Tod durch Unterkühlung

Dreimal wäre ich fast an Unterkühlung gestorben. Jedes Mal lag ich danach zwei Wochen im Bett, haarscharf auf der Kante zwischen röchelndem gerade-noch-so-Leben und erlösendem Tod.

Das erste Mal war ich, wie immer ohne entsprechende Kleidung oder Ausrüstung, in Bolivien auf einen 5300 m hohen Berg gestiegen, wo es die auf der Karte eingezeichnete Schutzhütte nicht mehr gab. Unterwegs war ich dreimal wegen Höhenkrankheit in Ohnmacht gefallen.

Schließlich gelangte ich nur in die Sicherheit der immer noch auf 4150 m gelegenen und eiskalten Stadt El Alto zurück, indem ich den LKW aus einem Bergwerk anhielt und auf dessen Ladefläche eine halbe Stunde im eisigen, die Haut vom Gesicht und den Händen reißenden Fahrtwind stand.

Das zweite Mal fuhr ich mit dem Taxi von Beirut nach Damaskus, weil wegen eines plötzlichen Schneesturms nach Weihnachten die Busse ausfielen. Der Taxifahrer erklärte sich nur bereit, die Fahrt über die Berge auf sich zu nehmen, wenn ich warten würde, bis noch drei weitere Passagiere eintrafen, damit sich die Fahrt auch lohne. Anscheinend ein Öko. Immer wieder mussten wir aussteigen, um den im Schnee festgefahrenen Mercedes anzuschieben. Immer wieder schlitterten wir auf die Gegenfahrbahn. Erst als der Taxifahrer in einem Bergdorf Schneeketten erwerben konnte, was den Fahrpreis pro Passagier um 2,50 Dollar erhöhte, kamen wir einigermaßen voran.

Apropos Schneeketten: Der Fahrer und die anderen Passagiere waren alle Kettenraucher, so dass während der vierstündigen Fahrt bei Minusgraden, eisigem Wind und dichtem Schneetreiben alle Fenster geöffnet blieben. Es zog und schneite in den Wagen, wie wenn wir auf einer offenen Kutsche durch Sibirien gefahren wären.

Als ich in Damaskus ankam, sah ich aus wie ein Schneemann und schlotterte am ganzen Leib.

Ich ging in ein Hotel, das zwar das erstbeste, aber wohl nicht das beste war. Es gab keine Heizung. Es gab kein warmes Wasser. Die Löcher in den Fensterscheiben waren notdürftig mit Zeitungspapier gestopft, das im eisigen Wind flatterte. An der Rezeption holte ich mir eine zweite Decke, mehr Hilfe war nicht aufzutreiben. Warme Kleidung hatte ich natürlich nicht, denn ich hatte Wüste und Sonne erwartet. Im Zimmer hing ein Foto von Baschar al-Assad, mit dem ich am liebsten ein Feuer entzündet hätte. Aber man weiß ja, dass der Herrscher sehr unbeherrscht reagiert, wenn er glaubt, kritisiert zu werden.

Das dritte Mal stand ich an einem Bahnhof in Deutschland und wartete auf einen Zug.

Ich fahre gerne mit der Eisenbahn und preise die Deutsche Bahn dafür, dass jeden Tag Tausende von Zügen kreuz und quer durch unser unübersichtliches Land fahren, wobei sie nur äußerst selten entgleisen oder zusammenstoßen, was ein Meisterwerk nicht nur der Technik, sonder auch der Organisationskunst darstellt, das gerne in anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge – z.B. der Pandemiebekämpfung! – kopiert werden dürfte.

Aber warum zum Henker gibt es Bahnhöfe ohne beheizte Wartehallen? Oder überhaupt ohne Wartehallen? Ja sogar ohne windschützende Unterstände?

Warum wird aus jedem Bahnhof der letzte Quadratmeter herausgepresst, um Flitter und Fritten, Tand und Teigtaschen zu verkaufen, anstatt einen freundlichen Ofen und ein paar bequeme Bänke aufzustellen?

Warum muss die Wartezeit zwischen den umweltfreundlichen Reisen so ungemütlich gemacht werden, wie wenn man auf die Fahrt in ein Arbeitslager vorbereitet würde?

Warum sind der Deutschen Bahn die überflüssigsten Ladengeschäfte willkommen, nicht jedoch treue Kunden, die einfach nur gemütlich sitzen, warten und nicht vor Kälte sterben wollen?

Im sozialistisch geprägten Teil Europas geht es doch auch. So wartet man z.B. in ukrainischen Bahnhöfen. Da bollert die Kohle im Ofen, und niemand muss frieren.

Ach ja: Die Deutsche Bahn hat doch Wartesäle, DB-Lounges genannt. Allerdings nur für Passagiere der ersten Klasse. Und nur an 14 Bahnhöfen in Deutschland. – Vielleicht sollte ich mich das nächste Mal an die Bahnhofsmission wenden. Die gibt es immerhin an 105 Bahnhöfen in Deutschland.

Links:

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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10 Antworten zu Tod durch Unterkühlung

  1. Anonymous schreibt:

    Solltest Du mal in Berlin festsitzen und frieren, da betreibt die Bahnhofsmission einen wahrlich sinnvollen Kältebus … als Tip sozusagen 😉

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank!

      Anlass dieses Artikels war das Warten im wahrlich zugigen Hauptbahnhof von Bremen, wo ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt habe, in die Bahnhofsmission zu gehen.
      Ich habe mich dann aber nicht getraut, mit meinem vergleichsweise unwichtigen Anliegen zu stören.

      Aber es ist wirklich krass, dass die Deutsche Bahn das Aufwärmen ihrer Passagiere an Wohlfahrtsorganisationen ausgliedert.

  2. Anke schreibt:

    Warten willst du? Einfach nur warten? Shoppen sollst du, die Zeit sinnvoll nutzen. Die Deutsche Bahn zwingt dich zu deinem Glück. Das ist deutsche Effizienz. Im Osten sind sie nie auf einen grünen Zweig gekommen, weil sie zuviel Kohle für Wartende sinnlos verheizen. 😉

  3. tinderness schreibt:

    Das wäre auch mal etwas: Bloggeschichten vom „Fasterfrieren“ zu verlinken. Ich hätte da auch so eine 🙂 Ansonsten wurde mir richtig kalt beim Lesen: Bolivien und Beirut versteht man ja noch einigermassen, aber die DB ist mehr als skurril.

    • Andreas Moser schreibt:

      Nur her mit den Links!
      Geschichten, wo fast etwas passiert, sind doch die besten. Sonst wäre man ja tot und könnte nichts erzählen.

  4. Kasia schreibt:

    Die Sache mit den deutschen Bahnhöfen, da muss ich dir unbedingt beipflichten. Ach was habe ich schon in meinem Leben an diversen Bahnhöfen, Bahnsteigen, in Wartehallen und außerhalb davon gefroren! Das umweltfreundliche Reisen ist recht unangenehm, fast so, als wolle die Bahn uns sagen: hey, du Looser, kauf dir doch ein Auto.

    Gesagt, getan. Zugegeben, meinen Führerschein habe ich erst spät gemacht, aber na ja… es lebe die Sitzheizung 😉

    Bei der Sache mit den Bergen und den Schneewehen in Damaskus, da kann ich nix zu sagen, das übersteigt schier meine Vorstellungskraft… Nur gut, dass du das schöne Plakat nicht angerührt hast, ich bin sicher, da sind schon Leute für weniger einkassiert worden…
    Du bist schon so ein Abenteurer, oder? Einfach rein ins Vergnügen 🙂

    Liebe Grüße
    Kasia

    • Andreas Moser schreibt:

      Und erst die Provinzbahnhöfe bzw. -bahnsteige!
      Verlottert, verlassen, trostlos.
      Ich bin schon öfters an welche gekommen, wo ich fast nicht mehr glaubte, dass da noch Züge halten.

      Dass da Menschen, die Angst haben (müssen), überfallen oder angegriffen zu werden, nicht warten wollen, verstehe ich schon.

      Und oft stehen noch die riesigen Bahnhofswärterhäuser da, ungenutzt, als Erinnerung an schöne Zeiten, als an jedem kleinen Bahnhof jemand wohnte, um die Wartenden und Ankommenden zu unterhalten und zu beschützen.

    • Kasia schreibt:

      Vermutlich will man sich das Personal für solche Wartehäuschen sparen, und ohne Aufsicht öffnen will man sie auch nicht; könnte ja sein, dass sich ein Obdachloser dort in die Wärme verirrt…

  5. Pingback: Reizüberflutung am Bahnhof | Der reisende Reporter

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