Vor kurzem habe ich etwas über die versuchte Einflussnahme der Nazis in Bolivien geschrieben. Aber auch einige deutsche Sozialdemokraten verschlug es im Exil bis in den Andenstaat.
Unter dem Titel „Bolivien als Vorbild“ erschien in der Zeitschrift Sozialdemokrat im Herbst 1942 dieser Artikel:
Was die deutsche sozialdemokratische Emigration leisten könnte, wenn ihre Gastländer für ihre politischen und moralischen Qualitäten Verständnis hätten, beweist die südamerikanische Republik Bolivien. Unter den freien Europäern, die dort eingewandert sind, befindet sich auch Genosse Ernst Schumacher, bis 1933 Sekretär des niederrheinischen Bezirkes in Düsseldorf. Der politische Tatendrang dieses Mannes fand auch in Bolivien ein fruchtbares Betätigungsfeld. Vor drei Jahren gründete er in La Paz ein antifaschistisches deutsches Wochenblatt, die ‚Rundschau vom Illimani‘.
Diese Wochenzeitung erschien von Januar 1939 bis Juli 1946 in 350 Ausgaben. Im Internet habe ich leider keine Fotos finden können, aber in zwei Wochen bin ich wieder in La Paz. Wenn ich Zeit habe, werde ich dort mal in den Archiven stöbern.

Der namensstiftende Berg Illimani im Hintergrund.
Die Agenten der Achsenmächte versuchten natürlich auch, Bolivien zu durchsetzen und zu durchdringen. Sie hatten aber die Rechnung ohne Schumacher und die eingewanderten freien Deutschen gemacht. Diese kannten bereits alle Schliche der Söldlinge Hitlers und Mussolinis und stellten ihre Kenntnisse der bolivianischen Regierung freiwillig und selbstlos zur Verfügung. Nach dem Kriegseintritt Amerikas wurden die Achsen-Nester in Bolivien ausgeräuchert, ausgehoben und vernichtet. Der bolivianischen Staatspolizei verblieb nur die Durchführung. Die Vorbereitung besorgten die deutschen Antifaschisten mit gewohnter Gründlichkeit und mit einem Pflichteifer, der durch das süsse Gefühl einer Revanche für die Gestapo-Schweinereien in Europa noch gesteigert wurde. Wie es gemacht wurde, wird nach dem Kriege einen spannenden Roman füllen.
Schon während des Kampfes an die literarische Verarbeitung des Erlebten zu denken, ist sehr sympathisch. Leider ist mir kein solcher Roman bekannt. Vielleicht hatten die Protagonisten nach dem Zweiten Welt- und dem beginnenden Kalten Krieg anderes zu tun. Schade. Jetzt dürften die meisten Zeitzeugen tot sein.
Die ‚Rundschau vom Illimani‘ feierte im Juli 1942 das Fest ihres dreijährigen überaus erfolgreichen Kampfes. Ernst Schumacher hatte die Genugtuung, in zwei Jubiläumsnummern Glückwunsch-Botschaften des bolivianischen Staatspräsidenten, des Innenministers, des Verteidigungsministers, des Chefs des Generalstabes, der Botschafter der Vereinigten Staaten und Grossbritanniens sowie des Konsuls der Niederlande abdrucken zu können.
Überhaupt scheint in La Paz ein besseres politisches Klima zu herrschen, wie z.B. – in London. Es gibt dort eine Gemeinde der ‚Freien Europäer‘. In der ‚Rundschau‘ vom 13. Juli sehen wir auf einem Bild ‚Freie Österreicher‘, ‚Freie Tschechoslowaken‘, ‚Freie Ungarn‘ und ‚Freie Deutsche‘ gemeinsam mit dem Botschafter der USA, Mr. Pierre de Boal, photographiert.
Ernst Schumacher entwarf in einer Versammlung Gleichgesinnter auch ein umfassendes Programm über ‚Das freie Deutschland in einem freien Europa‘. Seine Vorschläge gipfelten in der Befürwortung eines ‚Bundes der Vereinigten Staaten von Europa‘, Schaffung einer europäischen Miliz und eines gemeinsamen europäischen Verteidigungsrates.
Sehr vorausschauend.
Daran, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verlieren würde, bestand bei diesen Exilanten schon 1942 (immerhin vor der Schlacht in Stalingrad und den allierten Landungen auf Sizilien und in der Normandie) anscheinend kein Zweifel mehr.
Wir beglückwünschen den Genossen Schumacher zu seiner erfolgreichen Aktivität. Es gibt im Herzen Südamerikas ein Beispiel, was deutsche Sozialdemokraten für die Sache der Freiheit zu leisten vermögen, wenn sie wieder den Boden einer politischen Möglichkeit unter den Füssen haben und ein wenig durch das Verständnis anderer Völker ermutigt werden.
Dazu der Kommentar aus den Sozialistischen Mitteilungen – News for German Socialists in England, Ausgabe November 1942:
Ergänzend möchten wir hinzufügen, dass nach den bei uns eingegangenen Berichten die in Bolivien gebildete ‚Vereinigung Freier Deutscher‘ einen guten Fortschritt macht. Auch in Santa Cruz, Cochabamba, Oruro, Sucre und Potosi sind Ortsgruppen gegründet worden. […] Mit Hilfe der Sozialdemokratischen Flüchtlingshilfe fanden fast 200 deutsche Sozialdemokraten in Bolivien ein zweites Gastland ihrer Emigration.
Die deutschen und österreichischen Flüchtlinge/Emigranten stellten damals tatsächlich einen großen Teil der Ausländer in Bolivien. Nach 1945 kamen dann noch die fliehenden Nazis dazu.
Wer mehr über die deutschen und österreichischen Exilanten im Bolivien jener Zeit lesen will, kann hier leicht einige Stunden verbringen. Zu empfehlen ist zudem das Buch Hotel Bolivia von Leo Spitzer.
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Interview mit dem deutsch-bolivianischen Verleger Werner Guttentag.
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