Obwohl ich seit einem Jahr in Osteuropa lebe, sind meine Sprachkenntnisse nicht besser als die eines Neuankömmlings, der im Zug nach Litauen mal eben ein paar Seiten im Sprachführer gelernt hat. Die böse Kombination von zu wenig Zeit, der weiten Verbreitung fließenden Englischs und des Wissens, daß ich am Ende des Jahres wieder weiterziehen werde, haben keine Situation erzeugen können, in der ich mich zum regelmäßigen Studium des Litauischen motivieren hätte können. Eine Sprache, die nur in einem, noch dazu kleinen und genau genommen sogar schrumpfenden, Land gesprochen wird, hat es schwerer als Englisch oder Spanisch, sich auf der täglichen Prioritätenliste nach oben zu arbeiten.
Nun steht aber für August 2013 eine Reise nach Moldawien, Transdnestrien und in die Ukraine an, wo ich nicht mit der gleichen Verbreitung guter Englischkenntnisse rechnen kann. Anstatt Rumänisch und Ukrainisch zu pauken, werde ich versuchen, bis dahin zumindest Grundkenntnisse der lingua franca Osteuropas (und sogar Zentralasiens) zu erwerben: Ich möchte Russisch lernen.
Ich konnte keinen Sprachkurs auftreiben, der es mir so leicht machen wollte, nur zu sprechen und zu verstehen zu lernen, so daß ich wohl oder übel auch die kyrillische Schrift lernen muß. Für meine geplante Reise macht das ja auch Sinn, denn wie sollte ich sonst Wegweiser, Speisekarten oder Warnhinweise in Tschernobyl lesen können?
Als ich im Kindergarten war, brachte mir mein Großvater mal bei, meinen Namen auf Kyrillisch zu schreiben. Diese Kenntnis war neben TBC die zweite Buchstabenansammlung, die er aus dem Russlandfeldzug und der Kriegsgefangenschaft in Jugoslawien (für die Jüngeren: das war mal ein Land in Südosteuropa) mitgebracht hatte. Aber erstens will ich mehr lesen können als nur meinen eigenen Namen, und zweitens habe ich selbst das schon lange vergessen – oder, weil das Wissen indirekt aus einem Angriffskrieg stammte, aus meinem geschichtsbewußten Gedächtnis verdrängt.
Kyrillisch ist so trügerisch wie eine KGB-Agentin. Man sieht es an, und denkt sich: „Oh, sehr hübsch! Und so viele Buchstaben sind gleich wie in der lateinischen Schrift. Wie leicht! Die wenigen neuen Buchstaben machen es nur exotischer.“ – Vollkommen falsch! Nichts ist wie es scheint, man kann keinem Buchstaben trauen. Das В ist kein B, sondern mal ein W, mal ein F. Das spiegelverkehrte И ist kein N, aber dafür ist das H ein N. Das O ist mal ein O, mal ein A. Das P ist ein R. Das C ist ein S. Das У ist ein U, und X ist „ch“. Das spiegelverkehrte Я hat überhaupt nichts mir R zu tun, sondern wird „ja“ oder „je“ ausgesprochen. Und so weiter, und so weiter. Die Buchstaben und Laute, für die es außerhalb der slawischen Sprachen keine Entsprechung gibt, erwähne ich noch gar nicht.
Angeblich geht die kyrillische Schrift auf Kyrill und Method bzw. deren Schüler zurück. Ich glaube eher, daß jemand das lateinische Alphabet in einen Sack gesteckt und kräftig durchgeschüttelt hat, um es anschließend in vollkommen willkürlicher Reihenfolge neu anzuordnen. Viele Geheimschriften sind weniger vertrackt. Früher dachte ich, daß Georgisch schwer wäre, aber vielleicht ist es einfacher, ein neues Alphabet zu lernen, das einen nicht ständig mit Ähnlichkeiten zu bekannten Buchstaben in die Irre leitet. – Ist es für Russen eigentlich genauso schwer, das lateinische Alphabet zu lernen?
Es folgen die kyrillischen Buchstaben in ihrer jeweiligen Groß- und Kleinschreibung, die Schritt für Schritt in die deutsche Schreibweise inkorporiert werden.
A a
Das ist das „A“. Der Optimismus, der sich bei diesem Anfang erheben will, wird jedoch schon von den beiden nächsten Buchstaben brutal plattgemacht.
Б б
Das ist das „B“. Hm. Schade um das бei ausreichend Phantasie leicht erotische lateinische „B“, aber бei darüбer hinausgehender Phantasie durchaus noch als ein „B“ zu erkennen. Das kleine б könnte leicht mit der Ziffer 6 verwechselt werden, aбer das stört außerhalб des Mathematik- oder Chemieunterrichts nicht.
Gute Wörter zum Üбen des бisher Erlernten: Бarбaren, Бamбus, Бarбier.
В в
Jetzt ist die Verwirrung komplett, schon beim dritten Бuchstaбen! Was ist B, wenn Б „B“ ist? Jedenfalls ist B kein „B“, denn das wäre zu einfach für lange siбirische Scraббle-Winteraбende!
Das B ist ein „W“ vor Bokalen und vor „D“ soвie vor „G“ (man fragt sich, вas Laute вie „WD“ und „WG“ in einer Sprache verloren haben). Vor den üбrigen Konsonanten hingegen ist das B ein „F“ (ähnliche Brage вie vorher, gekoppelt mit der Vorahnung, es mit einer konsonantenreichen Sprache zu tun zu bekommen).
Gute Börter zum Üбen des бisher Erlernten: Beiб, Бienenвaбe.
Г г
Dieser Galgen ist am Bortanfang ein „G“, am Bortende ein „K“ und in гrammatischen Endunгen (so saгt es mein Lehrбuch ohne вeitere Erläuterunгen) ein „W“. Oje. Das kann sich doch niemand merken. Wenn das so вeiterгeht, hat der nächste Бuchstaбe vier verschiedene Aussprachemöгlichkeiten.
Гute Börter zum Üбen des бisher Erlernten: Гulaг, aбвeгiг
Hallo, viel Spass beim lernen.

Nimm aber bitte dieses Alphabet:
Da ist die Schreibschrift auch mit dabei. Die Reihenfolge stimmt auch.
Zu den Aussprachehinweisen:
z = weiches s
z mit Häkchen = weiches sch
s = hartes s
s mit Häkchen = hartes sch
c = z
Jetzt wird’s vertrackt:
c mit Häkchen = tsch wie Matsch
s mit Häkchen = sch
sc jeweils mit Häkchen = schtsch (denk an eine Lokomotive)
Weichheits- und Hartheitszeichen sind nur ein Aussprachehinweis ohne eigenen Ton.
Sicherlich weißt Du das alles und ich trage Eulen nach Athen.
Das ist natürlich die russische Aussprache. In den einzelnen Ländern gibt es dann schon Unterschiede.
In einem Teil der Ukraine ist es besser, nicht dieses Russisch zu sprechen, sondern lieber englisch. Alte Menschen können auch schon mal deutsch.
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Ich habe jetzt echt viel gesucht, aber ich glaube, dieses Video hier ist das beste.
Die Schreibschrift werde ich aber für die nächsten paar Jahre noch ignorieren.
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