Wie weit kommt man eigentlich mit dem Zug?

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Einer meiner Leser schrieb, dass ihn die Frage umtreibe, wie weit er eigentlich käme, wenn er bei sich zuhause in die Bahn einstiege und keine anderen Transportmittel außer Zügen verwendete. Als Eisenbahnfreund ließ mich dieser Gedanke nicht mehr los. Da jener Leser in Lauf an der Pegnitz und damit nur ein paar Haltestellen entfernt von meiner Heimatstadt Amberg lebt, wäre das auch etwas für meine von Flugangst gepeinigten Verwandten, die deshalb bis jetzt dachten, für immer in der bayerischen Provinz versauern zu müssen.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Man kommt weiter als man denkt.

Meine weiteste Bahnfahrt von Deutschland aus war von Amberg über Regensburg und München nach Ljubljana (Laibach) in Slowenien. Eine sehr schöne Fahrt über die Alpen, die man wegen der Aussicht auf jeden Fall tagsüber antreten sollte. Im Speisewagen der österreichischen Bahn genießt man eine Sachertorte, während sich die Autofahrer kilometer- und stundenlang an den Grenzposten stauen, die unsere Freunde von AfD, FPÖ und CSU wieder errichten wollen.

Aber in dieser Richtung käme man noch viel weiter: Zagreb, Belgrad und von dort entweder nach Montenegro oder nach Timisoara (Temeschwar) in Rumänien. Wenn man schon einmal auf dem Balkan ist, denkt man unweigerlich an den Orient-Express. Kommt man auch heute noch mit dem Zug von Mitteleuropa nach Istanbul? Aber klar doch.

Seat61 zeigt einige der möglichen Verbindungen auf, wobei noch wesentlich mehr Querverbindungen bestehen, z.B. von Belgrad nach Timisoara (Temeschwar) und von dort nach Bukarest. Wer Zeit hat, kann den Umweg über Targu Mures (Neumarkt am Mieresch), Gheorgeni (Niklasmarkt), Baile Tusnad und Brasov (Kronstadt) nehmen und wird sich aufgrund der romantischen Landschaft mit klaren Flüssen und freilaufenden Pferden neben den Gleisen sowie der etwas antiquierten rumänischen Eisenbahn wie in einem Westernfilm vorkommen.

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Wenn man erst einmal in Istanbul angelangt ist, fällt einem aus früheren Tages- oder Wochenschauen vielleicht wieder ein, dass deutsche Regierungen der Bagdadbahn einstmals Priorität im Bundesverkehrswegeplan eingeräumt hatten. Wie beim Flughafen BER dauerte auch dieses Projekt vom Baubeginn 1903 bis zur Fertigstellung 1940 länger als die ursprünglich veranschlagten 10 Jahre, aber wenigstens war 1915 schon die Strecke in die syrische Wüste fertig, die man für den Völkermord an den Armeniern nutzen konnte.

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Diese Verbindung in den Irak leidet derzeit streckenweise ein wenig unter dem Krieg in Syrien und der Besetzung von Mosul durch ISIS. In Richtung Südosten ist in der Türkei also Schluss.

Wem das nicht genügt oder zu gefährlich ist, der kann sich mit dem Zug in die anderen Extremitäten Europas begeben.

Im Süden geht es bis nach Villa San Giovanni in Kalabrien, von wo aus man mit der Fähre die 3 km nach Messina in Sizilien übersetzt. Ich denke, wir können dies noch als Zugfahrt durchgehen lassen, weil man während der kurzen Überfahrt im Zug sitzen bleiben kann und dann von Messina aus entweder Richtung Palermo oder Richtung Syrakus weiterfährt. Beide Strecken verlaufen oft nur wenige Meter neben dem Mittelmeer und bieten hervorragende Ausblicke.

Im Südwesten kommt man über Frankreich und Spanien bis nach Lagos in Portugal.

Im Nordwesten erreicht man mit dem Zug dank Eurotunnel ohne Probleme Großbritannien und kann ohne andere Verkehrsmittel bis nach Thurso in Schottland fahren.

Im Norden überwindet die Öresundbrücke die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden, so dass man mit dem Zug nach Skandinavien gelangt. Der nördlichste Bahnhof ist Narvik in Norwegen.

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Aber wie schon unsere Großväter wussten: Der größte Reiseraum liegt im Osten. Allein die längste Strecke, die man in Russland mit dem Zug bewältigen kann ohne um- oder aussteigen zu müssen, die Transsibirische Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok, beläuft sich auf 9.288 km. Das ist doppelt so weit wie von Syrakus nach Narvik und damit eine Entfernung, die man sich als Europäer gar nicht vorstellen kann. Die Fahrt dauert eine Woche, was Fernbeziehungen ziemlich schwierig gestaltet. „Tut mir leid Nadjeschda, als ich schon in Krasnojarsk war, fiel mir ein, dass ich nächste Woche wieder arbeiten und deshalb sofort umkehren musste.“

Anschluss an dieses Wunderwerk der Ingenieurskunst findet man aus Mitteleuropa über Warschau und Minsk oder über Kiev. Wer Glück hat, erwischt in Moskau den Schlafwagenzug nach Pjöngjang in Nordkorea, mit 10.267 km die längste umsteigefreie Bahnverbindung der Welt. Aber wer will das eigentlich, nicht auszusteigen? Ok, vielleicht im sibirischen Winter und wenn man eine Kiste guter russischer Literatur dabei hat. Wenn ich aus dem Fenster den Baikalsee und Birkenwälder sehe, will ich aber aussteigen. Wann kommt man schon mal nach Nischni Nowgorod, Jekaterinburg oder Irkutsk?

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So wie ich mich kenne, würde ich an den unmöglichsten Orten hängenbleiben und der Schienenstrang wäre weniger Fortbewegungsmodalität als Handlungsstrang, an dem ich mich neugierig nach Osten entlanghangle. Im fernen Osten Russlands muss dabei noch lange nicht Schluss sein. Durch die Mongolei oder die Mandschurei geht ein Zug nach Peking.

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Dort könnte man in den Zug nach Lhasa umsteigen und auf teilweise über 5.000 m Höhe nach Tibet schweben. Hier ist vorerst Endstation. An Erweiterungen der Strecke nach Nepal und nach Indien wird schon geplant, aber selbst in China wird das noch ein paar Jahre dauern. Aber wer in Lauf an der Pegnitz oder in Lübeck eingestiegen und bis nach Lhasa gekommen ist, hat mit dem Zug immerhin die halbe Welt umrundet.

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Wer noch mehr Kilometer machen will, durchquert mal schnell China und nimmt den Zug nach Vietnam. Die letzten 1.600 km von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt werden einem nach diesem Abenteuer wie ein Katzensprung vorkommen. Und man wird merken, wie klein Deutschland eigentlich ist.

Also, wenn Ihr mal ein paar Wochen übrig habt, geht einfach zum Bahnhof und seht, wie weit Ihr auf diese gemütlichste Art des Reisens kommt.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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20 Antworten zu Wie weit kommt man eigentlich mit dem Zug?

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  4. Andreas Moser schreibt:

    Beim Lesen von Basar auf Schienen von Paul Theroux bemerkte ich, dass ich mir die Mühe hätte sparen können, die längstmögliche Zugreise herauszufinden, denn er schreibt: „Der Weg ist frei von Hanoi bis zum Bahnhof Liverpool Street in London, alles mit dem Zug.“ Er nimmt dann aber trotzdem den Umweg über Japan und Wladiwostok.

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