Mein kürzlicher aber nicht kurzer Artikel über Südamerika enthielt religionskritische Passagen, bei denen sich einige der religiösen Leser wahrscheinlich gedacht haben: „Na, da übertreibt der Atheist mal wieder heftig.“
Keineswegs und niemals.
Um meinem Punkt zu unterstreichen, musste ich am Samstag Nachmittag nur das Haus verlassen, nachdem die schon dreistündige Prozession vor demselben mit Gesang, Tanz, Trommeln und Trompeten nicht aufhören wollte.
Der Ostermarsch war noch in vollem Gange. In den wenigen Minuten, die ich mich in der scheinbar vom Teufel besessenen Menge aufhielt, marschierten Tausende von weißgekleideten Menschen vorbei.

In den drei Stunden vorher müssen es also Zehntausende gewesen sein. Das vorweg, weil nach dem Lesen der im Folgenden geschilderten Absurditäten einige beschwichtigen werden wollen: „Ach, das ist doch eine kleine Minderheit.“ Ist es nicht.
Auf den Mützen stand „Cristo viene pronto„, „Jesus kommt bald“.
Die Theologen unter meinen Lesern kritisieren mich manchmal dafür, dass ich ein recht simples Bild von Gott und Gebeten verwende, das zu kritisieren natürlich leicht fällt. Aber was soll ich machen, wenn Millionen von gläubigen Christen (und ihre Pastoren!) eben dieses simple Bild glauben und predigen?
Lassen wir die Christen einfach selbst zu Wort kommen.

Dieser Herr bedankt sich daür, dass Jesus seine Schulden von 7000 Dollars gezahlt und ihm dieses Jahr ein Auto geschenkt habe. Außerdem macht er öffentlich kund, dass sich seine ganze Familie auf die „gloriose Entrückung durch Jesus“ freue, wobei er „rapto“ falsch schrieb. Nur ein kleiner Beleg für meine These von der Dichotomie von Bildung und Religion.
Ob sich die Umstehenden darüber ärgerten, dass Jesus ihnen kein Auto geschenkt hat, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, weil die Damen, Herren und Kinder die ganze Zeit „Jesus lebt“ und „Jesus kommt bald“ schrien.

Diese Dame bedankt sich bei Jesus dafür, dass er ihren Kopf operiert habe und dass sie jetzt gesund sei.
Die nächste Dame bleibt ähnlich vage, zählt aber zusätzlich zur Migräne Rheuma, Magenschmerzen und eine kaputte Familie auf, von dem allen sie Gott geheilt habe.

Das fand ich arg an den Haaren herbeigezogen, denn gegen Magenschmerzen hilft schließlich oft eine Nacht Schlaf, ein Coca-Tee, eine Coca-Cola, eine Zigarre oder ein Stuhlgang. Die Verstopfung im Hirn hingegen ist ein schwerwiegenderes Problem.

Dieser Herr bedankt sich bei Jesus dafür, dass seine Wirbelsäule jetzt wieder gesund sei, was sich mit dem von ihm gewählten Fortbewegungsmittel nicht ganz verträgt. Aber Logik war an diesem Tag nicht breit gesäht.
Wenn Ihr nicht mehr wisst als ich wusste, dann seid Ihr oben auch über den Begriff „Entrückung“ gestolpert. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das ein Akt, bei dem Gott und/oder Jesus Menschen aus dem Leben reißt und sie körperlich (!) in den Himmel holt. Und das hat anscheinend etwas damit zu tun, dass Jesus bald kommt.
Eine Dame gab mir dieses Flugblatt, das mit „ACHTUNG!!!“ überschrieben war. Demnach komme „Jesus, der König der Könige“ bald, und der Leser wird gefragt, ob er darauf vorbereitet sei.

Für die auf dieses himmlische Ereignis Unvorbereiteten bietet die mit „DRINGEND!!!“ überschriebene Rückseite nähere Informationen.

Weiter steht da geschrieben, dass „Millionen von Menschen bald vom Angesicht der Erde verschwinden werden“ und dass dieser Prozess bereits seit Juni 2015 laufe. Seither „geschehen viele übernatürliche Dinge und der Herr habe schon vielen Menschen prophezeit, dass Christus bald komme“. Dies werde übrigens „nicht nur in La Paz und nicht einmal nur in Bolivien, sondern auf der ganzen Welt“ passieren.
Nun verschwinden in Bolivien zwar tatsächlich eine Menge Menschen, aber das meinen die Christen nicht. Sie verweisen stattdessen auf Lahme die gehen können, Blinde die sehen können, geheilte Schwerkranke, „von schmutzigen Geistern“ Befreite sowie, etwas prosaisch, auf „restaurierte Häuser“. Dann folgt der Verweis auf die kircheneigenen Fernseh- und Radiosender. (Danke an die Spender aus Übersee, die glauben, Waisenhäuser oder Schulen zu unterstützen.)
Am Ende dieses Flugblatts beweisen dann aber auch die christlichen Bolivianer den bolivianischen Sinn für Humor. „HINWEIS: Wir wissen nicht, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit die Entrückung stattfindet.“ Wobei eine genaue Uhrzeit bei der hiesigen Unpünktlichkeit auch nicht viel ändern würde.
Humor bewies auch der Typ, der als einziger unter Millionen nicht vollständig in Weiß gekleidet war.

Sich in einen Rausch betende und rufende in Weiß gekleidete Menschen, die verkünden, darauf vorbereit zu sein, dass Gott sie möglichst bald von dieser Erde hole, kennt man sonst eigentlich nur von ISIS und anderen Dschihadisten. In Südamerika übernehmen das die Christen.

Am Abend versammelten sich dann alle vor der Kathedrale, wo ein paar Einpeitscher eine Ostershow abzogen, bei der mir Angst und Bange wurde.
Links:
- Das Christentum in Bolivien ist überhaupt ein bisschen anders.
- Das ist aber alles gar nichts gegen diesen musikalischen Umzug, ebenfalls in Bolivien.
- Mehr aus Bolivien.
- Und mehr Videos aus aller Welt.
Pingback: Happy Easter! | The Happy Hermit
Hallo Andreas,
humorvolle und erfrischende Beschreibung des Umzugs! Würde gerne meinen Senf dazu geben (eine Beobachtung, ein Detail mit ein bißchen Korrekur und einen persönlichen Erfahrungswert).
Möglicherweise handelt es sich um Christen einer sogenannten charismatischen Bewegung/Gemeine/Kirche und dazu einer der Sekten, die Teufelsaustreibung oder Geisterbereingung betreiben und übernatürliche Krankenheilungen inszenieren („… dass viele von unheilbaren Krankheiten geheilt werden, Häuser wiederhergestellt werden und Menschen von unreinen Geistern befreit werden.“).
Unabhängig davon ist es für gläubige Christen ein wichtiger Unterschied, ob Jesus die Gläubigen in einem Nu entrückt oder die Entrückung als Prozess gestaltet. Das ist in Deinem Artikel wahrscheinlich nur eine Sache der Übersetzung (ich kann kein Spanisch, nur Deepl!): „Seit Juni 2015 geschehen übernatürliche Dinge und der Herr prophezeit jeden Tag durch viele Menschen, nicht nur in La Paz, sondern in Bolivien und der ganzen Welt, dass CHRISTUS bald kommen wird.“ Sowohl aus dieser Textpassage des Flugblattes, als auch in der dort zuvor erwähnten Bibelstelle 1.Thessalonicher 4,16-17 wird die Entrückung als Ereignis, nicht als Prozess beschreiben.
Persönlich glaube ich zwar an Gott, bin Christ (ohne theologische Schublade oder Denomination), aber ich möchte Dir auch vorschlagen Dich nicht vom Verhalten oder Aussagen anderer Menschen abhängig zu machen bei der Frage, ob Du selbst an Gott glaubst. Das ist Deine persönliche Sache, die sehr wichtig ist, und deswegen immer Deine eigene unabhängige Entscheidung sein sollte. Solche Beispiele von Christen wie in Deinem Reisebericht beschrieben, schrecken einen eher ab, als daß sie zum Nachdenken anregen. Früher hätte ich vielleicht auch mit der atheistischen Distanz so ironisch-humorvoll darüber geschrieben, aber finde es sehr traurig, wenn Menschen blind und gedankenlos religiösen Führern oder Ideen hinterherlaufen.
Ebenfalls aus dem Bibelbuch 1. Thessalonicher, dort in Kapitel 5, Vers 21: „Prüft alles, das Gute haltet fest!“ Ich wünsche Dir das für Deine weiteren Reisen und Beobachtungen!
Liebe Grüße
Andreas
Hallo Andreas,
vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!
Dass Jesus „bald“ komme und die Entschuldigung, dass man die genaue Uhrzeit noch nicht sagen könne, deutet für mich eher auf plötzliche Entrückung hin. Oder als Kulmination eines Prozesses.
Man kann solche Unterschiede aufbauen oder durch logische Spielereien einreißen. Wie bei den ganzen Trinitätsstreitigkeiten, auf die ich in diesem Beitrag nur ganz am Rande eingehen konnte: https://andreas-moser.blog/2022/02/25/februar-1922-schachtelsatz/
Vom Singen und Tanzen hatte ich auch den Eindruck einer charismatischen Bewegung, wobei in Südamerika die Grenzen echt fließend sind.
Selbst in ganz offiziellen katholischen Kirchen passieren da Dinge, die kein mitteleuropäischer Katholik erkennen würde. Aber gut, auf den Philippinen lassen sich die Leute sogar kreuzigen.
So Massenauftritte finde ich grundsätzlich abschreckend, fast unabhängig davon, worum es geht. Aber Religion ergibt irgendwie auch nicht mehr Sinn, wenn es einem individuell erklärt wird. Vor allem, weil man ja weiß, dass der/die nächste das gleiche Buch ganz anders auslegt und den gleichen Gott ganz anders interpretiert. Das ist ja dann keine Religion mehr, sondern nur mehr Esoterik.
Aber für Theologen wie dich habe ich noch ein Schmankerl von den Azoren, auch mit schönen Fotos:
https://andreas-moser.blog/2020/10/08/heiliger-geist/
Vielen Dank nochmal für deinen Kommentar,
Andreas