To the English version of this article.
Bolivien hat es mir so angetan, dass es schwerfällt zu sagen, was mir am meisten gefällt. Aber die lebhaften politischen und sozialen Debatten, die Diskussionskultur, das breite Interesse an gesellschaftlichen Fragen, die Bereitschaft sich einzumischen, gehören auf jeden Fall mit dazu. Als homo politicus fühle ich mich hier wohl.
Interessant sind auch die etwas ritualisierten Formen politischer und sozialer Proteste, die in mehreren Stufen und weitgehend friedlich, freundlich und zivilisiert verlaufen. Die erste Stufe ist dabei die Blockade (bloqueo). Blockaden gibt es jeden Tag, und falls sie nicht spontan entstehen, werden sie in der Tageszeitung unter dem Wetterbericht angekündigt, so dass man sich auf Umwege und Verzögerungen gefasst machen kann.
Heute sah das in Cochabamba so aus:



Frauen mit attraktiven Kostümen und Hüten setzen sich auf die Straße und mitten in die Kreuzungen rund um das mit Protest zu überziehende Gebäude und blockieren so den Verkehr. Sie breiten ihre Decken aus, auf denen die Kinder spielen oder schlafen. Bald kommen fliegende Händler mit Lebensmitteln und Getränken. Ein paar Leute halten handgeschriebene Plakate hoch. (Heute ging es um irgendeine Schule.)
Das ist alltäglich und akzeptiert. Die Polizei löst die Sitzblockade nicht auf, sondern regelt den Verkehr. Heute sah ich nur einen Motorradfahrer, der über eine der blockierten Kreuzungen wollte. Die Frauen riefen „No paso! No paso!“ („Hier geht’s nicht durch.“) und er kehrte wieder um. Ich höre selten, dass sich jemand über die Blockaden beschwert, und wenn dann sind es abgehobene Snobs („wegen dieser blöden Blockade konnte mich mein Chauffeur heute nicht ins Nagelstudio fahren“). Verständnis und Solidarität herrschen vor.
Etwas krasser und schwerwiegender sind die Blockaden von Berufsgruppen, die über große Autos verfügen: LKW- und Busfahrer.

Diese legen gerne ganze Fernstraßen lahm und schneiden so einen Teil des Landes vom anderen ab.

Solche Protestaktionen können durchaus ein paar Tage andauern, so dass man ungewollt zwei oder drei Tage länger in einer Stadt bleiben muss, weil keine Busse mehr fahren. 2010 wurde Potosí fast drei Wochen lang blockiert. Da die Stadt auf über 4.000 Meter Höhe im kargen Gebirge liegt, wurden die Lebensmittel knapp. Bewohner und Touristen saßen fest, weil auch die Rollbahn des Flughafens mit Steinen blockiert wurde.

So schlimm war es heute in Cochabamba nicht. Vor dem Gebäude der für Schulen verantwortlichen Behörde standen die Menschen dichtgedrängt. Das Tor wurde von ein paar Soldaten bewacht, aber die Stimmung war nicht aufgeheizt. Die Demonstranten warten einfach, bis jemand in der Behörde nachgibt und mit ihnen spricht oder ihre Forderungen akzeptiert. Von Zeit zu Zeit wurden laute Böller abgefeuert. (Feuerwerke gehören in Bolvien zu jedem Protestzug.)

Da es so etwas in Cochabamba jeden Tag gibt, blieb ich nicht länger. Ich wollte zum einzigen Postamt in der Stadt mit 600.000 Einwohnern (ein Protest für mehr Postämter wäre mein Vorschlag), um Eure Postkarten abzuschicken. Das Postamt war zwar offen, aber die Schalter waren zu, die Mitarbeiter saßen auf Stühlen in einem großen Kreis. Ein handschriftliches Plakat erklärte den Grund dieses Protests:

Interessant war, dass die Kunden, wenn sie ins Postamt kamen, Reden zur Unterstützung des Protests hielten, von den Streikenden beklatscht wurden, und wieder gingen. Niemand war so egoistisch, zu glauben, dass sein Paket oder sein Einschreiben wichtiger wäre als die Zahlung ausstehender Löhne.
Um die Ecke vom Postamt, am Platz des 14. September, gab es den nächsten Protest. Hier lagern und übernachten schon seit zwei Monaten die Rollstullfahrer, die für eine monatliche Unterstützung von 500 Bolivianos (65 Euros) und für eine rollstuhlfahrerfreundliche Stadtplanung demonstrieren.

Da diese Forderungen noch nicht erfüllt wurden, tritt die nächste Eskalationsstufe in Kraft: der Marsch nach La Paz, auch das ein Ritual mit Tradition. Im August 1994 marschierten 5000 Kokabauern von Villa Tunari nach La Paz, nachdem Evo Morales verhaftet worden war. Nach seiner Freilassung schloss er sich dem Marsch an. 1998 führte Morales einen weiteren Protestmarsch der Kokabauern von El Chapare nach La Paz an. Mittlerweile ist Evo Morales Präsident und muss jetzt in La Paz regelmäßig diejenigen empfangen, die aus allen Ecken des Landes dorthin marschieren. Zur Zeit sind die Rollstullfahrer aus Cochabamba unterwegs. 350 km Distanz und über eine Gebirgskette mit 4000 Metern Höhe.

Die Rollstullfahrer waren zudem besonders kreativ und mutig und erfanden eine neue Protestform, die von anderen Gruppen voller Anerkennung kopiert werden wird: Sie hängten sich von Brücken.


Reisende erkundigen sich manchmal besorgt nach den Straßensperren und fragen, ob Bolivien ein sicheres Land sei. Bolivien ist wohl das sicherste und friedlichste Land in ganz Lateinamerika. Ich würde mir viel mehr Sorgen um ein Land machen, in dem es keine Proteste gibt. Es gibt auch keinen Grund, sich von den Protesten fernzuhalten, denn gerade hier bekommt man einen Eindruck von der politischen Dynamik. (Gewaltsame Niederschlagungen von Protesten, die früher alltäglich waren, gibt es kaum mehr, und die sechs Toten beim Brand des Rathauses in El Alto waren eine tragische Ausnahme.)
Links:
- Mehr Berichte aus Bolivien.
- Mehr Politik.
Pingback: The Stages of Protest in Bolivia | The Happy Hermit
Pingback: So geht Abenteuer! Eine Anleitung in 24 Schritten. | Der reisende Reporter
Pingback: Warum ich nach Europa zurückkehre | Der reisende Reporter
Pingback: Neue Visitenkarten | Der reisende Reporter
Pingback: „Warm Roads“ von Stefan Korn | Der reisende Reporter