Vor hundert Jahren nahm ein armenischer Student das Recht in die eigene Hand – März 1921: Operation Nemesis

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Versprochen hatte ich für die Reihe „Vor hundert Jahren …“ nur eine Folge pro Monat. Aber die letzte Folge über den russischen Bürgerkrieg und die Mongolei stieß auf positive Resonanz und führte zu neuen Unterstützern.

Dafür bedanke ich mich mit dieser außerordentlichen, ungeplanten Sonderzusatzfolge für März 1921.

Und Ihr solltet Euch bei den Unterstützern dieses Blogs bedanken. Oder am besten selbst zu solchen werden, auf dass noch viele historische Kuriositäten ans Licht befördert werden.


Zur Zeit findet in Berlin der Prozess um den sogenannten Tiergarten-Mord statt, nachdem im August 2019 in einem Berliner Park, der sich täuschenderweise Tiergarten nennt, obwohl er weder Tiger noch Elefanten aufweist, Selimchan Changoschwili erschossen wurde. Das war schade, denn Herr Changoschwili war gleichzeitig Georgier, Tschetschene, Kiste und Kacheter und damit exotischer als ein Elefantentiger. Wer dahinter steckt, kann man sich denken, denn es gibt da diesen einen Mafiastaat, der überall in Europa Menschen erschießt, vergiftet und vom Balkon im vierten Stock schubst, weswegen es niemanden überraschen sollte, wenn dieser Blog eines Tages abbriiiiiiiiiiicht.

Jedenfalls haben politische Attentate, bei denen ausländische Kontrahenten ihre Wut und ihre Wumme nach Berlin bringen, Tradition. Ein bekannter Fall ereignete sich am 15. März 1921 und damit genau vor hundert Jahren. Und, wie gemacht für einen historisch-juristischen Blog, führte er zu einem bekannten Prozess.

Zumindest bekannt in Armenien.

Dort, im martialischen Militärmuseum in Jerewan, habe ich zum ersten Mal von der „Operation Nemesis“ gehört.

Jetzt muss ich leider ein bisschen ausholen, und leider wird es grausam. Aber ich mache es ganz kurz. Im Ersten Weltkrieg zerfiel das Osmanische Reich endgültig. Wie es oft so ist, wenn man ein Weltreich oder ein Fußballspiel verliert, man will sich an einer Minderheit abreagieren. Im Falle des Osmanischen Reichs waren das vor allem Griechen, Juden und Armenier. Letztere wurden ab 1915 in einem systematischen Völkermord ermordet und vertrieben.

Wenn Ihr davon in der Schule nichts gehört habt, so liegt das daran, dass es mehr türkische als armenische Mitschüler gibt und überlebende türkische Eltern sich häufiger beim Direktor beschwerden als tote armenische Großeltern. In anderen Ländern ist die Erinnerung an diesen Völkermord viel präsenter.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Deutschland in dem Völkermord eine unrühmliche Rolle spielte. Wir sind anscheinend ein genozidaffines Volk, und damit höre ich auf, zu zählen, mit wem ich es mir in diesem Artikel schon verscherzt habe.

Jedenfalls starben bis zu 1,5 Millionen Armenier, und die Überlebenden flohen in alle Welt. (Ihr findet sicher welche in Eurem örtlichen Schachclub oder Cognacladen.)

1919 kam es zur ersten juristischen Überraschung. Der osmanische Sultan setzte ein Gericht ein, vor dem sich türkische Politiker, Beamte und Offiziere für den Völkermord an den Armeniern verantworten mussten. 26 Jahre vor den Nürnberger Prozessen.

Anders als die Leipziger Prozesse ab 1921, in denen sich deutsche Soldaten für Massaker in Belgien verantworten sollten, nahm das türkische Gericht die Sache durchaus ernst. Zumindest anfänglich.

Das türkische Gericht sprach 17 Todesurteile aus, darunter gegen den ehemaligen Innenminister und Großwesir Talât Pascha, den ehemaligen Kriegsminister Enver Pascha und den ehemaligen Marineminister Cemal Pascha. Wer glaubt, das Völkerstrafrecht, also die Strafbarkeit von Individuen für Völkerrechtsverstöße, begann in Nürnberg, hat jetzt etwas gelernt und gewinnt mit diesem Wissen hoffentlich mal ein Fernsehquiz.

Die Paschas wollten nicht am Galgen enden und flohen deshalb zu ihren alten Waffenbrüdern – nach Berlin. Deutschland war bekannt für Kuscheljustiz gegenüber Kriegsverbrechern und lieferte die verurteilten Mörder nicht aus.

Die Türken waren fuchtig und drohten: „Wenn Ihr uns Talât Pascha nicht ausliefert, dann werden wir Euch im nächsten Weltkrieg nicht mehr unterstützten!“, weswegen der Zweite Weltkrieg so ausging wie er ausging.

Aber noch fuchtiger waren die Armenier.

Die Armenier merkten, dass Deutschland nichts gegen die Mörder in seiner Hauptstadt unternehmen würde. Die Armenier merkten, dass die Türkei, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion, die sich zu allem Übel das kurzzeitig unabhängige Rest-Armenien einverleibt hatte, keinen Finger rühren würden. Und die Armenier merkten, dass die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs noch lange auf sich warten lassen würde.

Also beschlossen sie, die Urteile selbst zu vollstrecken. Operation Nemesis war geboren.

Zur Hinrichtung des Hauptverantwortlichen Talât Pascha meldete sich, weil es ein guter Vorwand war, um die Prüfungen auf das nächste Semester zu verschieben, ein Student: Soghomon Telirian. Außerdem konnte er so endlich nach Deutschland ziehen, wo er sein Ingenieursstudium fortsetzen wollte. Deutschland hatte damals einen guten Ruf in der Ingenieuerskunst. Ungerechtfertigterweise, denn der Berliner Flughafen war noch immer nicht fertig. Telirian musste also trampen.

Die Fortbewegung per Anhalter war kein Problem, denn die Spanische Grippe hatte sich nach drei Wellen und zwei Jahren gerade totgelaufen. Die Leute waren ganz wild auf soziale Kontakte, und außerdem war Telirian keiner von den stereotypischen Schmuddelstudenten im LSD-Rausch, sondern adrett und höflich.

In Berlin fand Telirian heraus, dass der einstige Großwesir in der Hardenbergstraße wohnte, beschattete ihn ein paar Tage und, als er sicher war, dass es sich um die Zielperson handelte und dass keine Passanten gefährdet waren, erschoss er ihn am Vormittag des 15. März 1921 auf offener Straße.

Nun werden in Berlin ständig Leute erschossen, und niemand hätte sich um einen weiteren Toten gekümmert. Die Bild-Zeitung hätte von „Clan-Kriminalität“ schwadroniert, und nach ein paar Tagen wäre die Sache vergessen gewesen. Aber Telirian verblieb neben der Leiche und wartete auf die Polizei. Er erklärte den Beamten, dass er das türkische Todesurteil vollstreckt und außerdem den Mörder seiner Frau und seiner Großeltern gerichtet habe und bedauerte, den deutschen Behörden damit Unannehmlichkeiten bereitet zu haben.

Der arme armenische Student wurde wegen Mordes angeklagt, und der Prozess vor dem Landgericht Berlin führte zur zweiten juristischen Überraschung, ja zu einer regelrechten Sensation.

Telirian konnte und wollte die Tat nicht leugnen. Also musste sich die Verteidigung auf Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe stützen. Sie verwandelte den Mordprozess in einen Prozess über den Völkermord. Überlebende Armenier berichteten von den Gräueln. Johannes Lepsius, der wie kein zweiter versucht hatte, die deutsche Öffentlichkeit und Politik zum Schutz der Armenier zu bewegen, sagte als Zeuge aus. Otto Karl Viktor Liman von Sanders, ein deutscher General, der im Ersten Weltkrieg als Feldmarschall die osmanische Armee befehligt hatte, wurde vor Gericht geladen. Und Telirian berichtete, dass er 85 Familienangehörige durch den Genozid verloren hatte.

Am 3. Juni 1921 dann die Sensation: Freispruch!

Das Urteil wurde heftig diskutiert, wobei den Männern der Operation Nemesis, die in den folgenden Jahren noch weitere Täter des Genozids töteten, zugute gehalten wurde, dass sich kein Gericht ihrer Sache annahm: Die Türkei legte die alten Urteile zu den Akten. Andere Staaten lieferten nicht aus. Und Armenien, nun ja, das war in der Sowjetunion aufgegangen, und mit ihm die unabhängige armenische Justiz.

Die Lehre daraus, wie immer viel zu spät gezogen, war die Entwicklung des Völkerstrafrechts: Bestimmte schwere Taten können unabhängig vom geographischen Anknüpfungspunkt überall auf der Welt verfolgt werden. Deutschland beging 2021 das hundertjährige Jubiläum des Telirian-Urteils mit der Verurteilung eines syrischen Geheimdienstmitarbeiters wegen Folter in syrischen Gefängnissen.

Telirian zog rastlos um die Welt: Cleveland, Marseille, Belgrad, Casablanca, Paris, San Francisco. Nach Armenien sollte er nie mehr kommen.


Im Militärmuseum in Jerewan gab es übrigens noch ein paar dubiose Exponate. Aber das scheint in Armenien in jedem Haushalt so zu sein und ist außerdem eine andere, später zu erzählende Geschichte.

Jetzt ratet erst einmal, worum es im April 1921 gehen wird.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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