Wie geht Bolivien mit illegalen Einwanderern um?

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Bei der Ankunft in Bolivien war die Ankunftshalle des Flughafens in Cochabamba so voll, dass die Polizisten riefen „Wer ist von hier?“, und wer die Hand und seinen Pass hob, konnte ohne Kontrolle durchmarschieren. Ich hätte mich jener Menge anschließen sollen, aber damals traute ich mir noch nicht zu, als Bolivianer durchzugehen.

Also erhielt ich am Flughafen ein einmonatiges Touristenvisum. Kostenlos. Das konnte durch einen Besuch bei der Ausländerbehörde zweimal um je einen Monat verlängert werden. Meine bolivianischen Freunde rieten mir, ein paar Bücher und eine Flasche Wasser mit- und den Tag freizunehmen, da ich mindestens einige Stunden warten werden müsse. In Wirklichkeit geht man direkt zu dem freundlichen Mann am Schalter Nr. 6, und bevor man sich hinsetzen und seinen Wunsch nach einem weiteren Monat Aufenthalt zum Ausdruck bringen kann, hat er schon den Pass genommen und die Verlängerung hineingestempelt. „Wieviel kostet das?“ fragte ich. „Nichts. Genießen Sie Ihre Zeit in Bolivien.“

visa extension Bolivia.JPG

Drei Monate pro Jahr sind allerdings das Maximum, was ein Touristenvisum hergibt. Als ich länger in Bolivien bleiben wollte, wurde ich überwältigt mit Angeboten für Arbeitsverträge, Freiwilligenstellen und mit Heiratsanträgen, um mir eine Aufenthaltserlaubnis zu besorgen. Es war auch überraschend, wieviele Leute behaupten konnten „der Chef der Ausländerbehörde ist mein Freund“ oder wieviele Menschen „eine Schwägerin an der Spitze des Innenministeriums“ hatten.

Aber ich wollte nichts Zwielichtiges tun. Außerdem war ich schon freudig erregt von der Aussicht, verhaftet zu werden und mir die berühmten Gefängnisse Boliviens aus der Nähe anzusehen. Das klappte nicht. Einmal, als mein Visum schon ausgelaufen war, geriet ich in eine Polizeikontrolle und hoffte schon, dass ich in einem vergitterten Minibus abtransportiert werden würde. Der Beamte untersuchte meinen Pass sorgfältig, sah mich an, sah sorgenvoll auf das Visum, sah mich wieder an und gab mir den Pass mit den Worten „schön, dass Ihnen Bolivien so gut gefällt, Señor“ zurück.

Ich blieb vier weitere Monate. Illegal. Von nun an denkt bitte daran, dass es Menschen wie ich sind, von denen Ihr sprecht, wenn Ihr mal wieder über „illegale Einwanderer“ herzieht.

Bolivien ist nicht nur freundlich zu Besuchern, sondern auch schlau. Anstatt Einwanderer einzusperren, Stacheldrahtzäune zu errichten oder Menschen abzuschieben, was alles Unmengen an Geld kostet, erhebt Bolivien einfach eine Geldstrafe.

Also arbeitete ich einige Monate fast rund um die Uhr, bis ich Tausende von Bolivianos angespart hatte. Diese in der Tasche ging ich zur Ausländerbehörde in La Paz, um meine Strafe zu bezahlen. Der Beamte dort war sehr freundlich, erklärte, dass das Büro für den Tag schon geschlossen habe, aber dass ich dennoch hereinkommen könne, beruhigte mich, dass ich mich keineswegs dafür entschuldigen müsse, über die erlaubte Zeit im Land geblieben zu sein, und machte sich dann an die Berechnung der fälligen Strafe. Bis dahin hatte ich überall verschiedene Zahlen gehört, von 20 bis 26 Bolivianos pro Tag.

money to pay multa.JPG

Der Beamte nahm sich die Zeit und die Hilfe mehrerer Kollegen, um im Detail zu erklären, wie sich die Strafe berechnet. Um das zugunsten anderer Reisender ein für alle Mal klarzustellen: die Strafe beträgt 12 UFV pro Tag. Ein UFV ist eine unidad de fomento de la vivienda, eine Rechnungseinheit, die eingeführt wurde, um die zu zahlenden Beträge inflationsaunabhängig zu machen. Sie wird berechnet indem man den Verbraucherpreisindex des gegenwärtigen Monats durch den Verbraucherpreisindex des gleichen Monats des vorangegangenen Jahres dividiert, von diesem Zwischenergebnis die 12. Wurzel nimmt, dann die n.te Wurzel berechnet, wobei n die Anzahl der Tage des gegenwärtigen Monats ist, und zuletzt multipliziert man dieses Ergebnis mit dem Wert des UFV vom Vortag.

Ich verstand nichts.

Der Beamte hatte einen Computer und einen Taschenrechner, verwendete aber lieber einen Bleistift und eine Menge Papier, um seine Berechnungen anzustellen. Nach etwa 10 Minuten gab er bekannt, dass ich etwas mehr als 3,000 Bolivianos zu bezahlen hätte. Gut, denn das war genau der Betrag, den ich angespart hatte.

Als ich zahlen wollte, sagte er jedoch „Nein, nein, Sie können später bezahlen. An der Grenze, wenn Sie ausreisen.“ Ich hatte den Eindruck, dass er fast so sehr wie ich darauf hoffte, dass ich an der Grenze irgendwie durchschlüpfen und Bolivien ohne diesen enormen finanziellen Beitrag verlassen können würde.

Aber der bolivianische Grenzposten in Kasani, an der Grenze zu Peru, war mit dienstbeflissenen Beamten besetzt, wenn auch nicht ohne Humor. „Warum haben Sie nicht einfach eine Bolivianerin gefunden und geheiratet, wenn Sie so lange bleiben wollen?“ fragten sie mich, bevor sie sich der gleichen und gleich langen Berechnung von UFVs und Bolivianos hingaben. Der Grenzbeamte nützte sein Telefon, um mit seiner Frau zu whatsappen, aber für die Fields-würdige Berechnung bevorzugte auch er Papier und Bleistift.

Er rief seine Kollegen herbei, um ihnen den Ausländer zu zeigen, der sein Visum nicht nur um mehrere Tage sondern um ganze vier Monate überschritten hatte. Sie zeigten großes Interesse an mir und teilten mit, dass ich mit meiner Strafe von 3.082 Bolivianos leider nur die Silbermedaille erhalten würde, denn sie hatten einem anderen Reisenden schon einmal mehr as 4.000 Bolivianos abgeknöpft. Ich war enttäuscht.

Das alles geschieht übrigens streng gemäß dem Legalitätsprinzip. Die Zahlung ist keine Bestechung. Man erhält eine Quittung, viel Händeschütteln, die besten Wünsche für die Reise und den nützlichen Hinweis, dass man im nächsten Jahr wieder ohne Probleme nach Bolivien einreisen darf.

multa

Wie Ihr der Quittung entnehmen könnt, beging ich den „schwerwiegenden Verstoss“, mich „auf irreguläre Weise auf bolivianischem Territorium aufgehalten“ zu haben. Die Strafe dafür betrug 25,68 Bolivianos pro Tag. Das sind 3,34 Euro oder genau 100 Euro pro Monat.

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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14 Antworten zu Wie geht Bolivien mit illegalen Einwanderern um?

  1. Pingback: How does Bolivia deal with illegal immigrants? | The Happy Hermit

  2. Daniel2311 schreibt:

    kurzer Hinweis: Auf dem letzten Bild ist dein Name samt Passnummer zu lesen, was ein beträchtliches Risiko für Identitätsdiebstahl oder anderen Unfug birgt.

    • Andreas Moser schreibt:

      Danke! Daran hatte ich sogar gedacht, aber mir fiel kein Szenario ein, bei dem mir jemand mithilfe meiner Passnummer schaden könnte, zumindest nicht mehr als auch ohne jene Nummer.
      Außerdem liest diesen Blog ja sowieso kaum jemand. 😉

    • DasKleineTeilchen schreibt:

      da du jetzt von stevenson verlinkt wurdest, könnte sich das schnell ändern 😉

      ansonsten; wie abgefahren XD; die bolivianer scheinen einem äusserst angenehm entspanntem pragmatismus zu frönen, danke für den einblick.

    • Andreas Moser schreibt:

      Wer ist Stevenson?

      Du hast Recht. Bolivien war wirklich extrem freundlich und sympathisch. Was mir auch positiv auffiel, war dass trotz angeblich weit verbreiteter Korruption niemals irgendjemand Bestechungsgeld verlangte, um mich ohne die Strafzahlung ausreisen zu lassen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Und mittlerweile habe ich eh einen neuen Pass, weil der alte so dermaßen auseinander fiel, dass er nicht mehr zu gebrauchen war:
      https://andreas-moser.blog/2017/12/17/deutscher-pass/

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