Ein Besuch bei der Stasi

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2,3 Millionen Karteikarten allein für den Bezirk Karl-Marx-Stadt.

Das ist eine der vielen Informationen, die ich vom Besuch beim Stasi-Unterlagen-Archiv in Chemnitz mitnehme. Noch schockierender als die Zahlen waren jedoch die Methoden der Stasi.

Überwachen, Abhören, Ausspionieren, Öffnen der Post (allein in Karl-Marx-Stadt 18.000 Briefe pro Tag), Verhaften, das kennt man ja alles. Dass und wie die Stasi Menschen umgebracht hat, ist schon weniger bekannt. Erschießen. Vergiften. Einwirken auf die Ärzte, damit diese die Medikamentendosierung so ändern, dass der Patient verstirbt. Und natürlich die ganzen Selbstmorde.

Die perfideste Methode war die „Zersetzung“. Die Historikerin Sandra Meier, die mit wirklich unermüdlicher Begeisterung auf all meine halbinformierten Wessi-Fragen eingeht, erklärt den Zusammenhang zur KSZE-Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975. Nachdem sich darin auch die Staaten des Ostblocks zur Einhaltung von Menschenrechten verpflichtet hatte, fuhr die DDR-Führung öffentlichkeitswirksame Verhaftungen und Strafverfahren zurück und wollte Oppositionelle, Friedensgruppen, Umweltaktivisten, Ausreisewillige oder einfach nur Unangepasste lieber heimlich, still und leise „ausschalten“.

Mit der Zersetzung wollte die Stasi regimekritische Gruppen auseinanderbringen, indem gezielt Gerüchte gegen einen oder mehrere der Mitglieder verbreitet wurden, um diese zu diskreditieren, um allgemein Unsicherheit oder Misstrauen zu streuen oder um die Gruppe zu teilen und dadurch zu schwächen.

Alternativ konnte man Zielpersonen auch übertrieben wohlwollend behandeln, z.B. durch Gewährung von Urlaubsreisen, durch Zuweisung einer begehrten Wohnung oder eines Autos, was bei den Kollegen den Eindruck erweckte, dass der Betroffene sicher für das Ministerium für Staatssicherheit arbeite. Der gleiche Effekt wurde erreicht, wenn man bei Vorladungen oder Verhaftungen ein oder zwei Mitglieder einer Gruppe nicht behelligte. Das weckte bei den anderen natürlich den Verdacht, dass diejenigen Stasi-Spitzel waren.

Die Stasi arbeitete auch mit gefälschten Liebesbriefen, die der Freund oder die Freundin des Zersetzungsopfers dann zufällig fand. Oder anonyme Geschenke. Das ging bis zu gefälschten Fotos von Seitensprüngen und gefälschten Scheidungsanträgen der Ehefrau, die dem Mann in der Untersuchungshaft vorgelegt wurden. Nicht nur politische Gruppen, auch Ehen und Familien sollten systematisch und vollständig zerstört werden. Mit gravierenden Langzeitfolgen.

Ich erinnere mich an einige der Fälle, die in Stasiland von Anna Funder beschrieben werden. Das Buch ging mir so nahe, ich konnte es nur häppchenweise lesen. Nach jedem Kapitel war ich erst einmal geplättet. Dennoch eine wichtige Lektüre, vielleicht gerade jetzt, wo Katja Hoyer mit Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR die Hitparade, oder wie immer das bei Büchern heißt, erstürmt.

Für das Interesse an den eigenen Stasi-Akten sind so literarische Großereignisse, aber vor allem Jahrestage und Filme entscheidend, erklärt Sandra Meier. Allerdings seien die Antragsteller oft enttäuscht, dass die Akteneinsicht nicht so flott wie in Das Leben der Anderen vonstatten geht. Nach drei Monaten erhält man eine Zwischenmeldung, ob überhaupt etwas vorhanden ist. Bis zu eineinhalb Jahren kann es dauern, bis man die Akten in den Händen hält.

Den Antrag auf Akteneinsicht kann man in der Zentrale in Berlin oder in einer der 13 Außenstellen einreichen. Zur Archivführung an diesem Abend sind nur zwei interessierte Bürger erschienen. Neben mir ist es ein 64-jähriger Mann, der einen Antrag auf Akteneinsicht stellen will.

„Warum erst jetzt?“ frage ich verwundert, schließlich besteht diese Möglichkeit schon seit 30 Jahren.

„Ach, ich hatte eigentlich nie ein dringendes Interesse,“ sagt er. Er wisse, dass er wegen Kontakten zu Verwandten in der BRD überwacht worden sei. Außerdem wurde er schikaniert, weil er als einer der wenigen nicht bei der FDJ war und nicht zur Jugendweihe ging. Er erweckt den Eindruck von jemandem, der absolut mit sich im Reinen ist. Er hat sich nicht verbogen, aber sieht sich nicht als Widerstandskämpfer. Er hat Repressionen verspürt, weiß aber, dass es andere viel härter getroffen hat. Dramatische Enthüllungen erwartet er nicht, „aber die Frau hat gesagt: Jetzt schau doch endlich mal in deine Akte.“

Letztes Jahr wurden noch immer 30.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt.

Auch wenn Ihr keine eigene Stasi-Akte vermutet: Das Stasi-Unterlagen-Archivist einen Besuch wert. Auch und gerade für Wessis, die noch wenig über die DDR wissen. Sowohl die Zentrale als auch die Außenstellen bieten ein umfassendes Bildungsangebot mit Veranstaltungen, Vorträgen und Bürgersprechstunden.

Die Außenstelle in Chemnitz lohnt den Besuch ganz besonders, weil sie – wie es sich für die „Stadt der Moderne“ gehört – in einen neu gestalteten und futuristisch anmutenden Bau eingezogen ist, der sich inmitten von alten Fabrikanlagen befindet.

Chemnitz hat viele schöne Ecken und Kanten, aber diesen Stadtteil entlang der Annaberger Straße mit seiner Industriekultur finde ich ganz besonders faszinierend. Auch wenn, obwohl ich das als Nichtindustrieller natürlich schlecht beurteilen kann, manche den Fabriken den Eindruck erwecken, wie wenn sie im Moment nicht ganz ausgelastet wären. Aber daran war nicht die Stasi schuld, sondern die Treuhand.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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17 Antworten zu Ein Besuch bei der Stasi

  1. 100goldfischli schreibt:

    Ich habe mir zum Thema dieses ganz erhellende Buch angesehen:
    „Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi“
    Es zeigt einen anderen Blickwinkel, der mich dazu brachte, den Sachverhalt nicht ganz so schwarz-weiß zu sehen wie vorher.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich habe gar nicht den Eindruck, dass irgendjemand, der sich professionell mit dem Thema befasst, die IMs schwarz-weiß betrachtet.

      Zumindest die hiesige Historikerin ist bei der Führung darauf eingegangen, dass es unterschiedlichste Motivationslagen für die Mitarbeit bei der Stasi gegeben haben kann:
      Wichtigtuerei, Machtgefühl, Geld, Ideologie, Abneigung gegenüber bestimmten Personen, Abenteuerlust am Spionieren (damit könnte man mich wahrscheinlich ködern, obwohl Doppelagent noch spannender wäre), persönliche Vorteile bei Beruf, Wohnungssuche oder Auslandsreisen und natürlich unfreiwillige Mitarbeit aufgrund Erpressung.
      Sie schilderte den Fall eines jugendlichen IM, der ein ganz schlechtes Verhältnis zu seinem Vater hatte, und wo der Stasi-Mann dann die Rolle der kumpelhaften und verständnisvollen Vaterfigur übernahm.
      Als ihm nach ein paar Jahren die IM-Rolle über den Kopf wuchs und er um Entlassung bat und andernfalls Suizid androhte, sagte die Stasi: „Das ist deine Entscheidung.“

      Und dann mag es auch noch IMs gegeben haben, die dachten, damit ihr Umfeld retten zu können. Nach dem Motto: Lieber berichte ich Nichtigkeiten, als dass die einen Hundertprozentigen für den Job anheuern.

      Aber auch aus verständlichen Motiven kann man Unrecht begehen. Dass das ganze System der Stasi zutiefst brutal und menschenunwürdig (und dazu eine enorme Verschwendung von volkswirtschaftlichen und menschlichen Kapazitäten) war, bleibt von der Motivation der „kleinen Rädchen“ unberührt.

    • Anonymous schreibt:

      Nein, mich: Ich meinte mich. Ich™ habe die Sache bis lange nach der Wende schwarz-weiß betrachtet. Ist inzwischen anders, aus genau den von Dir erwähnten Gründen..

    • Andreas Moser schreibt:

      Zum Glück werden wir alle immer älter und weiser. 🙂

  2. Michael Müller schreibt:

    Zum Mauerfall gerade frisch 18 geworden, hatte ich auch schon meine Akte. Erstaunlich, wie viel Arbeit so ein Antrag auf Amateurfunklizenz der Stasi beschert hat🤣

    War aber nicht das einzige. Gesundheitsakte (Kita->Schule->Betriebsarzt), Personalakte (alles der selbe Arbeitgeber)

  3. Kain Schreiber schreibt:

    das ist ja mal ein recht kurzer Artikel 😉
    Die DDR ist aber mehr als ihre Stasi-Vergangenheit ….

    • Andreas Moser schreibt:

      Natürlich war die DDR viel mehr, worauf ich zum Teil in anderen Artikeln bereits eingegangen bin.
      Aber diese Woche war ich halt im Stasi-Unterlagen-Archiv.

      Eigentlich wollte ich noch die Pläne der Stasi für den „Tag X“ mit Sammelstellen, Internierungslagern und monatlich aktualisierten Listen von 86.000 festzusetzenden Personen erwähnen, aber das fand ich so krass, da muss ich mal gesondert darüber schreiben.
      Vielleicht wenn ich auf die Augustusburg gehe, denn die war als eines der Internierungslager für Karl-Marx-Stadt vorgesehen.

  4. Pingback: Visiting the Stasi Archive | The Happy Hermit

  5. sinnlosreisen schreibt:

    Das mit der Zersetzungsstrategie ist ja extrem perfide. Den Gegner mit Lob überschütten, damit er unglaubwürdig wird. Krass.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ein Wahnsinn ist auch, welchen Aufwand die Stasi dafür betrieb, weil jeder Fall anders behandelt wurde.
      Bei der Zersetzung sollte ganz individuell und unschematisch an den Schwachpunkten der jeweiligen Person/Gruppe angesetzt werden. Also spionierten die Stasi-Leute erst monatelang, erstellten dann psychologische Profile und spielten alle möglichen Alternativen durch.

      So viel Aufwand, Energie, Lebenszeit und sogar Kreativität für so etwas Destruktives.

  6. sinnlosreisen schreibt:

    Gar nicht auszumalen, wie erfolgreich die DDR geworden wäre, wenn die Energie in positive Dinge gesteckt worden wäre…

  7. Siewurdengelesen schreibt:

    Das ist ein Punkt, an dem ich trotzdem bis heute oft den Kopf schüttele. Einerseits wurde und wird das System Stasi zu Recht angeprangert bis heute, obwohl da wie beschrieben das Überwachen manchmal mehr „Nebenprodukt“ war und die Hauptrichtung FUD – also typische Geheimdienstpraxis.

    Werden dann aktuelle Themen wie Snowden, Assange und deren Enthüllungen um die flächendeckende Überwachung der US-Dienste, die Datengier mit illegalen Methoden generell und dabei das „Interesse“ des Staates und der Dienste und Unternehmen erwähnt, kommt meist Schulterzucken. Schließlich hat „man“ ja nichts zu verbergen:-(

    In den Innenstädten sind nur zu unserer „Sicherheit“ überall Kameras und das und wie schlimmer geht immer möglich ist, zeigt z.B. China.

    Als ob es weniger schlimm wäre, wenn das Eindringen in persönlichste Bereiche nicht weh tut und dank unserer kleinen Helferlein das Überwachen gar nicht mehr so auffällt.

    Ich will die Machenschaften der Stasi gar nicht mit dem Jetzt vergleichen, weil das nicht geht. Deren Vorgehen gegen eine ganze Bevölkerung per Generalverdacht sowie Mittel und Methoden standen nie in Einklang mit den von der DDR-Führung nach außen vertretenen Werten.

    Aber selbst das, was hier teils läuft, ist einer echten Demokratie einfach unwürdig und der Grat ist schmal, wenn Systeme kippen.

    PS. Meine Akte mag im Archiv verrotten und ich glaube, so lebe ich ruhiger.

    • Andreas Moser schreibt:

      Dein „ich glaube, so lebe ich ruhiger“ ist vielleicht gar nicht so weit weg von der Grundeinstellung, die zu „ich habe doch nichts zu verbergen“ führt. 😉

      Wobei die meisten Menschen, die angeblich „nichts zu verbergen“ haben, doch sehr kleinlaut werden, wenn man sie um ihre Kontonummer, ihr Passwort und den Wohnungsschüssel bittet.
      Das geben sie dann doch nur gegenüber irgendwelchen dubiosen Konzernen preis.

  8. Anonymous schreibt:

    „Dein „ich glaube, so lebe ich ruhiger“ ist vielleicht gar nicht so weit weg von der Grundeinstellung, die zu „ich habe doch nichts zu verbergen“ führt.“

    Das kann sein. Vielleicht ist es auch einfach Selbstschutz gegenüber Freunden, Bekannten, Mitschülern und Verwandten, von denen man das nicht erwartet hätte, wenn man da rein schaut oder sieht, was da alles (auch an Blödsinn) drin steht, der einen selbst diffamieren könnte. Damit zieht sich besagter FUD bis in die Jetzt-Zeit und führt u.U. bis heute grundlos zu weiteren Verdächtigen, während wirkliche Täter lachend in der Ecke sitzen.

    Spionageromane sind immer toll und Geheimdienstler alles Helden. Die Wirklichkeit sieht anders aus wie jetzt wieder mit einem Schritt weiter beim Überwachen durch Technik, welche die Manpower beim Ermitteln ersetzen soll, aber stets fehlerbehaftet ist und den Irrtum bereits in sich birgt, dabei aber nicht auf gezieltem Fahnden beruht, sondern erstmal alle erfasst.

    Und wie es enden kann, wenn solche Erzbürokraten mit ihren geistigen Barrieren und fixiertem Gegnerdenken auf solchen Posten sitzen, sieht man z.B. eindrucksvoll an einem Herrn Maaßen. Der wäre bei anderen Geheimdiensten auch etwas geworden.

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