Drogendealer mit Ehrenkodex

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Juli 2022. Volkspark Hasenheide in Berlin-Neukölln. Ein großer, grüner Park mit Streichelzoo, Freiluftkino, Hundeauslaufgelände, Baumlehrpfad, geschichtsverfälschendem Trümmerfrauendenkmal, Rosengarten, Minigolfanlage, einem Imbiss, der keine Currywurst im Angebot hat, aber händeringend Mitarbeiter sucht, dem von Friedrich Ludwig Jahn 1811 persönlich angelegten ersten Turnplatz, und dem Sri-Ganesha-Hindu-Tempel, dessen Fertigstellung sich genauso verzögert wie einst die des Berliner Flughafens.

Wo sich die Pfade und Wege kreuzen, stehen Männer auffällig unauffällig herum. Manchmal einer, manchmal zwei, manchmal drei. Von Zeit zu Zeit verschwindet einer von ihnen im Gebüsch und gräbt etwas aus oder ein. Wie ein Eichhörnchen.

Ich vermute ja gerne immer das Beste im Menschen und möchte deshalb annehmen, dass die Männer eine entlaufene Katze suchen. Oder Unterschriften für eines der vielen Berliner Volksbegehren sammeln. (Dasjenige mit dem bedingungslosen Grundeinkommen käme mir sehr entgegen.) Oder an frischer Luft über die Oxymoronität illiberaler Demokratien philosophieren.

Aber da sie mich, der ich doch erkennbar ein volksbegehrensunterzeichnungswilliger und begeistert philosophierender Katzenfreund bin, nicht ansprechen, muss ich den rawlschen Schleier des Nichtwissens abstreifen, der grausamen Realität ins Auge blicken und erkennen, dass diese Männer vermutlich Substanzen feilbieten, die der nur wenige Kilometer entfernt – wenn nicht schon Sommerpause wäre – tagende Gesetzgeber in die Anlage I zu § 1 Absatz 1 des Betäubungsmittelgesetzes und damit in die Illegalität verbannt hat.

Dass ich fast nirgendwo auf der Welt von Haschischhändlern, Drogendealern oder Opiatofferten behelligt werde, liegt wohl daran, dass ich ziemlich brav und anständig, um nicht zu sagen langweilig aussehe. Deshalb sind die Leute auch immer sehr überrascht, wenn sie meine abenteuerlichen Geschichten hören. Wahrscheinlich sind die meisten Drogenkonsumenten viel spießiger als ich. Manche haben vielleicht sogar einen Bausparvertrag. Oder bügeln ihre Hemden.

Eines Abends unterbreche ich das Flanieren und pausiere auf einer Bank, wo ich unverhofft Gesprächsfetzen von der Gruppe auf der nächstgelegenen, etwa 10 Meter entfernten Bank mitbekomme.

Zuerst halte ich sie Konsumenten des oben erwähnten Nahrungsergänzungs- oder -ersatzmittels, aber anscheinend ist örtlich bekannt, dass sie auch in der Produktion oder zumindest im Vertrieb desselben tätig sind.

Drei Jugendliche laufen zuerst vorbei, fassen sich dann ein Herz oder welches Organ auch immer die Sucht steuert, kehren um und fragen die drei Herren, eine Dame und einen Hund, ob man bei ihnen „Gras“ erwerben könne. Ein geschickt gewähltes Codewort, denke ich anerkennend. Schließlich heißt der Park „Hasenheide“, so dass der BKA-Überwachungssatellit beim Wort „Gras“ an nichts Verdächtiges, sondern an putzige, kleine Mümmelmänner denken wird.

„Nee,“ sagt einer der Männer auf der Bank, „wir verkaufen nicht an Kinder.“

„Wir sind keine Kinder,“ entgegnet einer der Jugendlichen, „wir sind Jugendliche.“

„Nach dem Gesetz ist man Kind, bis man 18 ist“, erklärt der Mann auf der Bank. „Und wenn du vor dem Richter stehst, macht es schon einen Unterschied, ob du das Zeug an Erwachsene oder an Kinder vertickt hast.“

Anscheinend hat er bereits Erfahrung mit dem Justizsystem gesammelt, die ihn jedoch nicht von der weiteren Ausführung des Kleingewerbes abhält.

„Kinder verpetzen einen auch immer“, sagt einer der anderen Männer auf der Bank.

„Und wenn sich herumspricht, dass wir an Kinder verkaufen, dann wimmelt es hier bald wieder von Polizei“, ergänzt der dritte Mann. Es hört sich so an, wie wenn er den Volkspark ohne Volkspolizisten angenehmer findet.

„Habt Ihr keinen älteren Bruder?“ fragt die Frau aus dem Quartett auf der Bank. Anscheinend nicht. Das ist sie, die Ungnade der frühen Geburt, die Helmut Kohl gemeint hat.

Ich bekomme leider nicht das gesamte Gespräch mit, aber die Jugendlichen behaupten wohl, schon erwachsen, volljährig oder knapp davor zu sein, denn die Drogendealer antworten: „Dann zeigt uns mal Eure Ausweise!“

Zumindest bei einem von ihnen steht der 18. Geburtstag so nah bevor, dass sich das Drogenkartell erweichen lässt. Die Dealer rollen den Kindern sogar die Joints, weil sie ahnen, dass die Kleinen das niemals so formvollendet hinbekämen.

Ob ein Kauf- oder ein Schenkungsvertrag zustande kommt, kann ich nicht erkennen. Auf jeden Fall bestehen die Dealer darauf, dass die Jugendlichen das Pflanzenprodukt an Ort und Stelle konsumieren. Sozusagen unter Aufsicht Erwachsener. Falls einem der Jungs übel wird.

So uncool haben sich die Kids ihre erste Drogenerfahrung wahrscheinlich nicht vorgestellt. Sie flüstern und kichern verschämt, während sie paffen.

Die Drogendealer kritisieren währenddessen die Bundesregierung für ihre langsame Panzerlieferung an die Ukraine: „Das Schlimme ist, selbst wenn die schnell liefern wollen würden, könnten sie es nicht. Da müssen ja 15 Behörden beteiligt werden, und alles muss in fünffacher Ausfertigung erstellt und von jedem Hinz und Kunz unterschrieben und abgestempelt werden.“ Dabei ist die Ukraine sogar schon volljährig.

Obwohl ich betont unauffällig zuhöre, schlendert einer der Drogendealer betont unauffällig zu mir herüber und dann zurück zu seinen Kumpanen. Wahrscheinlich stört es sie, dass ich eine Zigarre rauche, und sie befürchten, ich könnte ihnen mit diesem erlesenen Tabakprodukt Kunden abspenstig machen.

Die größere Gefahr für ihr Geschäft lauert aber wohl von der angekündigten Legalisierung. Vor wenigen Wochen fand in Berlin die „International Cannabis Business Conference“ statt, wo sich Pharmaunternehmen, Anwaltskanzleien und Unternehmensberater um den Markt balgten. Die Teilnehmer dort haben wahrscheinlich weniger moralische Skrupel als die netten Leute auf der Parkbank.

Anstatt auf die Haschischheide gehe ich jetzt meist in die umliegenden und wunderschönen Friedhöfe. Dort lässt sich keiner von den Drogendealern blicken. Wahrscheinlich verbietet das auch ihr Ehrenkodex.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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18 Antworten zu Drogendealer mit Ehrenkodex

  1. chrisbaumgarten schreibt:

    Wieder mal herrlich. Ich schmunzle immer noch.

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank!

      Als die Jungs gingen, fragten sie noch: „Seid Ihr jeden Tag hier?“
      Worauf ein Dealer antwortete: „Solange das Wetter so gut ist.“
      Die Frau warf dann ein, dass man mit dem 9-Euro-Ticket doch auch mal einen Tag an die Ostsee fahren könne.
      „Aber dann sind wir ja abends wieder zurück“, beruhigte der Dealer die neu gewonnene Kundschaft.

  2. Ein wunderbares Geschichtchen. Allerdings fühle ich mich furchtbar ertappt 😀

    • Andreas Moser schreibt:

      Das freut mich umso mehr, wenn ich so ins Schwarze treffe mit all meinen Vorurteilen. 🙂

      Ich freue mich schon wieder auf den Herbst, wenn man alles Ungebügelte mit einem Pullover überdecken kann.

      Zum Bausparen muss ich mal extra etwas schreiben, wenn ich mich auf diesen wahrscheinlich deutschesten aller deutschen Wanderwege begebe:
      https://de.wikipedia.org/wiki/Bauspargeschichtlicher_Rundweg_durch_das_Dorf_W%C3%BCstenrot

    • Andreas Moser schreibt:

      Hast du dich eigentlich schon für eine Kleingartenparzelle beworben? 😉

    • Hemdenbügelnder, bausparender Kiffer schreibt:

      > Hast du dich eigentlich schon für eine Kleingartenparzelle beworben?
      Ich wohne doch erst seit 2 Jahren wieder hier. So etwas geht hier sicher erst nach 2 Generationen ;-( 😀

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielleicht durch Kontakte im Schützenverein oder so? Oder wenn du die C-Jugend in der Kreisklasse trainierst?

      Mannomannn, wir sollten uns nicht lustig machen über so etwas. Das sind die Grundfeste unserer Gesellschaft.

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  5. Woogie schreibt:

    Sehr schöne Geschichte 🙂
    Ich dachte immer der Görlitzer wäre der „Drogenpark“, aber vielleicht müssen die Dealer ja auch diversifizieren.

  6. eimaeckel schreibt:

    Sehr gut beobachtet und gekonnt erzählt. 🙂 Ich erfahre in Berlin (im Wedding) auch immer wieder, dass böse Jungs oft viel mehr wissen, was sich gehört als junge Studis aus der Provinz, die denken, in Berlin dürfen sie alles was zu Hause verboten war.

    • Andreas Moser schreibt:

      Dankeschön!

      Dann ist ja gut, dass ich als Student damals in der Provinz (Regensburg) geblieben bin. 😉
      Und jetzt muss ich manchmal zur Fernuniversität nach Hagen, oh Mann, da geht nach 18 Uhr nicht einmal mehr ein Bus.

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