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Wenn die Dinge, das Geld, die Weltlichkeit im Mittelpunkt unseres Lebens stehen, dann ergreifen sie Besitz von uns, und wir verlieren unsere menschliche Identität.
Papst Franziskus, 29. September 2013
Diese neue Linie der Katholischen Kirche, die mit der Tradition des Ablasshandels bricht und die nicht mehr Wasser predigt während sie Wein trinkt, scheint in Bolivien noch nicht angekommen zu sein. Denn an einem normalen Freitagnachmittag bildet sich eine Schlange aus Hunderten von Autos, Kleinbussen und Lastwagen vor der Kathedrale in Copacabana. Sie sind alle hübsch geschmückt mit farbigen Bändern, kitschigem Flitter und Tand, und einige von ihnen tragen den andentypischen Hut.


“Das ist aber eine Riesenhochzeit”, mögt Ihr denken, aber dem ist nicht so. Die Autos fahren vor, um gesegnet zu werden. Die genaue Prozedur, wie sie schon in Psalm 68:18 beschrieben ist, läuft wie folgt ab: Man wartet, bis die Kraftfahrzeuge vor einem abgefertigt wurden, und fährt dann auf den Platz vor der Kathedrale.

Dort öffnet man die Motorhaube, schmückt sie mit Girlanden, Konfetti, Blumen, Geldbörsen, Ikonen, Statuen der Jungfrau Maria und kleinen Plastikautos. Ich habe nicht ganz verstanden, ob man dabei ein Modell des eigenen Autos verwendet oder ein Modell des größeren Autos, das man als nächstes begehrt.

Bis jetzt habt Ihr Euch vielleicht gedacht: “Diese Menschen verkennen die wahre Botschaft Jesu Christi. Sie legen die Bibel falsch aus. Das hat doch alles nichts mit der Katholischen Kirche zu tun.“
Falsch.
Denn dann kommt der Pfarrer. Die Pfarrer – es sind mehrere, weil sie es ja mit einem ganzen Konvoi an christlichen Kraftfahrern zu tun haben – tolerieren dieses Spektakel nicht nur stillschweigend, sondern sie verbeugen sich vor der offenen Motorhaube, bekreuzigen sich wie wenn sie vor einem Altar stünden, spritzen Wasser darüber (Christen glauben, dass Wasser heilig sein kann), sprechen ein paar Gebete und umkreisen das Auto, wobei sie Wasser in alle Türen und den Kofferraum verspritzen.
Dann posieren sie für ein Foto mit der glücklichen Familie.

Jetzt öffnet der Besitzer des Autos eine Flasche Bier oder etwas anderes Alkoholisches, geht einmal um sein Auto und versprüht dabei den Alkohol wie es der Priester mit dem Weihwasser getan hat. Dann, schließlich sind wir in Südamerika, wo Lärm als eine gute Sache gilt, werden die Knallkörper gezündet.

Da ich dieses Ritual in Copacabana schon einmal gesehen hatte, ebenfalls an einem Freitag, fragte ich beim Mittagessen, ob das jede Woche stattfände. “Nein”, rief der Gastwirt aus, wie wenn meine Frage eine Beleidigung der örtlichen Hingabe in Glaubensfragen gewesen wäre, “jeden Tag! Von 11 bis 14 Uhr.” Freitag scheint nur der beliebteste Tag zu sein, denn die meisten Autos stammten aus dem benachbarten Peru. Die gläubigen Familien kommen gerne für die christliche Wallfahrt und verbringen dann das Wochenende am Titicaca-See. Dort sah ich lustigerweise viele Familien, die einen Inka-Priester anheuerten, der eine zweite Zeremonie an dem bereits getauften Auto durchführte, bei der er Holzkohle und Koka-Blätter verbrannte, sang und tanzte und natürlich eine weitere Flasche Alkohol über das Auto vergoss.
Ein paar hundert Meter weiter offerierten Autowäscher ihre Dienste im Titicaca-See. Dieser See hat wahrscheinlich als einziger See der Welt einen höheren Alkohol- als Salzgehalt. Die Forellen schmecken hier besonders gut.
Möglicherweise kommt Euch das alles ziemlich materialistisch vor. Aber die Katholische Kirche in Südamerika hatte schon immer ein Herz für die Armen (Befreiungstheologie). Deshalb gibt es auch eine Option für autolose Christen. Um diese zu entdecken, müsst Ihr mit mir aber den Berg auf der Linken erklimmen.

Da sich an diesem Ort alles um Jesus dreht, heißt der Berg Kalvarienberg und der Weg zum Gipel ist ein Kreuzweg. Es geht ziemlich steil bergauf, und wegen der Höhe (der Gipfel liegt auf 3.973 m – vielleicht der höchste Kreuzweg der Welt) ist man wirklich gezwungen, an jeder Station Halt zu machen und zu beten Atem zu holen, wobei man den Blick auf Copacabana und später auf den Titicaca-See genießen kann.

Auf halbem Weg erwartet einen diese Jesusstatue mit einer geöffneten Tür.

Für den Fall dass man es nicht selbst kapiert, ist eine hilfreiche Tafel angebracht, die erklärt, dass man hier seine Spenden hinterlassen sollte. Wie jeder aus dem Bibelunterricht weiß, funktioniert es so: Man hinterläßt ein bisschen Geld, betet, und dann schicken Dir Herr Jesus, Herr Gott oder Herr Ponzi (die heilige Dreifaltigkeit) mehr Geld. Das Schild schlägt hilfreicherweise vor, dass man für „Autos, Häuser und Dollar“ beten kann, was besonders komisch ist, weil der Dollar eigentlich nicht die gängige Währung in Bolivien ist. Dieser Herr Jesus ist anscheinend ziemlich wählerisch.

Gleich hinter dem „Heiligen Herz Jesu“ bieten etliche Aymara-Priester ihre Dienste an und kombinieren ganz unproblematisch christliche mit Inka-Symbolen.


An dieser Stelle ist man besser beraten, einfach die Aussicht zu genießen. Eine Wanderung entlang dieser Küste ist einem anderen Artikel vorbehalten, der – so Gott will – erscheint, wenn Ihr genug betet und zahlt.

Von dem Wunsch beseelt, göttliche Erlösung zu erhalten, setze ich den Aufstieg fort. Auf dem Gipfel werde ich belohnt mit einem Potpourri an Kreuzen, Kerzen und Menschen in lustigen Kostümen, die für Fotos posieren.





Aber jetzt zum wichtigsten Teil. Schließlich pilgert man nicht den ganzen Weg für nichts. Als richtiger Christ will man belohnt werden! Ihr wollt ein Auto, ein Haus, vielleicht ein größeres Haus oder gar einen ganzen Wohnblock. Und viele Dollars natürlich. Um diese gesegneten Wünsche zu erreichen, könnt Ihr Miniaturmodelle von dem erwerben, was Ihr Euch wünscht. Dann kauft Ihr ein paar Kerzen, zündet sie an, hinterlasst das Ganze auf einem der Altäre, und – schwuppdiwupp – werdet Ihr Autos, Häuser und noch mehr Dollars erhalten. Es funktioniert wirklich! Nur das kann den beständigen Wirtschaftsboom in Bolivien erklären.





Die Koffer sind für diejenigen, die reisen wollen, aber meinen Artikel darüber, wie man auch ohne viel Geld um die Welt reisen kann, nicht gelesen haben.

Am lustigsten fand ich, dass man auch Universitätsabschlüsse, Gesundheitszeugnisse, Führerscheine und sogar einen bolivianischen Pass kaufen kann. Letzteres hätte ich vielleicht versuchen sollen, um meine Visumsprobleme zu umgehen.

Was hier in Südamerika geschah, ist, dass die Katholische Kirche die schon bestehende Idee von Menschen- und Tieropfern übernahm. Aber da sie mit all den Lamas und Jungfrauen nichts anfangen konnte (woher hätten die Inkas wissen sollen, dass katholische Priester mehr auf kleine Jungs stehen?), nimmt sie stattdessen gerne bares Geld.
– – –
Falls die subtile Nachricht nicht angekommen ist:
Die meisten meiner Leser leben in Ländern, die Ihr als überwiegend christlich geprägt bezeichnen würdet. Wenn Ihr dann lest, dass angeblich 90% der Bolivianer Christen sind, denkt Ihr, etwas über das Land zu wissen. In Wirklichkeit weiß man nichts, wenn man nicht das Haus verläßt und sich die Welt ansieht. (Oder diesen Blog liest.)
Wenn selbst Begriffe wie „christlich“ oder „katholisch“, mit denen Ihr aufgewachsen seid und die Ihr zu glauben kennt, schon im nächsten Land ganz anders interpretiert werden, stellt Euch vor, wie falsch Ihr mit Euren Vorurteilen über Juden, Muslime und Hindus liegt.
Links:
- Weitere Berichte aus Bolivien.
- Und noch mehr Theologie. Das ist lustiger, als es sich anhört.
Pingback: Where God takes Cash | The Happy Hermit
Danke für den Artikel. Daß das Prosperity-Gospel auch nen katholischen Ableger hat, war mir bisher nicht geläufig – den ganzen Ablaß-Zauber hielt ich eher für seit Jahrhunderten erledigt, zumindest in den krassesten Auswüchsen.
Danke auch für die Schlußsätze, die dem Artikel noch mal nen schönen selbstkritischen Twist verleihen. Ich hatte schon die Befürchtung, das bleibt im Religionsbashing stecken.
Danke!
Ich habe mich auch gefragt, wie sehr die katholische Kirche damit auf die Prosperity-Evangelikalen reagiert, so wie es in Brasilien die „Charismatischen Katholiken“ gibt, die auch singen und tanzen, um mit der freikirchlichen Konkurrenz mitzuhalten.
Ich selbst bin Atheist, und ein gewisses Unverständnis gegenüber allem Religiösem kann ich nicht verhehlen, aber andererseits interssiert mich Religion als ein kultureller und soziologischer Faktor, insbesondere in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in verschiedenen Teilen der Welt. Wichtig ist mir v.a. die Differenzierung. Wenn man mal in Albanien und im Iran war, und die Länder vergleicht, kann man einfach nicht mehr von „dem Islam“ sprechen.
Mir scheint auch, dass wir vieles als Religion bezeichnen und betrachten, was in Wirklichkeit eher Brauchtum oder Aberglaube ist. Dass Leute sich ein kleines Häuschen kaufen, wenn sie sich ein wirkliches Haus wünschen, würde auch ohne Gott/Götter funktionieren, so wie manche Menschen lieber am 12. als am 13. Tag eines Monats ein Bewerbungsgespräch absolvieren.
Meine Vermutung wäre, daß das eine Parallelentwicklung zum Prosperity Gospel ist – und beides eine Ausdrucksform der Volksreligion (also weitgehend Brauchtum/Aberglaube). Ich kann mir nicht vorstellen, daß solche Riten an den theologischen Fakultäten in Lateinamerika gelehrt werden, ich vermute, das sind lokale Bräuche, die katholisch umgedeutet wurden. Du machst ja auch Andeutungen dahingehend, daß die Aymara Priester ebenfalls mit Alkoholika hantieren, wie die Bevölkerung, die katholischen Priester dagegen Weihwasser benutzen
Als Protestant (und angehender Pfarrer) lauf ich bei solchen Berichten immer Gefahr, ins Werten abzugleiten, was ich eigentlich nicht will. Irgendwie muß ich es zusammenbringen, daß das auch Christen sind und sie Dinge tun, die für mich schwer mit dem Evangelium in Einklang zu bringen sind. Da wird dann auch die Sprengkraft der Reformation deutlich, die sich dem 08/15 Mitteleuropäer so nicht mehr erschließt, weil sich hier Protestanten und Katholiken sehr weit angenähert haben…
Auch von daher ein spannender Artikel!
In diesem Zusammenhang eine lustige Beobachtung, die ich erst gestern gemacht habe: An der Kathedrale in La Paz, Bolivien, prangt zur Zeit ein Poster mit dem Bild von Fidel Castro, angebracht vom bischöflichen Museum. Ich werde die nächsten Tage mal ein Foto davon machen.
Ein anderes Beispiel des Synkretismus habe ich auf der Osterinsel gesehen: Dort gab/gibt es den polynesischen Glauben an den Vogelmann. Also hat die Jesussstatue in der katholischen Kirche einen Vogel auf dem Kopf, genauso wie eben der Vogelmann dargestellt wurde. Und der Neubau der Kirche wird in Schildkrötenform erfolgen! Der Kopf der Schildkröte ist der Altarraum, und die vier Füße sind die Eingänge. Ich werde demnächst mal Fotos davon veröffentlichen.
Was mich immer wieder verwundert: In Südamerika verwenden die meisten Leute die Worte „catolicos“ und „cristianos“ als sich gegenseitig ausschließende Begriffe. Da sagen mir Leute tatsächlich: „Mein Bruder war früher katholisch, aber jetzt ist er Christ“ und meinen damit alles von Protestanten bis Siebentagesadventisten. Da ich „cristianos“ als Sammelbegriff für alles, inklusive Katholiken, verwende, führt das immer wieder zu Verwirrungen.
Mit der Reformation und der Annäherung von evangelisch und katholisch in Mitteleuropa gebe ich Dir Recht! In Südamerika vermisse ich den aufgeklärten Protestantismus, mit dessen Vertretern auch ich als Atheist sehr gut reden kann.
Hier begegne ich noch viel zu oft Menschen, die glauben ich sei ein Bote des Teufels. Ich hatte schon Dates mit Frauen, die mich, nachdem ich mich als Atheist geoutet hatte, nicht mehr sehen wollten und mich sicherheitshalber auch gleich bei Facebook blockiert haben.
Ich bemerke auch, dass ich meinen Atheismus in Südamerika stärker offenbare, wie als Protest gegen die teilweise übertriebene Religiosität, die hier teilweise gefährliche Züge annimmt, z.B. wenn Busfahrer sich vor dem Überholen in kurvigen Bergstraßen bekreuzigen anstatt das Ende der Kurve abzuwarten oder wenn Studenten nicht für die Prüfung lernen, sondern zu irgendeiner lokalen Jungfrau beten.
Ich kenne diese Redeweise von radikalen Evangelikalen. Dort werden Katholiken wegen der Heiligenverehrung etc nicht als Christen anerkannt. Mir ist ein Beispiel im Kopf, ich glaube es war ein Text von Open Doors oder Wycliff, da ging es um Menschen, die endlich nach langen Wirren zum Christentum gekommen seien, und wenn man den Artikel zu Ende las wurde klar: Bevor sie „Christen“ wurden, waren sie äthiopisch orthodox. Als ob das keine Christen wären. Die gleichen Leute würden aber, wenn opportun, behaupten, Bob Marley zum Beispiel sei kurz vor seinem Tod vom Rastafari Glauben zum Christentum konvertiert. Stimmt, nur konvertierte er eben zur äthiopisch orthodoxen Kirche…
In der Logik gibt es glaub ich auch keinen Begriff, der Katholiken und Protestanten zusammenfassen würde, weil was haben die gemein? Die Katholiken sind da ja Heiden und Götzendiener…
Deine Schilderung über das Atheistsein in Südamerika erinnert mich ein wenig an die Zeit, als ich entschied, auf Theologie umzuschwenken. Vorher studierte ich was Technisches in Potsdam, also weitgehend entchristlichtes Gebiet. Dementsprechend stand vielen Leuten, denen ich von meiner Entscheidung erzählte, das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. So krasse Reaktionen wie Du bekam ich allerdings bei weitem nicht.
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