Durchschnittlich wird man in Bolivien zweimal pro Woche von einer Marschkapelle geweckt und mindestens einmal in der Woche von einer Marschkapelle und einem Feuerwerk am Einschlafen gehindert. Das ist mir grundsätzlich ganz sympathisch und immer noch besser als die Gesänge der Siebentagesadventisten ab Freitagabend oder die Musik meiner Mitbewohner.
Diesen Mittwoch erwartete ich mangels nationalem, religiösem oder internationalem Feiertag nichts Besonderes, aber in Potosí war zufällig gerade das Jubiläum eines örtlichen Gymnasiums. Schüler- und Lehrerräte hatten wochenlang darüber gebrütet, wie man dieses Jahr feiern wolle und hatten schließlich die kreative Idee: mit Marschmusik und Feuerwerk!
Eine Schule feiert nicht gern allein, so dass auch alle anderen Schulen Potosís eingeladen wurden, eine Marschkapelle zur Verfügung zu stellen, mit denen man gemeinsam mindestens 12 Stunden lang musizierend durch die Stadt ziehen wollte, wobei keine Straße auszulassen war. Kein Wunder, dass sich die Menschen in den Schächten der Minen verstecken.
Ich selbst beendete, als die ersten Trommelwirbel ertönten, schnell mein Abendessen und stürmte hinaus, um das Spektakel für Euch zu filmen. Seht selbst und achtet auf die Schuluniform, die übertrieben zackigen Bewegungen, die Insignien auf den Bannern und den Namen des Gymnasiums.
So, und jetzt mal ehrlich: Wer, zumindest welcher geschichtsbewusste deutsche Leser, fühlt sich hier nicht ein klein wenig an SS-Umzüge erinnert?

Passenderweise alles in schwarz, mit schwarzen Bannern mit deutschen Adlern. (Bolivien hat keinen Adler, sondern den Kondor im Wappen.) Mit der Losung „Ehre – Disziplin – Arbeit“. Der Name der Schule: Marschall-Otto-Braun-Gymnasium. Und das in einer Kleinstadt auf 4.000 Metern Höhe in den Kordilleren. Das weckte meine Neugier!

Da ich aus Erfahrung wusste, dass der Umzug noch stundenlang so weitergehen würde, spazierte ich also in die örtliche Bibliothek und stellte fest, dass mein Geschichtsbewusstsein zeitlich wie geographisch doch arg begrenzt ist. Otto Philipp Braun, in Bolivien genannt Otto Felipe Braun, kam zwar aus Deutschland, hatte aber wirklich nichts mit der SS zu tun. Vielmehr war er 1818 als Zwanzigjähriger zuerst in die USA, dann in die Karibik und weiter nach Südamerika ausgewandert. Von einem Job als Pferdehändler schaffte er es irgendwie zum Kavallerieoffizier in der Armee Simón Bolívars (übrigens bei Weitem nicht als einziger Deutscher oder Europäer). In den Befreiungskriegen gegen die Spanier tat er sich von Schlacht zu Schlacht mehr hervor, wurde befördert und nach dem Krieg Gouverneur von La Paz, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und schließlich Kriegsminister in Bolivien.
Steile Karrieren von Einwanderern sind also nicht nur in Nordamerika möglich. Aber wieso kennen wir in Deutschland diese Geschichten nicht?
Da Marschall Braun 1869 verstarb, hatte er nicht einmal etwas mit dem Deutschen Reich zu tun, das zu seinen Lebzeiten noch nicht bestand. Warum also der deutsche Adler und die schwarzen SS-Uniformen? Man kann sich vorstellen, wie das ablief. „Hey, wir sind doch irgendwie eine deutsche Schule. Was sollen wir anziehen?“ „Lederhosen!“ „Zu kalt in Potosí.“ „Hmm, ich gehe mal in die Videothek und hole ein paar Filme über Deutschland.“ Tja, und das waren dann Schindlers Liste und Operation Valkyrie. So bleibt das Deutschlandbild weiterhin bei 1945 stecken.
Der Musikmeister war etwas moderner als der Kostümschneider, so dass eine eigenartige Dissonanz zwischen Repertoire und Aussehen enstand. Eine Marschkapelle in SS-Uniformen spielt „They don’t care about us“ von Michael Jackson.
Aber es wurde noch bizarrer. Eine Rauchgranate wurde gezündet, der Vortänzer wirbelte im grünen Rauch mit seinem Stöckchen, und dann glitt es vollkommen in eine kitschige Las-Vegas-Revue ab.
Jetzt war mir klar, was wirklich als Vorbild gedient hatte: „Springtime for Hitler“ aus dem Film The Producers. Unsicher bin ich mir aber, ob die Parodie beabsichtigt war. Auf der Suche nach weiteren Fotos von dieser Schulband stellte sich heraus, dass die SS-Uniformen relativ neu sind. Vor drei Jahren trat die Marschkapelle des Marschall-Otto-Braun-Gymnasiums in Bolivien noch mit Pickelhauben auf. (Ab Minute 4:40 gibt es sogar simuliertes Maschinengewehrfeuer.)
Wenn also mal bolivianische Schüler zum Austausch nach Deutschland kommen, nehmt Euch bitte Zeit, um die seit 1945 gemachten Fortschritte zu erklären. Und erklärt ihnen behutsam, dass sie nicht mit diesen Uniformen am Flughafen ankommen sollten.
Wer mag da noch bestreiten, dass Reisen bildet?
Links:
- Es gibt noch viel mehr Verbindungen zwischen Bolivien und Deutschland, von Flüchtlingen und Exilanten bis zu Präsidenten.
- Und einige noch nicht geklärte Verbindungen.
- Leider gibt es in Bolivien noch mehr SS-Freunde.
Blogs lesen auch, Danke dafür.
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Au weia!
Genau das dachte ich mir auch! Normalerweise genieße/beobachte ich nur und fotografiere/filme nicht so viel, aber an jenem Abend dachte ich mir „hoffentlich hält die Batterie, denn das glaubt mir niemand“.
Und als dann am Ende der grüne Rauch kam, konnte ich mein Lachen kaum mehr unterdrücken. Aber die Menge war ernsthaft begeistert.
Das klingt so nach Mel Brooks ..or Monty Python. Trotzdem irgendwie schauerlich. Besonders weil der ganze Ranz ringsum als politisch als haltbar wieder hoch gewürgt wird. Hier in den USA jedenfalls.
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Der Stechschritt ist beeindruckend und hat schon fast etwas von Cancan. 😀
Haha!
In Südamerika ist einfach alles eine Form des Synkretismus, von der Religion bis zur Schulabschlussfeier.
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