Im kombinierten Eisenbahn- und Busbahnhof von Santa Cruz sticht ein Büro neben den Dutzenden von Busgesellschaften dadurch hervor, dass dort niemand laut und ständig die Namen der Städte ausruft, in die im nächsten Bus noch Plätze zu haben sind: „Sucre, Sucre, Sucre!“ „Beni, Beni, Beni!““Quijarro, Quijarro, Quijarro!“
Dennoch zieht das Schaufenster der Verkehrspolizei mein Interesse auf sich. Es ist voll mit Fahndungsplakaten, wie ich zuerst denke. „Mal sehen, was hier die typischen Straftaten sind“ nähere ich mich neugierig. Damit läßt sich die Wartezeit auf den Orient-Express vielleicht interessanter überbrücken als mit einer weiteren Portion Huhn mit Reis.
Auf dem ersten Plakat steht DESAPARECIDO. Vermisst. Na gut, das kann mal vorkommen. Das nächste Plakat: DESAPARECIDO. Das übernächste: DESAPARECIDO. Und so weiter. Von den insgesamt 60 Plakaten ist genau eines ein Fahndungsaufruf, wegen eines Autodiebstahls. 59 betreffen vermisste Personen.
In einem großen Land wie Bolivien kann man sich schon mal verlaufen und in der Wüste verdursten oder im Dschungel von einem Jaguar gefressen werden. Aber so viele Menschen? Nein, das ist mehr als der normale Schwund.
Noch erschreckender ist die Zusammensetzung der Opfer. Es sind weniger die verwirrten Greise, die sonstwo leicht mal abgehen, sondern hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Ich notiere mir einige der Namen mit Alter: Yandira, 18. Estefany, 14. José Luis, 6. Milan Jailany, 2. Yamine, 14. Ayelen, 17. Maria Andrea, 17. Jhon Azariel, 5. Karla Andrea, 15. Ana Maria, 14. Misael Paco, 1 ½. Chico, hört auch auf den Namen Tiko Tiko (das ist ein vermisster Hund, der zwischen all den Kindern hängt). Die Brüder José Enrique und Mauricio Dennis, 10 und 13. Nayely, 12. José Maria, 9. Elio, 12. Carla, 14. Airon Daniel, 13. Ich denke, das genügt, um Euch einen Eindruck von der betroffenen Altersgruppe zu geben. Für den Hund hingen übrigens drei Plakate an der Wand, von jedem Kind nur eins.
Obwohl die Plakate schon vergilbt und teilweise angerissen sind, datiert kein Suchaufruf vor September 2015. Etliche sind aus dem noch jungen Jahr 2016. (Die Fotos und Notizen habe ich am 15. Februar 2016 gemacht.) Und das sind allein die Verschwundenen von Santa Cruz.
Als ich das Terminal verlasse, erblicke ich am Eingang weitere Vermisstenanzeigen. Das sind die ganz neuen Fälle. Ana Paola, 15, und Devora Natalia, 16.
Wenn ich mich diesbezüglich in der Stadt umhöre, stoße ich auf Anekdoten von Menschenhandel, Prostitution, Zwangsarbeit bis hin zu grausamen Vermutungen von Organhandel. Boliviens Grenzen zu Brasilien, Peru, Chile, Argentinien und Paraguay verlaufen weitgehend im Regenwald oder in anderen dünn besiedelten und nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu kontrollierenden Gebieten. Wer Menschen, Drogen oder raubkopierte DVDs über die Grenze schmuggeln will, dem stehen hier kaum Hürden im Weg.
Die Menschen müssen oft nicht einmal geschmuggelt werden, weil sie von selbst gehen. Viele Geschichten von Zwangsarbeit und (Zwangs-)Prostitution beginnen mit Versprechungen von besser bezahlter Arbeit in den Fabriken oder auf den Farmen der Nachbarländer. Wenn die bolivianischen Kinder erst einmal in Sao Paulo oder Santiago sind, nehmen ihnen die „Arbeitgeber“ die Dokumente ab, zahlen den Lohn nicht aus, sperren sie in den Keller und misshandeln sie.
Zu oft wird von Aktivisten gegen Zwangsarbeit der Begriff „Sklaverei“ verwendet. Ich bin diesbezüglich zurückhaltend. Zum einen weil ich es für eine Verharmlosung wirklicher Sklaverei halte, zum anderen weil auch ein ausbeuterisches und unter Druck aufrecht erhaltenes Arbeitsverhältnis noch etwas anderes ist als der Handel von Menschen wie Eigentum. Genau das findet an den Grenzen Boliviens aber statt, 128 Jahre nachdem in Brasilien als letztem Land Amerikas die Sklaverei abgeschafft wurde. In La Quiaca in Argentinien kann man bolivianische Kinder für ca. 300 Euro kaufen. Eine Reportage aus dem ZEIT-Magazin schildert anschaulich, wie Menschen in solche Verhältnisse geraten, und basiert auf einer Meldung, nach der zwei jugendliche Bolivianer in Brasilien für je 500 Euro verkauft wurden.
Die verschwundenen Babies und Kleinkinder erklärt das allerdings nicht. Die tauchen vielleicht bei einer Familie in Europa auf, die sich schon immer ein putziges Adoptivkind gewünscht hat.
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Danke an Estella für den Hinweis auf Adoptionen als möglichen Grund für das Verschwinden von Kleinkindern!
Das erinnert mich an eine junge Fraue, die ich mal in Europa traf und die als Neugeborene ihrer Mutter aus Kolumbien wegadoptiert wurde. Das Krankenhaus behauptete einfach, das Kind sei tot zur Welt gekommen. Erst 20 Jahre später fanden sich die beiden wieder.
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