Ein Bekannter aus Târgu Mureș (deutscher Name des Ortes: Neumarkt am Mieresch) fragte mich letzten Sonntag, ob ich Lust auf eine „kleine Wanderung zu den Hügeln außerhalb der Stadt“ habe. Hatte ich natürlich. Er wollte nach Miercurea Nirajului (Sereda) wandern. Ich hatte keine Ahnung, wo das liegt.
Deshalb sagte ich zu. Dann klärte er mich auf, dass das Ziel 25 km entfernt liege und dass er noch am gleichen Tag zurückwandern möchte. Insgesamt also 50 km (die sich am Ende des Tages mit den ganzen Umwegen als 60 km herausstellen sollten), weswegen wir uns am Montagmorgen schon um 7 Uhr treffen. Ich frage Yaniv, ob er schon einmal so eine Strecke gewandert sei. „In den letzten Jahren nicht, aber früher mal bei der Armee“ ist die beruhigende Antwort.
Schon auf dem Berg zum Zoo in Târgu Mureș kommen wir ins Schwitzen und schnappen nach Luft. Zum Glück haben wir jeweils eine Dose Cola dabei, die wir auf den ersten 500 Metern leeren, und zum andauernden Glück bleibt es den ganzen Tag bewölkt. Schlecht für Fotos, gut fürs Wandern. Das pralle Grün, die durch den Regen gereinigte Luft und die Ruhe des Waldes geben uns Energie (fast so wirksam wie die Cola) und Motivation. Arbeit und Studium, Termine und Prüfungen sind schon vergessen.
Wir wandeln auf alten Pfaden aus der Zeit der Römer, als deren legitime Nachfahren sich manche Rumänen betrachten.
Trotz Wolken kann man in der Ferne die Berge im Szeklerland erkennen. Irgendwo dahinten liegt unser Ziel, noch einige Stunden entfernt.
Aber zuerst kommen wir in Dörfer, die uns mehrere Jahrzehnte zurückversetzen. Keine geteerten Straßen, manchmal kein einziges Auto im ganzen Dorf. Hölzerne Toilettenhäuschen im Garten. Windschiefe Häuser, die oft unbewohnt aussehen, aus denen aber immer just in dem Moment jemand heraustritt, in dem ich ein Foto machen will.
Die öffentlichen Brunnen bieten reichlich Wasser für Wanderer, von denen wir übrigens den ganzen Tag die einzig sichtbaren bleiben werden.
Was jedoch selbst in den ärmsten Dörfern reichlich vorhanden ist, sind Kirchen. Hier stehen gleich drei nebeneinander: katholisch, reformiert und orthodox.
Die Kirchen sind, anders als Wohnhäuser oder Schulen, auch immer frisch verputzt und gepflegt. Da sieht man, wer Geld und Einfluss im Land hat. Selbst Jesus kann diese verfehlte Prioritätensetzung nicht mehr mit ansehen.
Schön sind jedoch die Holzkirchen, so wie hier in Sânișor.
Außerhalb dieser Ortschaft sehen wir endlich Bärenspuren, was wir mit einem Picknick auf dem nahegelegenen Hügel feiern. Mit Schinken- und Hackfleischduft versuchen wir den Bären anzulocken, vertilgen unser Proviant aber schneller als der Braunbär uns erschnuppern kann.
Wir sind jetzt schon vier Stunden unterwegs und der Zeitplan gerät ins Wanken. Aber die Ausblicke sind zu schön, um sich nicht ins Gras zu setzen, zu verweilen und die Ruhe zu genießen.
Während er eine Flasche Wein leert, rückt Yaniv mit dem Grund für seine plötzliche Wanderbegeisterung heraus: Er hatte zwei Tage zuvor Geburtstag, fühlt sich deshalb extrem alt und schon auf dem absteigenden Lebensast. Aus dieser Krise erwuchs der Wunsch, den Grad seiner physischen Leistungsfähigkeit fernwandernd zu überprüfen.
In manchen der von uns durchquerten Dörfer stehen Neubauten, die als Versammlungssäle der Zeugen Jehovas, der Adventisten vom Siebten Tage oder anderer obskurer Religionen dienen. Genau das, was den Rumänen noch gefehlt hat nach einem langen, entbehrungsreichen, Weltkriege und den Kommunismus überstanden habenden Leben in einem Dorf, in dem es nicht einmal einen Tante-Emma-Laden gibt. Ich bin froh, dass wir querfeldein durch Wälder und Wiesen laufen und so kaum jemandem begegnen, denn zwei freundliche junge Männer, die miteinander auf Englisch parlieren, entsprechen dem Stereotyp christlicher Missionare, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Osteuropa expandieren. Wir wollen jedoch keine Angst vor Kreuzzügen und Exorzismen verbreiten.
Weiter geht es, vorbei an Einsiedlerhöfen mit Schafen, Pferden, Kühen und Hunden. So langsam entwickle ich ein Gespür dafür, welche Hunde aggressiv und welche eher behäbig sind. Statt der erhofften Bären sehen wir nur Rehe.
Gegen 14 Uhr, eineinhalb Stunden später als geplant, erreichen wir endlich Miercurea Nirajului. Noch nie hat sich jemand über so ein kleines Nest gefreut wie unsere erschöpften Beine. Wir schleppen uns noch bis zur Stadtmitte und lassen uns im dortigen Park nieder. Halbzeit.
Den Stolz über das bereits Geschaffte sieht man uns an. Etwa 30 km haben wir zurückgelegt, und eines haben wir schon entschieden: Auch zurück geht es zu Fuß. Auf den Bus, der von hier aus halbstündig nach Târgu Mureș düst, verzichten wir dankend. Früher gab es zwischen den beiden Städten übrigens eine Eisenbahn. Warum die Strecke eingestellt wurde? Wahrscheinlich war man zu Fuß schneller unterwegs. Die rumänische Eisenbahn ist selbst heute noch so langsam, dass man sie auf dem Fahrrad überholen kann.
Miercurea Nirajului war früher übrigens mal wichtig. Bis zum 18. Jahrhundert war es Sitz eines der Szeklerstühle, bis es in dieser Rolle von Târgu Mureș abgelöst wurde. Heute dümpelt die Kleinstadt mit 5,500 Einwohnern so vor sich hin. Direkt am Marktplatz finden wir ein Gasthaus, aber kein Gulasch auf der Karte, weswegen wir nachfragen. Die Bedienung missversteht unsere Frage nach der Verfügbarkeit von Gulasch und zählt uns zur Antwort auf, woraus Gulasch zubereitet wird. Mir läuft immer mehr das Wasser im Munde zusammen. Wir bestellen zwei Portionen, werden aber kurz darauf von der aus der Küche übermittelten Meldung schockiert, dass das Gulasch für heute aus sei. Es ist auch schon 14:30 Uhr. Wir waren zu langsam. Dann nehmen wir eben eine Suppe.
Während wir auf unsere Suppe warten, kann ich endlich ein paar Worte loswerden über die Gegend, durch die wir gewandert sind: das Szeklerland. Als Teil Transsilvaniens/Siebenbürgens und damit Rumäniens ist es mehrheitlich von ungarischsprachigen Szeklern besiedelt. Das Gebiet gehörte immer mal wieder zu Österreich-Ungarn, zu Rumänien, zu Ungarn, wieder zu Rumänien und so weiter. Ich könnte hier ewig weiterpolitisieren, aber zur Erleichterung der Leser wird gerade ein Topf Suppe auf den Tisch gestellt. Dafür sind wir also 30 km gewandert und werden 30 km zurück wandern: einen Topf Suppe. Und dann vergessen wir auch noch, ein Foto davon zu machen. Aber gut war sie, die Suppe!
Bei der Diskussion über den einzuschlagenden Rückweg bilden sich zwei Fraktionen: Ich bin für querfeldein, Yaniv will der Straße folgen. Wahrscheinlich hat er Angst vor Bären oder zumindest vor der Kombination von hereinbrechender Dunkelheit und Bären. Bei Patt gilt die Regel „auf Nummer sicher“, also gebe ich nach. Besonders befahren sind die Straßen hier sowieso nicht, es wird also keinen großen Unterschied machen.
Das ist übrigens die Szeklerflagge mit Sonne und Mond (der Weltraumpionier Hermann Oberth stammt aus Siebenbürgen, was aber absolut nichts miteinander zu tun hat),
und das ist der übertrieben nationalistische rumänische Nachbar, der selbst den Leiterwagen und den Hühnerstall trikoloriert hat.
So provozieren sich die Leute gegenseitig, aufgestachelt von Reden über Geschichte, Nation, Flaggen, Sprachen und Hymnen, und darben doch alle gleichermaßen unter Arbeitslosigkeit, schlechter Infrastruktur und der Vernachlässigung des ländlichen Raums, um die sich zu kümmern sie vor lauter Nationalismus keine Zeit finden. (Zugegebenermaßen entsprechen in beiden Volksgruppen die meisten Menschen überhaupt nicht dieser Beschreibung, sondern sind sehr freundlich und sprechen oft beide Sprachen.)
Noch mehr darben jedoch die, die gar keine Flagge oder Hymne haben: die Roma. Meine Leser in Salzburg oder Schwabing werden schon angesichts der in den oben photographisch wiedergegebenen dörflichen Idyllen nicht zu verbergenden Armut zusammengezuckt sein. Das waren jedoch noch die wohlhabenden Dörfer. Bei den Roma, vernachlässigt vom Staat, ignoriert bis verachtet von den Mitmenschen (und hier sind sich Rumänen und Szekler/Ungarn wieder einig), sieht es noch ärger aus. Ich muss den Lesern die schlimmsten Anblicke vorenthalten, weil sich vor den Häusern überall materiell arme aber kinderreiche Familien tummelten, die ich nicht ohne vorheriges Gespräch (für das uns Zeit und Sprachkenntnis fehlten) ablichten wollte.
Ja, so – und noch viel schlimmer – leben Menschen im Jahr 2015 in der Europäischen Union. Aber die Milliarden fließen zu den steuerverweigernden Zweitwohnungsbesitzern in Griechenland. Geholfen wird eben nicht da, wo Hilfe am nötigsten ist, sondern wo am lautesten gejammert wird. Und Jammern ist nicht die Sache der Osteuropäer.
Jammern ist auch nicht unsere Sache, während wie Kilometer für Kilometer weitertrotten.
Die letzte richtige Pause machen wir oberhalb des Dorfes Maiad. Nach ca. 45 km Wanderung sind wir noch immer gut gelaunt und frohen Mutes. Es ist erstaunlich, was so ein Tag in der Natur mit dem Gemüt macht. Probiert es aus, Leute!
Jetzt bleiben uns noch zweieinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang. Immer öfter müssen wir stehenbleiben, weil meinem Kollegen die Puste ausgeht. Immer wieder dränge ich zur Eile, weil die Sonne nur für uns Landstreicher keine Extraschicht einlegen wird. Noch 15 km. „Wenn ich mal in Deinem Alter bin, will ich so fit sein wie Du“ gibt Yaniv schließlich zu. Ich bin 39. Er ist gerade 24 Jahre alt geworden.
Tatsächlich wird es auf den letzten Kilometern zuerst düster und dann dunkel, gerade als wir die Stadtgrenze von Târgu Mureș erreichen.
Ich bin überrascht, wie relativ leicht uns die 60 km gefallen sind und wie schnell wir streckenweise vorangekommen sind. Meine Beine sind ein bißchen müde, aber ich bin noch nicht wirklich erschöpft. Wir sind beide voll vom Wanderfieber gepackt und sprechen schon darüber, demnächst nach Sighișoara (Schäßburg) oder Cluj-Napoca (Klausenburg) zu laufen. Als wir uns an der Bushaltestelle verabschieden, habe ich keine Geduld, auf den Bus zu warten. Ich jogge die restlichen 5 km nach Hause.
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Hey, das ist mal ein cooler Bericht aus einer Gegend, dir man in Westeuropa nicht unbedingt auf dem Zettel hat. Habe ich gerne gelesen, danke 😄
Vielen Dank!
Es kommen demnächst noch mehr Berichte aus Rumänien sowie aus dem Balkan. Ich finde es schade, wie vernachlässigt diese Regionen sind. Sie sind landschaftlich reizvoll, historisch interessant und voller netter, freundlicher, hilfsbereiter Menschen.
Und sehr günstig ist es auch.
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