Ursprünglich hatte ich vor, einige Jahre in Lateinamerika zu verbringen, um jedes Land von Argentinien bis Mexiko in Ruhe zu erkunden. Als Advokat des ständigen Wandels habe ich diesen Plan geändert und werde im Mai 2017 – nach nur eineinhalb Jahren in Südamerika – nach Europa zurückkehren.
Zu dieser Entscheidung beigetragen haben etliche Gründe, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen. Zum einen hat mich Südamerika – mit einer Ausnahme, auf die ich immer wieder zu sprechen kommen werde: Bolivien – nicht so fasziniert wie erhofft. Zum anderen habe ich durch den Vergleich der Kontinente bemerkt, wie abwechslungsreich, schön, interessant und reisefreundlich Europa eigentlich ist.
Im Einzelnen und grob in der Reihenfolge der Gewichtung:
Der Lärm
In den eineinhalb Jahren in Südamerika habe ich sicher so viele kumulierte Dezibel aufgenommen wie in den vorangeganenen 40 Jahren insgesamt. Ganz abgesehen davon, dass es mich stört, kann das nicht gesund sein.
Für Europäer ist der Lärmpegel in Städten in Peru oder Brasilien, den beiden lautesten Ländern, unvorstellbar. Ich glaube ehrlich, dass die Schlacht von Stalingrad leiser war als die Hauptverkehrszeit in Arequipa. Aber selbst in Kleinstädten kommt man weder zur Ruhe noch zum Schlafen.
Autos hupen
- an jeder Ecke,
- wenn es nicht schnell genug geht,
- wenn ein Bekannter vorbeiläuft,
- wenn ein Hund vorbeiläuft,
- wenn sie am Haus eines Bekannten vorbeifahren,
- wenn sie auf jemanden warten
- oder im Falle von Taxis immer wenn sie einen Fußgänger sehen, den sie zum Einsteigen bewegen wollen.
Ich gehe gerne zu Fuß, was Taxifahrer nicht kapieren, weshalb sie mich wie verrückt anhupen. Hundertmal am Tag. Dazu wohnen in meiner Straße vielleicht 40 Leute, die alle 5 Freunde haben, die zweimal am Tag vorbeikommen und dies lautstark mit mehrmaligem Hupen ankündigen. Außerdem ist am Ende der Straße natürlich eine Ecke, an der alle vorbeifahrenden Autos immer hupen. Auch nachts.
Jedes Auto hat eine Riesenstereoanlage, wie ich sie nicht einmal in Diskotheken gesehen habe. Die Musik – und es ist schreckliche Musik mit viel Bässen und wenig Melodie oder Qualität – läuft auf Höchststärke. Wenn das Auto – vorzugsweise vor meinem Haus – geparkt wird, bleibt die Stereoanlage (manchmal auch der Motor) an, und die Fenster werden heruntergekurbelt, damit der Autobesitzer während des Mittagessens bei seiner Mama – Selberkochen ist Männern kulturell verboten – weiterhin seine, ich kann es nicht anders sagen, Scheißmusik hören kann. Das Gleiche machen natürlich alle anderen Jungs in der Straße. Auch nachts.
Aus dem Film Blues Brothers kennt Ihr vielleicht das Auto mit dem Riesen-Megafon auf dem Dach?

Kein Scherz: In Südamerika bauen sich Leute ebenfalls Megafone oder Stereoboxen aufs Autodach.

In Lencois in Brasilien sah ich dieses Motorrad mit Lärm-Beiwagen.

Die Autos und Motorräder fahren den ganzen Tag durch die Stadt und plärren Werbung für Obst, Möbel, Restaurants oder eine neue christliche Kirche heraus. Wenn sie gerade keine zahlenden Kunden haben, fahren sie mit lauter Musik durch die Stadt, um ihr Soundsystem anzupreisen. Da es dabei ums Geschäft geht, läuft die Werbung/Musik natürlich weiter, während das jeweilige Auto eine Stunde vor meinem Haus parkt.
Dazu kommt der Lärm aus Häusern, von Balkonen, aus Gärten und vor allem von Geschäften und Restaurants. Besonders in Peru und Brasilien glauben Ladeninhaber, dass sie mehr Kunden bekommen, je lauter ihr Laden ist. Also bauen sie mannshohe Lautsprecher vor ihren Schaufenstern auf, die den ganzen Tag Werbung und/oder grässliche Musik plärren. Da alle 20 Meter ein anderes Geschäft ist, versteht man gar nichts. Viele Restaurants versuchen auf die gleiche Weise, einem den Besuch zu vergällen, wobei sie zusätzlich noch in jeder Ecke einen Fernseher laufen haben. Davor stehen dann alle Kellnerinnen und schauen eine lautstarke Seifenoper oder ein Wrestling-Match an, anstatt die Bestellungen aufzunehmen.
Wenn ich der einzige Gast in einem Restaurant war, habe ich immer darum gebeten, den Fernseher leiser zu stellen. Das stieß auf vollkommenes Unverständnis, und in der Hälfte der Fälle drehte die Kellnerin den Fernseher lauter, weil sie dachte, ich hätte mich versprochen.
In Cochabamba wohnte ich neben einer Adventistenkirche. Diese Adventisten feiern am Freitag Abend eine Messe und verbringen dann den ganzen Samstag in der Kirche. Das Ganze geht mit Musik und Gesang einher, die natürlich über Lautsprecher in die ganze Nachbarschaft gebrüllt werden müssen. Was nützt einem ein schöner Garten mit Blumen und Kolibris und das schönste Wetter, wenn man den ganzen Samstag die Fenster geschlossen halten muss und nicht aus dem Haus kann? In Mollendo wohnte ich am Meer und hätte im Haus immer eine kühle Brise genießen können, wenn ich denn gefahrlos die Fenster öffnen hätte können. Nur von 5 bis 7 Uhr am Sonntagmorgen war es einigermaßen ruhig. In Peru war der Lärm so schlimm, dass ich in ein Geschäft für Bergarbeiterbedarf ging und mir Ohrenschützer kaufte, die ich fortan beim Lesen, Schreiben, Nachdenken und Schlafen tragen mußte. In meinem eigenen Haus!
Früher fand ich Feuerwerke toll. Aber wenn man ein Jahr lang jeden Tag und jede Nacht ein paar davon sieht/hört, würden sie sogar einem Pyromanen zum Hals heraushängen.
Noch schlimmer war es in Salvador in Brasilien. Am ersten Abend laute Trommeln. Nicht nur ein paar, sondern hunderte. Bis um 3 oder 4 Uhr morgens. Die Vermieterin: „Heute ist das Fest der Trommeln.“ Ich: „Nur heute?“ Sie: „Ja, ja, keine Sorge.“ In der nächsten Nacht wieder laute Trommeln, dazu Diskomusik. Die Vermieterin: „Oh, heute ist der internationale Tag des Tanzes.“ Am nächsten Tag war ein Samba-Wettbwerb (natürlich wieder bis um 4 Uhr morgens), dann kam das Wochenende, wo rund um die Uhr durchgelärmt wird, am Montag war irgendein religiöses Fest, dann war ein Stadtjubiläum, dann ein Musikwettbewerb (alle Teilnehmer waren gleich schlecht), und dann war schon wieder Wochenende.
Nicht dass man noch zusätzlichen Lärm benötigte, aber in Brasilien ist es ein anerkannter Beruf, den ganzen Tag einen Lautsprecher durch die Stadt zu schieben.
Insbesondere in Brasilien und Peru habe ich gemerkt: je schlechter die Musik, desto lauter. Ich weiß nicht, wieso Brasilien einen Ruf für Tanz und Musik hat. Es sind immer die gleichen drei Töne, tausendfach wiederholt. Tagelang. Meine Nachbarn in Mollendo spielten mindestens 30 Mal am Tag „Shaky Shaky“ von Daddy Yankee, ein Lied, das so grausam ist, dass ich es mir nicht ein einziges Mal anhören mag.
Auch unterwegs ist man nicht vor Lärm gefeit. Busse sind mit DVD-Spielern ausgestattet, auf denen ausnahmslos blöde und brutale Actionfilme gezeigt werden. In übertriebener und unmenschlicher Lautstärke. Etliche Fahrgäste spielen zusätzlich Musik über ihre Handys ab. Ich hätte in den eineinhalb Jahren wesentlich mehr von Südamerika sehen können, wenn die Busse nicht solch eine Tortur wären, die ich einfach nicht mehr ertragen konnte.
Es folgen noch weitere Argumente, aber ganz ehrlich, der Lärm war der primäre und an sich ausreichende Grund, meine Südamerika-Reise abzubrechen.
Zum Schluss dieses Abschnitts noch zwei löbliche Ausnahmen:
- Chile ist relativ ruhig und zivilisiert.
- Bolivien ist zwar auch laut, aber wenigstens ist die Musik besser. Wenn man schon jeden Tag ungefragt geweckt wird, dann doch lieber mit fröhlicher Marschmusik.
Fehlende kulturelle Vielfalt
Vorausgeschickt: Ich finde Südamerika sehr interessant, bunt, kurios, und ich könnte noch Jahre hier verbringen, ohne mich zu langweilen. Aber jede Entscheidung für A ist bei begrenzter Lebenszeit immer eine Entscheidung gegen B, C und D.
Ich lerne gerne ständig etwas Neues. Ich weiß lieber ein bißchen von Vielem als Experte auf einem Gebiet zu sein. Nach mehr als einem Jahr in Südamerika habe ich den Eindruck, dass ich den Kontinent schon besser kenne als Europa. Das klingt absurd, liegt aber an der relativen kulturellen, architektonischen, linguistischen, geschichtlichen und religiösen Homogenität Südamerikas (die zugegebenermaßen von Europäern verschuldet wurde).
Von Guadalajara in Mexiko

über Arequipa in Peru

bis Santiago de Chile

liegen 7000 km. Aber alle Städte sehen im Wesentlichen gleich aus: Eine Kathedrale, immer katholisch, immer barock. Davor ein Platz, an den Seiten Arkaden. Schachbrettförmig angelegte Altstadt. Ein Kloster.
Überall spreche ich Spanisch. Alle Länder haben eine ähnliche Geschichte: spanische Eroberung, Revolution durch spanische Großgrundbesitzer, Krieg, Simon Bolivar, Unbhängigkeit, Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, weitere Revolutionen, Militärdiktatur, wieder Revolution, Demokratie. Überall herrscht ein erdrückender Katholizismus. Die Kultur ist relativ ähnlich.
Natürlich könnte man überall Unterschiede finden, und ich vereinfache hier extrem. Aber wenn ich in Europa 7000 km fahre, dann bin ich am Nordpol oder in Sibirien. Und der Punkt ist: Ich muss gar nicht so weit fahren. In zwei Stunden bin ich in einem anderen Land, mit einer anderen Sprache, Geschichte, Kultur, Architektur. Ich werde überrascht, anstatt das Erwartete vorzufinden. Auf dem Balkan ist man alle 200 km in einem anderen Land, sogar mit einer anderer Religion und einem unlesbaren Alphabet. In Ländern mit starken regionalen Identitäten, z.B. in Italien oder Rumänien, ist jeder Landstrich vom benachbarten unterschiedlicher als Argentinien von Mexiko.
Ich vermisse diese kulturelle Vielfalt Europas. In den Zug zu steigen und nach nur zwei oder drei Stunden die Sprache nicht zu verstehen, bisher unbekannte Architektur zu erkunden und sich in eine andere Geschichte und Kultur einzuarbeiten, ist für mich ein Genuss. Die Negativler, die behaupten, dass die EU alles gleichmache, sollen sich mal ein paar Monate freinehmen und von Estland nach Malta reisen. Oder von Schottland nach Griechenland. Sie werden erstaunt sein, dass unser hübscher, kleiner Kontinent vielseitiger ist als so manche Weltreise.
In Europa gibt es mehr zu entdecken
Das ist so apodiktisch natürlich falsch, denn auf jedem Kontinent gibt es eine Menge interessanter Orte, Menschen und Geschichten. Aber ich wage zu behaupten, dass für die meisten Reisenden Europa exotischer ist.
Wenn man sich in Südamerika lange Zeit mit einem Land beschäftigt (wie ich es in Bolivien getan habe) und Kontakte zu normalen Menschen statt zu Reisebüros knüpft, kann man diese Exotik erleben, wie z.B. als ich drei Tage bei den Mojenos im Urwald war.

Aber 99% der europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Reisenden hier besuchen die gleichen Orte: Machu Picchu in Peru, Salzsee bei Uyuni in Bolivien, Iguazu-Wasserfall in Brasilien und dann nach Rio de Janeiro zum Karneval. Wie auf einer Liste haken sie alles ab, wo es vor anderen Europäern, Nordamerikanern und Asiaten wimmelt, wo sie sich gegenseitig fotografieren und sich dann als große Abenteurer feiern lassen, wenn sie nach Dresden, New York oder Singapur in ihre Büros oder Studenten-WGs zurückkehren. Das ist Pauschaltourismus. Nichts dagegen einzuwenden, aber dann bitte nicht so tun, wie wenn man Thor Heyerdahl wäre.
Wenn ich doch mal solchen Möchtegern-Hippies begegne, was sich auf langen Busfahrten nicht vermeiden läßt, erzähle ich manchmal von meinen Reisen in Europa. Entsetzt stelle ich fest, dass die meisten dieser Europäer ihren eigenen Kontinent genauso pauschaltouristisch behandeln. Sie kennen London, Paris, Rom, Venedig und Berlin. Das gleiche Programm wie japanische Blitztouristen halt. Wenn ich von Rumänien oder Montenegro schwärme, sehen sie mich so skeptisch an, wie wenn sie von der EU-Osterweiterung noch nichts gehört haben. Wenn ich von Transnistrien oder von Guernsey erzähle, kennen sie diese europäischen Länder nicht einmal. Aber sie planen schon ihre nächste große Reise: nach Thailand, Vietnam und Burma, natürlich wieder im sicheren Trek westlicher Touristen.
Nun wäre es falsch, eine Regel aufstellen zu wollen, nach der man seinen eigenen Kontinent kennenlernen sollte, bevor man sich andere ansieht. Jeder soll machen, was er/sie will. Aber ich persönlich sehe meine Aufgabe eher darin, meinen Lesern die exotischen Ecken Europas vorzustellen, als den tausendsten Artikel über Rio de Janeiro zu schreiben. Und wenn es mich wieder in die Ferne zieht, dann wahrscheinlich eher nach Osten. Krasnojarsk, Kirgistan und Kamtschatka klingen für mich exotischer und verlockender als Kolumbien oder Kuba.
Verhältnis von Aufwand und Ertrag
Das ist ein sehr nüchterner Punkt, aber Reisen ist eben auch Planung, Organisation und Finanzierung.
Mir wurde das auf der Osterinsel bewusst. Die ganze Reise dorthin hatte mich mit Bussen, Flügen und Übernachtung trotz sparsamer Planung ungefähr 800 Euro gekostet. Jahrelang liest man über die Osterinsel und gönnt sich einmal im Leben den hart erarbeiten Luxus. Als ich dort war, kam ich nicht umhin, zu denken: „Ja, ist schon eine schöne Insel, unbestritten. Aber 800 Euro für eine Woche? In Osteuropa wäre ich dafür zwei Monate unterwegs.“ Dabei liebe ich Inseln!
Dann erinnerte ich mich, wie einfach, schnell, leicht, günstig, stress- und visumsfrei ich schon etliche europäische Inseln besucht hatte, die wieder fast niemand kennt, von Hiiumaa in Estland

über Sark

und Lipari

bis zur kleinen Insel Zvernec in Albanien.

Wahrscheinlich noch nie davon gehört, oder? Da könnt Ihr überall für 50 Euro hinfliegen. Und damit wärt Ihr die wirklichen Exoten und Abenteurer unter den Reisenden. Ein Bild mit Machu Picchu hat schließlich jeder auf seinem Facebook-Profil. Die Hälfte dieser nur beispielhaft erwähnten Inseln liegt schon in der EU, so dass Ihr nicht einmal Geld oder SIM-Karten umtauschen müsst.
Ich weiß, das ist ein prosaisches Thema, aber mir gehen die ganzen Reiseblogs auf den Sack, die so tun, wie wenn Geld keine Rolle spielt. Dazu gleich mehr.
Und noch eine praktische Sache: Wer mal zwischen Brasilien und Bolivien 24 Stunden auf der Grenzbrücke gestanden ist, wie zwei deutsche Jungs, die ich an der nicht ganz so schlimmen Grenze von Peru nach Bolivien traf, der weiß die EU und Schengen zu schätzen.
Südamerika ist teurer als Europa
„Was?“ werden sich viele fragen, weil das so gar nicht mit unseren Vorurteilen übereinstimmt. Vorurteile, die ich auch hatte.
Der Denkfehler liegt aber darin, Deutschland oder die Schweiz mit Europa gleichzusetzen. Übrigens ein Denkfehler, den auch die meisten Südamerikaner begehen, die dehalb glauben, dass jeder Europäer Kaufkraftmillionär ist. Dabei ist Chile z.B. teurer als die (östliche und südliche) Hälfte Europas. Selbst Bolivien, das günstigste Land Südamerikas, hat ungefähr das gleiche Preisniveau wie Rumänien. Aber wenn Ihr nach Rumänien fliegt, kostet Euch der Flug 20 Euro statt 600 Euro. Das sind 580 Euro mehr zum Verprassen. Oder ein dementsprechend längerer Urlaub.
Insbesondere Fliegen ist in Europa spottbillig. In Brasilien und Bolivien gibt es ähnlich günstige Inlandsflüge, aber jeder grenzüberschreitende Flug geht in die Hunderte von Euros. Wiederum ein großes Dankeschön an den europäischen Binnenmarkt! (Auch wenn ich persönlich die Eisenbahn bevorzuge.)
Ein anderer, sehr nerviger, Punkt, der Südamerika teurer macht, ist dass man als Ausländer/Weißer/Gringo manchmal ausgenommen wird. Mir selbst ist das relativ selten passiert, weil ich schnell Spanisch lernte und weil mir ein scharfes „nein, danke“ sehr leicht von den Lippen geht. Aber insbesondere in Peru, dem diesbezüglich schlimmsten Land, wurde ich von fast jedem als Kunde anstatt als Mensch betrachtet. Jeder wollte ständig etwas zu Mondpreisen verkaufen oder vermieten, auch wenn ich gar nicht danach gefragt hatte.
In Europa hatte ich – selbst wenn ich die örtliche Sprache nicht beherrschte und offensichtlich ein Tourist war – diese Problem nie.
Aber jetzt zu etwas ganz anderem:
Jahreszeiten
Ganz ehrlich: Jahreszeiten sind toll. Mittlerweile vermisse ich sogar den Winter. Einen richtig harten, dunklen, kalten Winter wie ich ihn in Litauen er- und überlebt habe.

„Was soll das?“ fragt sich der europäische Leser, der mich jetzt aufklären will, dass es doch auch auf der Südhalbkugel Jahreszeiten gäbe, nur eben spiegelverkehrt.
Das stimmt für den tiefen Süden, für Patagonien, aber soweit kam ich – hauptsächlich aus Kostengründen – nicht. Ich hielt mich hauptsächlich in den Andenstaaten Bolivien, Peru und Ecuador auf, wo es eigentlich keine richtigen Jahreszeiten gibt. Die Leute sagen zwar „oh je, jetzt kommt der Winter“, aber das bedeutet, dass es mittags 30 statt 35 Grad hat.
In Cochabamba, das auf 2500 m liegt, schneit es nie. In der Nähe der Stadt liegt der Tunari, ein Berg mit etwas über 5000 m, auf dem es ganz selten schneit.

Viele Brasilianer kommen zum Medizinstudium nach Cochabamba (weil es in Bolivien billiger ist und weil man an echten Leichen herumschnippeln kann). Wenn es auf dem Tunari Schnee gibt, nehmen sich die brasilianischen Studenten frei, mieten Kleinbusse und fahren auf den Gipfel, um wie kleine Kinder im Schnee zu tollen und ungläubig Fotos davon zu machen. 25- und 30-jährige sehen zum ersten Mal Schnee. Was für ein trauriges Leben.
Der ausgeprägte Wechsel von vier Jahreszeiten, wie es ihn in Mittel- und Nordeuropa gibt, ist nicht nur ein wunderschönes Naturschauspiel, das ich jetzt viel mehr schätzen werde. Er gibt dem Jahr auch einen gewissen Rhythmus, der in jahreszeitenlosen Breitengraden fehlt.
Fehlen tut auch etwas anderes, das in der Bedeutungsskala weiter oben steht als es hier platziert ist. Aber das schwierigste Thema hebt man eben gerne bis zum Schluss auf.
Intellekt vs. Religion
Vorausgeschickt sei Folgendes:
- Intellekt ist etwas anderes als Intelligenz. Ich meine damit hauptsächlich das Interesse an geistiger Betätigung, an Information, an Diskussion, an Bildung.
- Das ist schwer zu messen, aber
- wenn ich einige Wochen in einem Land bin, mit offenen Augen umherlaufe und mich jeden Tag mit Menschen unterhalte, dann sind meine Erfahrungen zwar anekdotisch, aber
- ich traue mir dann ein (vorläufiges) Urteil über das Geistesleben in einem Land zu, genauso wie ich nach ein paar Wochen in Mexiko und in Litauen ohne statistisch relevante Erhebungen sagen kann, dass Mexikaner im Durchschnitt kleiner und dicker als Litauer sind, oder wie man nach einer Woche in Italien merkt, dass die Menschen dort etwas mehr Wert auf ihren Kleidungsstil legen als wir Deutsche.
- Intellekt ist nicht alles und wahrscheinlich nicht einmal das Wichtigste. Es gibt intellektuelle Arschlöcher und unintellektuelle herzensgute Menschen.
Ich bin nicht der Ansicht, dass Europa generell intellektueller ist als Südamerika. Vielmehr gibt es auf beiden Kontinenten ausgeprägte nationale und regionale Unterschiede. Aber, vorsichtig ausgedrückt, sind die meisten Gegenden Südamerikas nicht gerade ein Hort des Intellektualismus. Das hätte man sich bei meiner Beschreibung des Lärms schon denken können, denn wie soll man Kants Zum ewigen Frieden lesen, wenn einen die Nachbarn mit ihrer Bumm-bumm-bumm-Musik nicht einmal temporär in Frieden lassen?
In Brasilien und Peru habe ich, obwohl ich es versucht habe, fast niemanden gefunden, mit dem man sich über Literatur, Geschichte, Politik oder Soziologie unterhalten kann. Da geht es nur um Strand, Alkohol, Essen, Musik, Geld und Fußball. Überhaupt scheinen Regionen mit Strand verdümmter zu sein als Städte im Hochland. Das konnte ich ausnahmslos in allen bereisten Ländern beobachten.
Man merkt dies auch am Niveau der politischen Auseinandersetzungen (obwohl das zugegebenermaßen auch in Europa und den USA stark nachläßt). Ich mache dafür u.a. den Fußball verantwortlich, dessen Mannschaftsdenken sich auf die Politik übertragen hat. Man ist dann entweder links und hasst alle Nichtlinken als vom Ausland bezahlte Imperialisten (während die „Linken“ die Bodenschätze an chinesische Unternehmen verscherbeln), oder man ist rechts und hasst alle Nichtrechten als Terroristen (während man beim Staatsterror beide Augen zudrückt), ohne anzuerkennen, dass der wirtschaftliche und soziale Ausschluss breiter Teile der Bevölkerung, insbesondere der Armen und Indigenen, menschlich und politisch falsch ist.
So gibt es in Venezuela noch immer Anhänger Hugo Chavez‘ (der eigentlich schon tot ist), die das Fehlen von Nahrungsmitteln, Elektrizität, Medizin und sogar Toilettenpapier im Land mit den weltweit größten Ölreserven einer natürlich von den USA angeführten internationalen Verschwörung zuschreiben. Evo Morales in Bolivien ist auch so jemand, der für alles, was nicht klappt, den „Imperialisten“ die Schuld zuschiebt.
Dieses simple, unlogische und Fakten ignorierende Denken geht vielleicht zurück auf das Unlogischste überhaupt: auf die Religion. Es ist kein Zufall, dass der Kontinent, der an Intellektualität etwas zu wünschen übrig läßt, einer der religiösesten ist. Und ich meine damit nicht die christliche Religion im aufgeklärten, nordeuropäischen Sinn, wo es halt noch ein paar Leute gibt, die sich aus Tradition nicht ganz von der Vorstellung lösen möchten, dass es etwas diffuses „Größeres“ gibt. Nein, in Südamerika ist das Christentum noch so wie es uns im Kindergarten eingetrichtert wurde: mit einem männlichen, weißen, alten Gott im Himmel und mit einem dunkelhäutigeren Teufel in der Hölle. Dieser Gott ist eine Person, die ganz persönlich Entscheidungen im Leben eines Jeden trifft, und deshalb muss man ganz viel beten und in die Kirche gehen und insbesondere spenden. Hier glauben die Leute an die wörtliche Wahrheit der Geschichten von Adam und Eva, der Sintflut und ähnlichem Mumpitz und bestreiten deshalb natürlich, dass es Dinosaurier gab.
Wie soll da kritisches und wissenschaftliches Denken gedeihen? Vor ein paar Wochen traf ich eine Biologin (!) aus Venezuela, die mir ernsthaft weismachen wollte, dass ein Beleg für die Wahrheit der Bibel sei, dass sie Erdbeben richtig vorhersage. So einen Scheiß muss ich mir anhören. Im Jahr 2017! Es war das erste Mal, dass ich bei einem Date einfach aufstand und ging.
Wer nicht in die (gleiche) Kirche geht, wird als schlechter Mensch angesehen. In Mollendo hatte ich einen Nachbarn, der mich jede Woche unter erlogenen Vorwänden um Geld anpumpte. Einmal bat er um Geld für eine Heiligenprozession. Ich lehnte ab und erklärte, dass ich Atheist sei. Er riss entsetzt den Mund auf, taumelte zurück, stammelte etwas Unverständliches, ging rückwärts aus meiner Wohnung und kam nie wieder vorbei. Dass die Kirche schon reich genug ist, fällt den Armen nicht auf, die 10% ihres Einkommens dem Priester für dessen Zweitwagen spenden.
Nun ist Religion ja immer dumm, aber diese Art der Religionsausübung ist regelrecht gefährlich. Eltern kaufen ihren Kindern keine Bücher, sondern spenden das Geld der Kirche, um für gute Noten zu beten. Wenn das Kind tatsächlich erfolgreich ist, belohnen die Eltern nicht das Kind, sondern tragen noch mehr Geld zum Priester. Wenn ein Team von Ärzten die ganze Nacht durcharbeitet, um einen Gehirntumor zu entfernen, verkauft die Familie am nächsten Tag ihren gesamten Viehbestand und gibt eine Marienstatue in Auftrag. Das Krankenhaus bleibt unterfinanziert. Ich habe es selbst Dutzende Male erlebt, dass sich Taxi- oder Busfahrer vor dem waghalsigen Überholen auf einer kurvigen Straße bekreuzigen. Gott wird es schon richten. Die Straßenränder sind gesäumt mit Kreuzen für die Toten. „Das war Gottes Wille“, sagen die Hinterbliebenen achselzuckend und spenden noch mehr Geld an die Kirche, um dem gleichen Schicksal zu entgehen.
„Gott is mein Pilot“ stand in diesem Taxi in Paita in Peru. Der junge Mann fand trotzem das Hotel nicht, obwohl ich ihm den Namen des Hotels, den Straßennamen und eine genaue Wegbeschreibung gab. So richtig scheint das mit diesem Gott nicht zu funktionieren.

Nicht nur der Zusammenhang zwischen Religiosität und Anti-Intellektualismus ist unübersehbar („Wieso hast Du soviele Bücher? Es gibt nur ein richtiges Buch, und das ist die Bibel“, höre ich zum Beispiel immer wieder), mir scheint, dass er sogar beabsichtigt ist. Die Kirchen halten die Leute dumm, damit sie weiter die luxuriösen Häuser der (oft nordamerikanischen und europäischen) Missionare und Priester finanzieren. Dass insbesondere die Katholische Kirche in Südamerika eine Geschichte von Völkermord, Sklaverei, Vergewaltigung, Raub und Plünderung hinter sich hat, fällt niemandem auf.
Aber natürlich gibt es auch nicht-religiöse Denkmuster, die jede Disussion im Keim ersticken. Insbesondere in Peru ist das der Nationalismus. Ich habe noch nie so einen blinden, chauvinistischen Nationalstolz erlebt wie in Peru.

Fast jedes Mal, wenn ich eine kritische Anmerkung machte, flippten meine peruanischen Bekannten aus, entzogen mir als Ausländer die Berechtigung, etwas über ihr Land zu sagen (wobei sie sehr gerne die Ausländer zitieren, die Peru nur super und toll und schön finden), und beleidigten sodann mich und alle umliegenden Länder. Viele Peruaner begründen ihren Nationalstolz komischerweise damit, wie schlecht, arm und zurückgeblieben alle Nachbarländer angeblich sind. Wenn ich frage, ob sie schon mal in Ecuador, Bolivien oder Chile waren, antworten die Peruaner: „Nein, auf keinen Fall. Das ist ganz schlimm und häßlich dort. Außerdem ist Peru das schönste Land der Welt. Ich muss gar keine anderen Länder sehen.“ Wenn ich – aufgrund der Erfahrung, alle Nachbarländer bereist zu haben – widerspreche, werden sie aggressiv: „Was willst Du Gringo eigentlich hier? Geh doch zurück nach Europa.“
Tja, genau das mache ich nun. Zwar liegt dort auch vieles im Argen, aber ein bißchen mehr von der Aufklärung scheint mir schon hängengeblieben zu sein.
Vorher muss ich aber noch zwei Städte lobend erwähnen: In La Paz und insbesondere in Cochabamba gibt es ein intellektuelles und kulturelles Leben mit Diskussionen, Veranstaltungen, Konzerten, Ausstellungen, Bibliotheken und politischen Manifestationen, dass einem warm ums Herz wird. Überhaupt traf ich nirgendwo so viele gebildete, interessierte, diskussionsfreudige, reflexionswillige Menschen wie in Bolivien. Während meine Bekannten in Brasilien mich an den Strand und in Peru zum Essen einluden, wurde ich in Bolivien ganz sebstverständlich zu politischen oder akademischen Veranstaltungen, zu Vorlesungen in der Universität, zu Ausstellungen oder Filmvorführungen oder schlicht zum Wandern eingeladen. Dass nicht alles in Bolivien rosig ist, zeigt jedoch eine Reise nach Santa Cruz, eine der oberflächlichsten, materialistischsten und unintellektuellsten Städte, die ich kenne.
Persönliche Gründe
Zuletzt hat jede Entscheidung auch ihre ganz persönlichen Gründe.
- Nachdem mein letzter Studienabschluss schon mehr als drei Jahre zurückliegt, zieht es mich wieder an die Universität. Dazu bald mehr in einem gesonderten Artikel.
- Mich reizt seit einiger Zeit der Gedanke einer richtig langen Wanderung. Das ist zwar theoretisch auch in Südamerika möglich (in Cuenca in Ecuador traf ich einen ca. 65-jährigen Niederländer, der zu Fuß den gesamten Kontinent durchwandert), aber ich will einfach nicht 1200 km durch die Atacama-Wüste laufen. Und im Regenwald habe ich panische Angst vor Schlangen. In Europa plagt mich hingegen nur die Qual der Wahl.
- Das Schreiben wird für mich immer wichtiger als das Reisen, so dass ich mich nach einer gemütlichen Wohnung mit einer wieder aufzubauenden Bibliothek sehne. Aufgrund guter Erfahrungen in Litauen und Rumänien verbinde ich diese Vorstellung mit einem sowjetischen Plattenbau in Osteuropa.
- Ein paar medizinische Probleme, die sich wider naives Hoffen nicht von selbst lösen, müssen irgendwann auch mal angegangen werden. In Südamerika habe ich leider keine Krankenversicherung. Vielleicht hätte ich mehr beten und spenden sollen, und Jesus hätte auch mich geheilt.
Schluss
Wohlgemerkt, Südamerika bietet spektakuläre und wunderschöne Landschaften, von der Chapada Diamantina bis zum Titicaca-See, ich habe Hunderte von feundlichen Menschen kennengelernt, und mir würde auch hier nicht langweilig werden. Ich kann mir vorstellen, dass ich mal wieder nach Südamerika zurückkehre. Ja, ich bin mir sogar sicher, dass ich, sobald der Dampfer am 11. Mai 2017 in Cartagena ablegen wird, vieles vermissen werde.
Aber jede Entscheidung ist eine Frage der Prioritäten.
Das, was Du beschreibst Andreas sind Einsichten, die nur ein echter Reisender haben kann. Die Pauschaltouristen, die Du beschreibst, werden niemals so weit kommen, ähnliche Gedanken zu haben, da sie nicht auf die Idee kommen würden, sich in der Tiefe mit dem Land, in das sie reisen, auseinanderzusetzen.
Dafür haben sie Fotos von Machu Picchu, und ich nicht. 😉
Und sie gelten nicht als so „negativ“.
Ist diese Charakteristik der südamerikanischen Kultur, die in dem Blogbeitrag beschrieben ist, nicht grundsätzlich auf den Kolonialismus zurückzuführen?
Ich glaube, dass das zu weit zurückginge, denn zwischenzeitlich ist ja viel passiert.
Ein Problem ist, dass die Revolutionen gegen die Spanier keine Volksrevolutionen waren, sondern die herrschende spanische Klasse gegen den spanischen König aufbegehrte, u.a. weil sie eine echte Revolution wie in Haiti vermeiden wollten. Es wurden die Herrscher ausgetauscht, aber mangels Landreform blieb das „Bürgertum“ eine sehr kleine Schicht.
Und der Katholischen Kirche ging es nie an den Kragen, sie arrangierte sich mit allen Herrschaftsformen, oft auch mit den Militärdiktaturen im 20. Jahrhundert.
Und es gibt auch in Europa so extrem religiöse (und ebenfalls nicht gerade übertrieben intellektuelle) Länder, wie z.B. Malta. Das hat zwar auch eine (britische) koloniale Vergangenheit, aber darauf kann man den Katholizismus nicht zurückführen.
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Wieder mal ein interessanter und aufschlussreicher Artikel. Die Europäischen Fernwanderwege habe ich übrigens auch vor kurzem für mich entdeckt. Vielleicht begegnen wir uns auf eine kleine Jause unterwegs.
Das läßt sich hoffentlich arrangieren!
Bist Du schon ein Stück gewandert?
Meine längeren Wandererfahrungen beschränken sich bisher auf Großbritannien, wo ich den Hadrianswall (diesen mit wildem Campen), den South Downs Way und den West Highland Way gewandert bin. Ansonsten habe ich nur Tageswanderungen gemacht, allerdings bis zu 60 km (das geht aber auch nur mit leichtem Rucksack).
Ich hab vor zwei Jahren den GR20 auf Korsika gemacht. Aber das ist schon alpin und für mich eigentlich zu anstrengend, auch wenn es sehr schön war. Ich mag lieber im Wechsel durch die Landschaft und Städte wandern, gewissermaßen mit dem Rucksack spazieren gehen. Letztes Jahr habe ich den GR2013 um Marseille herum gemacht, auch mit wildem Campen, aber immer in der Nähe der Stadt. Sehr interessant und schön. Das ist genau meine Kragenweite.
Von den Fernwanderwegen würden mich der E 5 in Frankreich, der E 9 entweder französisches oder baltisches Teilstück, und E 3 und E 8 Rumänien/Bulgarien interessieren.
Wow, der GR20 ist so etwas wie der König der Fernwanderwege. Ich war leider noch nie auf Korsika.
Die Gegend um Marseille kenne ich, weil ich dort als Pfadfinder mal in einem Sommercamp der „Scouts de France“ war. Das war eine Woche Waldbrandbekämpfung (ich habe persönlich kein einziges Feuer zu Gesicht bekommen) und dann eine Woche Klettern, Segeln (die französischen Pfadfinder haben sogar Segelboote) und Wandern. Wir wandernten von Marseille aus nach Osten, durch die Calanques, immer an der Küste entlang, sprangen wagemutig von den Klippen ins Meer und schliefen nachts unter dem Sternenhimmel. Eine sehr schöne Gegend! Ich habe gelesen, dass die Calanques seit einigen Jahren ein Nationalpark sind.
Der E9 hat’s mir auch angetan, obwohl ich nicht weiß, ob mir nicht die Berge abgehen würden, wenn ich immer nur am Meer entland laufe. Das Baltikum kann ich empfehlen! Insbesondere die Wanderung entlang der kurischen Nehrung in Litauen Richtung Königsberg ist schön (auch mit dem Fahrrad). Ich war einmal im Sommer und einmal im Winter dort, und auch der zweimalige Besuch lohnt sich. Im Winter ist die Lagune zugefroren, so dass man auf dem Eis kilometerweit gehen kann. Leider hatte ich damals kein Visum für Russland, so dass ich nicht nach Königsberg weitergehen konnte, aber das möchte ich mal nachholen.
Rumänien kann ich zum Wandern wärmstens empfehlen. Man muss nur einen Stock oder ein paar Steine gegen die Hunde dabei haben. 😉 Aber die Landschaft ist wunderschön, immer sanfte Hügel, dazwischen Dörfer mit Holzhäusern und wo die Menschen das Wasser aus einem Brunnen pumpen, Schafherden, verfallende Schlösser alter ungarischer Adelshäuser, alles ruhig und entspannt, die Menschen nehmen sich Zeit für ein Gespräch. In den Karpaten gibt es richtige Berge, aber auch nichts Unbezwingbares. Und wenn man Glück hat, sieht man einen Bären.
Kennst Du Patrick Leigh Fermor, den britischen Reisenden/Schriftsteller? Er ging ab 1933 von Holland über Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien und Bulgarien nach Istanbul. Das erste Buch der Trilogie heißt „Die Zeit der Gaben“ und ist auch literarisch wertvoll. Ich glaube, das würde Dir gefallen! Im zweiten und dritten Teil geht es dann vor allem um Ungarn und Rumänien, das ist eine gute Lektüre für jene Strecke.
Ja. Die Calanques sind herrlich!
Und Patrick Leigh Fernor kenne ich nicht, aber ich habe das Buch gleich auf meine Amazon-Wunschliste gesetzt und nehme es mit in den nächsten Urlaub.
Mir haben es zwei andere Bücher angetan: „Berlin-Moskau“ von Wolfgang Büscher und, gefällt mir persönlich noch besser, „Paris-Berlin, 34 Tage und 33 Nächte“. An Andreas Altmann scheiden sich die Geister , man mag ihn oder man hasst ihn. Mir hat das Buch viel gegeben und es war eins der interessantesten Bücher im Jahr 2008 (ein anderes war übrigens „Limonov“ von Emmanuel Carrère).
Aber, hier: 60 km an einem Tag!?! Bei mir werden so ab dem 20. km die Beine so langsam schwer und das ist ja die dreifache Distanz!
Das mit den 60 km war eine Ausnahme: https://andreas-moser.blog/2015/05/07/zwei-jungs-wandern-60-km-fur-eine-suppe/ Das geht auch nur, wenn man nicht viel Gepäck dabei hat, weil man weiß, dass man am Abend wieder zuhause ankommt. In der Zeit war ich auch fit, weil ich einige Halbamarathons in dem Jahr in Rumänien lief. Da in Rumänien Halbmarathons steil bergauf und querfeldein gehen, ist Wandern im Vergleich dazu erholsam.
Aber normalerweise gehe ich auch lieber wenig, um Zeit für Pausen, Besichtigungen und Gespräche zu haben.
„Berlin-Moskau“ von Wolfgang Büscher habe ich gelesen, das ist geographisch auch die Richtung, in die es mich zieht. Ich fand ihn nur manchmal zu düster, fast niedergeschlagen.
„Paris-Berlin“ werde ich sogleich auf meine Wunschliste setzen. Ich habe von Andreas Altmann bisher nur „Gebrauchsanweisung für die Welt“ gelesen, das ich auf dem Bücherflohmarkt in Puno in Peru fand. Ich fand ihn lesenswert, wenn auch nicht in allen Punkten (Drogen und Frauen) zustimmungsfähig.
„Limonov“ habe ich auch gelesen. Ein sehr gutes, wenn auch teilweise verstörendes, Buch. Aber ein Einblick in eine Welt, über die man sonst nur Vermutungen anstellen könnte.
Gerade was den Lärm angeht, kann ich nur bestätigend mitleiden. Wir erlebten in unseren drei Monaten in Paraguay ebenfalls diverse „aufgerüstete“ Autos – einfach unglaublich. Und auch die Fiesta-Erfahrung mussten wir machen – egal wo in diesem Land wir hinkamen: gefeiert wurde immer. Nicht nur insofern finde ich Deinen Entschluss so weise wie verständlich – meinen Respekt! Und liebe Grüße!
Vielen Dank!
Ich bin froh, das zu lesen, denn zuweilen dachte ich schon, dass ich der einzige Überempfindliche bin. Interessant ist, dass wenn ich das Thema anspreche, sogar einige Südamerikaner beipflichten, dass der Lärm unerträglich ist (insbesondere die, die schon mal in Europa waren und wissen, dass man auch anders zusammenleben kann).
Ja, auch das stimmt. Grundsätzlich scheint laute Musik eine Art Prestigeobjekt zu sein (wie bei uns fette Autos). Als wir aber in Santa María de Fe in Paraguay waren, wo eine alte Jesuitenmission als Minihotel aufgezogen wurde und das ganze Dorf mitarbeitet (Initiatorin ist eine Engländerin, glaube ich), wurde stark darauf geachtet, dass die Beschallung reduziert wurde – und zwar nicht nur der Touristen zuliebe. War aber eine (ohrensegnende) Ausnahme …
Liebe Grüße!
Großartige Gedanken und Einsichten eines wahren Reisenden, die ich mit Genuss gelesen habe. Wenn Schreiben immer wichtiger wird: Weiter so, da geht noch was. Und wenn der Weg nach Mittelfranken führt: Gerne Willkommen!
Vielen Dank!
Nachdem ich aus Amberg in der Oberpfalz bin, ist der Weg nach Mittelfranken tatsächlich nicht weit. 🙂
Heute war ich in Kolumbien in der Stadt und eines dieser Lautsprecher-Autos spielte lautes Bum-Bum-Bum (Ich glaube der Liedtitel war „I’m sexy and know it“, wenn ich mich nicht irre). Ich musste leider genau daneben parken, um meine Besorgungen zu machen. Ich dachte sofort an das Blues-Brothers-Auto-Bild in deinem Artikel (bei dessen Anblick ich übrigens laut aufgelacht habe) und dann, als ob es nicht genug wäre, kam eines der Werbeautos vorbeigefahren und pries unter ohrenbetäubendem Trällern ein hiesiges Modefachgeschäft an. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fassen. Ich bin nicht täglich in der Stadt und dieser Zufall, dass genau dann und dort, wo ich halte, in einer kleinen Nebenstraße, zu diesem Zeitpunkt Musikauto und Werbeauto zusammentreffen, das war zu ironisch. Deshalb: Liebe Leser, nichts in diesem Artikel ist übertrieben! NICHTS. Nackte Tatsachen. Das bezeuge ich gerne. Auch „Gott ist mein Führer / Pilot / Retter / Erzeuger / Vater etc. pp.“-Aufkleber sowie „Toda la Gloria es con Dios“ untermauert vom steten Bekreuzen vor dem Überqueren der Straße (Passant), vor einer verkehrsreichen Kreuzung (Busfahrer), vor dem Start des Flugzeugs (Sitznachbar) und natürlich beim Anblick von Kirche/Marienfigur/Kreuz/Altar/blond-gelockten Kindern/Jesus/einer herzzerreissenden Szene in der Seifenoper etc., sind gang und gäbe. Vielen Dank für den Tipp bezüglich der Überfahrt! Gute Heimreise!
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Toller Artikel, Herr Kollege, musste herzhaft lachen (einerseits).
Vielen Dank!
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Hallo Andreas,
mit großem Interesse habe ich Deinen Artikel gelesen und fühle mich sehr bestätigt: Mein Mann und ich waren von 2014 bis 2015 13 Monate in einem kleinen Campingbus in Nordamerika unterwegs, davon 4 Monate quer durch Mexiko; der hier stets gegenwärtige Lärm war zunächst überraschend, dann erschreckend und irgendwann für uns nicht mehr auszuhalten. Böllerschüsse zu Ehren irgend eines Heiligen morgens um vier, besagte Lautsprecher vor den Läden, auf den Dächern, den Plätzen und Fahrzeugen, die typischen ungeregelten Motorbremsen der LKW – alles was Du beschreibst haben auch wir erlebt. Es war mit ein Grund, die Panamericanareise nicht fortzusetzen.
Aber auch die andere Seite die Du beschreibst, die Vielfalt Europas – ist uns sehr bewußt geworden und das auch schon nach einem dreiviertel Jahr Nordamerika: Auch hier sind die Städte natürlich europäisch geprägt, jedoch ohne die tausend Jahre alten Wurzeln und Spuren, auch im Geiste, die uns in Europa mit den vielen Generationen vorher unweigerlich verbinden.
Wanderungen in NA finden auf eigens angelegten Trails in den Nationalparks statt, und nicht wie in Europa auf uralten Wegen, Handelsrouten, Schmuglerpfaden oder Ortsverbindungen, die einen stets durch Dörfer und Städte führen, die schon wegen ihrer Historie die Sinne anregen, die Neugierde wecken oder zur Rast einladen.
Hinzu kommt, dass gerade in Nordamerika ein ungeheurer Raubbau an der Natur ins Auge fällt: Die vielen Goldsucher haben das Wasser nicht nur mit Quecksilber verseucht, sondern auch immense Erdmassen bewegt und infolge dessen ganze Landstriche in Geröllhalden verwandelt.
Über den ganzen Kontinent wurden uralte Wälder abgeholzt, Flüsse verlegt mit entsprechenden Folgen und nukleare Versuche wie in Hanford site, oder New Mexiko verstrahlen staatengroße Flächen bis heute.
Das Schicksal der indigenen Völker ist noch einmal eine andere traurige Geschichte.
Diskussionen: Über Politik, Religion und Gesundheit galt in den Staaten vielfach als tabu; in Kanada weniger, und doch ergaben sich einige wirklich tiefgreifende Gespäche.
In Mexiko-City und Oaxaka wurden wir angesprochen (wenige Monate nach der Ermordung der Studenten) und werten dies als einfachen Vertrauensbeweis. Insgesamt empfanden wir die Stimmung im Volk immer wieder als recht aufgeladen, bedingt durch die Korruption im Staatsapparat, durch die Landenteignung im Süden aber auch wohl durch die Macht, bzw. die Auseinandersetzungen der Drogenmafia, die immer wieder Unbeteiligte trifft.
Die mehrwöchige Heimreise durch die Ödnis mückenverseuchter, undurchdringlicher Jungwälder, tagelangen Etappen durch Agrarmonokulturen bis zum Horizont, Trinkwasser aus Kanistern, genveränderten Nahrungsmitteln und nicht zuletzt waffenstarrender Bevölkerung, lehrte uns Europa noch einmal auf andere Art zu schätzen.
Als Langzeitreisender macht man halt so seine Erfahrungen, die eben nicht den Hochglanzprospekten der Reiseindustrie entsprechen; und das ist eigentlich auch gut so.
Hallo Eva,
vielen Dank für Deine Rückmeldung! Ich finde es hervorragend, auch eine laufende Reise immer wieder zu bewerten und je nach Gefühl einen Aufenthalt an einem Ort zu verlängern, den Plan zu ändern oder eben früher zurückzukehren. Insbesondere wenn man dabei unseren vielseitigen kleinen Kontinent mehr zu schätzen lernt.
Wenn ich Reiseblogs oder -artikel lese, in denen alles immer super, fein und toll ist, dann werde ich misstrauisch. So ist das Leben einfach nicht.
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