Der Orient-Express in Bolivien

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Langjährige Leser werden es wissen: Mein bevorzugtes Fortbewegungsmittel ist die Eisenbahn.

So war ich ganz begeistert als ich las, dass es in Bolivien einen Orient-Express gibt: den Expreso Oriental von Santa Cruz nach Quijarro an der brasilianischen Grenze. Noch begeisterter war ich, als ich las, dass es die Klasse Super-Pullman gibt. Normalerweise reise ich ja so günstig wie möglich, aber als Eisenbahnfanatiker wollte ich mir diesen einmaligen Luxus leisten.

Ganz langsam schleppt sich die Lok aus dem Bahnhof, so langsam dass man Porträts der Leute malen könnte, die an den Bahnschranken stehen und dem Wunderwerk der Technik nachblicken. Die Landschaft ist nicht besonders spektakulär, sondern besticht eher durch ihre zunehmende Menschenleere. Mal staubig und trocken, mal grün und überwuchert, aber immer glüht die Sonne und es sieht so sengend heiß aus, dass man selbst im klimatisierten Zug den Hut als Sonnenschutz aufbehalten will. Zudem hätte ich gerne einen Schutz gegen den Fernseher, der in meinem Waggon Konzerte mit brasilianischer Popmusik zeigt. Es gibt keine schlimmere Musik auf der Welt. Nach einer Stunde beginnt dann die Filmvorführung: nicht ganz aktuelle Hollywoodfilme mit spanischen Untertiteln, sehr praktisch für Sprachenlernende wie mich. Das Klingeln eines Mobiltelefons wird mit triiin triiin triiin untertitelt, die Turbine eines Düsenflugzeugs mit fuuiiiii!

Ich konzentriere mich lieber auf die Landschaft.

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Zug Sumpf.JPG
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Wir fahren durch die Ausläufer des Gran-Chaco-Nationalparks, einer der letzten großen unberührten Busch- und Trockenwaldregionen der Welt. Auf einer geschützen Fläche von der Größe Nordrhein-Westfalens (und in Deutschland regen sich Landwirte auf, wenn mal 20 Quadratkilometer unter Naturschutz gestellt werden sollen) leben hier Jaguare, Pumas, Tapire, Pekaris, Ozelote und eine Menge mehr Tiere, die man als Europäer ohne Biologiestudium nicht kennt. Vom Zug aus sehe ich nur Graureiher mit Fischen in den Schnäbeln.

Im Nationalpark leben die Izoceño, Chiquitano und Ayorea, aber vom Zug aus erheische ich nur Blicke auf eine andere interessante Volksgruppe: die ursprünglich aus Deutschland ausgewanderten Mennoniten, die allesamt die gleichen Landwirtslatzhosen tragen und noch immer Deutsch sprechen. Allerdings – wie ich ein paar Tage später feststellen werde – Plattdeutsch, das ich so wenig verstehe wie Niederländisch oder Afrikaans. Man bemerkt die gemeinsamen Wurzeln, aber man versteht nicht mehr als 5%. Wenn ich als Deutscher in Bolivien also auf einen großgewachsenen, blonden Mann mit blauen Augen treffe, der Giesbrecht oder Schellenberg heißt, dann radebreche ich mit ihm zur Belustigung der umstehenden Bolivianer auf Spanisch. Und ich erwähne absichtlich nur die Männer, den mit den Mennonitenfrauen und -fräulein ist es unmöglich, ins Gespräch zu kommen. Integrationsweltmeister sind die deutschen Auswanderer in Südamerika nicht gerade.

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Aber darum soll es ein andermal gehen, wenn es mir gelingt, mich in diese Gemeinschaft einzuschleichen. Ihr wolltet schließlich etwas über den famosen Orient-Express hören. Also, die Hinfahrt war ganz schön. Für die Rückfahrt ein paar Tage später wähle ich den Nachtzug, wobei der Begriff „wählen“ eine nicht existierende Auswahlmöglichkeit vorgaukelt. Für die 640 km von Santa Cruz nach Quijarro benötigt der Zug nämlich 17 Stunden (womit die Durchschnittsgeschwindigkeit zwar über der in Rumänien liegt, für eine kerzengerade und ebene Strecke aber ziemlich langsam ist). Da es nur einen Zug gibt, ist es mathematisch zwingend, dass der Zug nicht jeden Tag in jeder Stadt vorbeikommen kann. Rückfahrtmöglichkeiten von San José de Chiquitos nach Santa Cruz bestehen dienstags, donnerstags und am Sonntag, und zwar jeweils um 23:04 Uhr. Ich freue mich auf eine geruhsame, gemütliche Nacht in einem Pullman-Schlafwagen.

Allerdings muss irgendjemand ein essentielles Teil des Zuges entfernt haben. Der Waggon schwankt gleichzeitig stärker von links nach rechts als das Schiff, mit dem ich den Atlantik nach Südamerika überquert hatte, ruckelt vor und zurück, so dass mein Kopf immer wieder gegen den Sitz des Vordermanns prallt, und dazu hebt und senkt sich der Wagen wie bei einem Erdbeben. Und das bei nicht mehr als 30 km/h. Ich zerbreche mir den immer schwerer werdenden Kopf darüber, wie man bei so geringem Tempo auf einer geraden Strecke so ein Geruckel und Gerumpel verursachen kann.

Beim Aufnehmen dieses Videos habe ich mich wirklich bemüht, die Kamera still zu halten:

Und der Lärm! Die Untertiel würden in etwa kkkrrrhhhhccchzz kkkkrrrccchhhzzz gghhhrrrtttt lauten. Die bolivianischen und mennonitischen Passagiere tun übrigens so, wie wenn sie in diesem Weltuntergang auf Schienen schlafen können.

Was tun? Na, zum Glück bin ich ich Orient-Express. Da wird es wohl einen Speisewagen geben, wo ich mir jetzt ein Steak grillen lassen, einen Whiskey trinken und eine Zigarre rauchen kann. Ich mache mich also auf die Suche nach dem Waggon, den ich mir in etwa so vorstelle:

Orientexpress Speisewagen

Zwischen den Waggons gibt es hier diese alten Übergänge mit zwei übereinanderliegenden Metallplatten, allerdings ohne jede Sicherung nach links oder rechts. Weiterhin wackelt der Zug so, dass ich fast unter die Räder komme.

Und tatsächlich, in der Mitte des Zuges finde ich den Speisewagen. Der Anblick ist allerdings ernüchternd für Herz und Magen.

Speisewagen.JPG

Das Restaurant ist leer. Die Bar ist leer. Die Küche ist leer bis auf eine Pastikflasche mit gelbem Geschirrspülmittel. Einen Kühlschrank gibt es nicht. Die Seitentüren machen den Eindruck, wie wenn dies mal der Postwagen war, der notdürftig umgebaut wurde. Ich bleibe ein wenig an der Bar sitzen und warte auf Hercule Poirot, Dr. Constantine oder Prinzessin Dragomiroff. Aber die haben anscheinend alle den Zug verpasst.

Wenn Ihr Euch jetzt fragt, wie man so eine lange Zugfahrt ohne Speis und Trank überleben kann, so sage ich: Keine Bange! Bolivien ist ein Serviceparadies und an das Wohl der Gäste wird immer und überall gedacht. Bei der tagsüber erfolgten Hinfahrt verkaufte ein Mitarbeiter der Bahn im Zug Getränke und Essen. Nachts übernahmen Kinder diese Arbeit, die allerdings keinen Fahrschein hatten und nach ein paar Stationen aus dem Zug geworfen wurden. Ich weiß nicht, ob sie dort zwei Tage auf den nächsten Zug warten oder durch die jaguar- und pumaverseuchten Sümpfe nach Hause gehen. (Im Bahnhof von Santa Cruz hängen circa 60 Plakate mit den Fotos von Vermissten, hauptsächlich von Kindern und Jugendlichen, und das sind nur die, die in den letzten drei Monaten verloren gegangen sind.)

Praktische Hinweise:

  • Nachdem die Hinfahrt einwandfrei verlief, hoffe ich, dass die unruhige Fahrt eine Ausnahme war. Trotzdem würde ich nicht empfehlen, die ganzen 640 km auf ein Stück zu fahren. San José de Chiquitos und Roboré sind die Städte mit der besten Infrastruktur auf der Strecke.
  • Hier findet Ihr den Fahrplan und die Preise. Es gibt noch weitere Stops an kleinen Haltestellen zwischendurch, von denen ich aber nirgendwo eine Liste gefunden habe.
  • Neben dem Expreso Oriental verkehrt auf der gleichen Strecke ein Ferrobus. Da sich Eisenbus nicht so gut anhörte wie Orient-Express, traf ich die oben dargestellte Wahl. Weil der Ferrobus aber mehr als doppelt so teuer ist, ist er vielleicht (noch) gemütlicher. Vielleicht ist es aber auch nur ein Marketing-Gag, auf den hereinzufallen ich zu gewieft und zu knickrig bin.
  • Mit dem Expreso Oriental kostet die Fahrt über die gesamte Strecke von 640 km nur 100 Bolivianos, das sind etwa 13 Euro.
  • Fahrkarten kann man übers Internet vorbestellen, aber ich habe meine am jeweiligen Tag am Bahnhof gekauft und es waren noch ausreichend Plätze frei. Also kein Grund zum Stress. Wenn der Zug an einem Bahnhof zu nachtschlafener Zeit ankommt, wird etwa eine Stunde vorher der Fahrkartenschalter geöffnet. (Ein nachahmenswerter Service!)
  • Wenn Ihr in Santa Cruz losfährt, benötigt Ihr zusätzlich zum Fahrschein eine Bahnsteigkarte für 3 Bolivianos. Die muss man natürlich an einem anderen Schalter kaufen. Ebenso natürlich sagt einem das beim Erwerb der Fahrkarte niemand.
  • Komischerweise werden bei der Abfahrt in Santa Cruz der Pass und das Gepäck kontrolliert und von einem Drogenspürhund beschnüffelt. Bei der Rückfahrt nach Santa Cruz kontrolliert niemand. Anders als überall sonst werden hier die Drogen anscheinend in der Stadt angebaut und zu den Bauern aufs Land geschmuggelt. Oder kein Polizist will auf dem Dorf arbeiten.

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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11 Antworten zu Der Orient-Express in Bolivien

  1. Dirk schreibt:

    Sehr schöne und treffende Beschreibung! Habe „nur“ die Strecke von Chochis (ein wunderbarer Ort) nach Santa Cruz nachts erfahren und mich eigentlich eher gewundert, dass der Zug nicht von den Gleisen gesprungen ist…

  2. Pingback: Der deutschen Geschichte entkommt man auch in Bolivien nicht | Der reisende Reporter

  3. Pingback: On the Orient Express in Bolivia | The Happy Hermit

  4. sabine schreibt:

    Manntje, Manntje, Timpe Te…
    in Platt kann man sich ein bisschen einlesen und hören und viel Spass dabei haben.
    Hier zB: http://www.gsgoehl.de/maer_fischer.htm
    und wenn´s anspruchsvoller sein soll, es gibt auch das Kommunistische Manifest op Platt:
    http://www.plattcast.de/?p=732 (pattcast zum Wandern ;-)) und ein Plattdeutsches Wörterbuch http://www.plattdeutsches-woerterbuch.de/
    Viel Vergnügen und Danke für die wunderbaren Reiseberichte!

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