mit der Blindheit das Reisen keinen Sinn mehr mache.

Und dann erzählt er ganz frohgemut, dass er jedes Jahr ein- oder zweimal nach Thailand fliege. Aber eher in den Norden, ins Gebirge. „Das Meer ist nicht so meine Sache, denn mit dem Schwimmen tue ich mich schwer.“ Das sehe ich ihm gerne nach, denn ich kann auch nicht schwimmen. Und ich habe keine gute Ausrede, außer dass ich in Bayern und mithin einem Binnenstaat aufgewachsen bin.

Ganz begeistert erzählt er von seinen Reisen. Von Städten und Provinzen, von denen ich noch nie gehört habe. Vom Essen. Von Freunden in Thailand. Die einzige Einschränkung für ihn sei, dass er gerne immer in die gleiche Ferienwohnung gehe, weil er dann schon weiß, wo alles liegt und steht.

Vorsichtig frage ich, ob er da irgendeine Hilfe oder Begleitung habe.

„Das brauche ich nicht,“ wiegelt er ab, „ich spreche ja Siamesisch.“

Mir kommt ein wunderbares Buch über James Holman in den Sinn, das ich vor langer Zeit gelesen habe. Holman war blind, reiste aber vor 200 Jahren – meist allein – um die ganze Welt, auf alle bewohnten Kontinente, bestimmte Pflanzen, jagte Elefanten, bekämpfte den Sklavenhandel und wurde als Spion verhaftet.

„Wo sind wir?“ fragt der blinde Passagier.

Ich blicke aus dem Fenster: „Rummelsburg.“

„Ah, dann haben wir noch vier Stationen“, sagt er, ganz ohne Google und Interweb.

Leider nur mehr vier Stationen, sonst hätte ich mehr Details seiner Lebensgeschichte erfahren. In der DDR hatte er bei der Staatlichen Versicherung gearbeitet und aus Jux und Tollerei eine Maklerlizenz erworben. „Das hat damals niemand gemacht, weil man sie für nichts brauchte“, sagt er, „aber dann kam die Wende, und ich konnte mich sofort selbständig machen.“

Es ist eine Wendegewinnergeschichte. Er hatte Freunde bei mehreren Arbeiterwohnungsgenossenschaften. In der DDR gehörten die Wohnungen nämlich dem Volk, nicht dem Kapital. Aber das soll in Berlin ja auch bald wieder so sein. 1990 wurde dann der Sozialismus verboten, die Genossenschaften mussten hauptamtliche Geschäftsführer bestellen, und niemand wollte mehr Verantwortung übernehmen. Alle wollten sich gegen alles versichern. „Und plötzlich hatte ich mehrere Zehntausend Wohnungen versichert“, freut er sich noch heute über diesen Coup.

Irgendwann kam noch ein windiger Wessi als Geschäftspartner, der windige Bürgschaften für windige Fußballvereine gab, die der Stasi gehörten. Aber davon erzähle ich besser nichts, denn man weiß nicht, ob wirklich alle Stasi-Killerkommandos schon in Rente sind.

Unser Versicherungsmillionär verkaufte jedenfalls sein Unternehmen, zog für 8 Jahre nach Thailand, lernte dort die Sprache und baute erneut ein Versicherungsimperium auf. So sind die Ossis, immer voller Energie und Tatendrang. Aber jetzt ist er Rentner in Köpenick.

„Nächstes Jahr werde ich 80“, sagt er. „Dann nehme ich die ganze Familie mit nach Thailand. Die Kinder, die Enkelkinder und die Urenkel. Ich mache den Reiseführer und werde ihnen alles zeigen.“

Er freut sich schon sichtlich.

Anscheinend ist das Leben doch nicht vorbei, wenn man blind wird. So komisch es klingt, aber ich kenne Sehende, die sehen weniger von der Welt.

Am Bahnhof in Köpenick helfe ich ihm noch die Treppe runter.

„Ich muss nach links“, sagt er.

„Ich auch. Ich muss zum Bus nach Müggelheim.“

„Oh, da müssen Sie jetzt nach rechts, die Haltestelle wurde verlegt“, sagt er und beschreibt mir ausführlich den Weg, wie wenn er die ganze Straßenszene, einschließlich Baustellen, vor sich sieht.

„Sehen Sie, so konnte ich Ihnen auch noch helfen“, sagt er verschmitzt und fröhlich zum Abschied.

Kurz darauf bin ich am Müggelsee, und das ist eigentlich genauso schön, wie wenn ich bis zur Ostsee weitergefahren wäre. Nur ohne Raketenabschussbasen.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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7 Antworten zu Ein Blinder zeigt mir den Weg

  1. Majik schreibt:

    I love supporting your blog each month, Andreas. I’m always getting more than my monies‘ worth! I mostly just look at the beautiful pictures, but occasionally also enjoy your very lengthy prose. You owe me another post card now, and please include your current address on it so that I can send one to you. Auf wiedersehen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Hello Mark,
      thank you very much, and sorry that I don’t have the time to write an English version of most of my articles. :/
      Postcards will be coming soon, this time from Berlin!

  2. danysobeida schreibt:

    (Les deseas a estos fanáticos de las computadoras que cuando estén en el baño se corte la luz durante una semana y ya no puedan abrir la puerta). Esto me ha causado mucha risa. Porque te portas tan mal.

    Roding se muy bonita, como tu historia. Una ciudad es mas hermosa cuando quienes la han construido han logrado que sus aportes hayan sido efectivamente relacionados con la geografía en la que se localiza. Entonces se produce una conversación muy interesante entre la naturaleza y lo que le imponemos los mortales. Las ciudades pequeñas son mas habitables, mas sensibles con la naturaleza, mas hermosas. Muchos urbanistas pueden no estar de acuerdo conmigo.

    Soy un bicho al que le gustan las ciudades chicas, esa es mi disculpa.

    Bonita lectura.

    • Andreas Moser schreibt:

      También prefiero las ciudades pequeñas o medianas.
      Ahí tengo todo lo que necesito, la vida es más agradable y, para ser sincero, la gente de las grandes ciudades normalmente no conoce o se aprovecha de toda la ciudad, sino sólo uno o dos barrios – o pierden mucho tiempo en trafico.

  3. Andreas Moser schreibt:

    Die nur mehr auf ihr Handy anstatt auf die Umwelt (oder die Beschriftungen vorne an Zügen und Bussen) schauenden Jugendlichen verfahren sich anscheinend öfter, wie ich kurz darauf im Tagesspiegel lesen konnte:

    https://www.tagesspiegel.de/berlin/gestrandet-in-berlin-taxifahrer-wird-fur-lenny-14-zum-alltagshelden-11314996.html

  4. viewinghood schreibt:

    Herrlich, danke für den ausfüüührlichen Beitrag. Wie auch schon der Supporter im ersten Kommentar von der länglichen Prosa spricht, frage ich mich, ob diese die überbordende Ausführlichkeit jedem (ehemaligen) Juristen innewohnt… 😊 LG

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich bin mir nicht sicher, ob es da einen Zusammenhang gibt.

      Ich erzähle einfach gerne und komme dann schnell vom Hundertsten ins Tausendste. Auf dem Blog kann ich ja noch ein bisschen abkürzen, indem ich Links setze. Aber im persönlichen Gespräch, da muss ich das alles ausführen…

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