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Mir blieben noch zwei Tage in Boston, bevor ich nach Deutschland zurückfliegen musste, aber ich kannte niemanden in der Stadt. Es war 2009, und das Internet war, soweit mir das damals bekannt war, noch nicht erfunden.
Zum Abendessen kaufte ich eine Pizza sowie eine Ausgabe des Boston Globe. Ich ging zum Boston Common, einem Park, um mich auf eine Bank zu setzen, zu essen und zu lesen. Alleine, wie ich das oft mache. Die Hälfte der Pizza hatte ich schon verspeist und die andere Hälfte der späteren Verwendung vorbehalten (amerikanische Pizzas sind für amerikanische Mägen gemacht), als ein junger Mann vorbeikam. Er ging noch ein paar Meter weiter, hielt inne, wandte sich um und kam auf mich zu. Blitzschnell analysierte ich die Situation. Es war dunkel geworden, der Park hatte sich geleert, und ich hatte aus der Pizzeria nicht einmal ein Plastikmesser mitgenommen. In Boston werden jedes Jahr etwa 50 Menschen ermordet.
“Entschuldigen Sie, Sir. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie störe.” Er klang und wirkte höflich. Ich war vollkommen bereit, ihm den Rest der Pizza auszuhändigen, sollte er eine Waffe zücken. (Amerikaner sind verrückt nach Waffen und Pizzas.)
In dem Repertoire meiner Gesichtsausdrücke habe ich einen, der sagt: “Ich gewähre dir ein paar Sekunden, um zu erklären was du willst, und abhängig von deiner Antwort werde ich dein bester Freund sein oder dich in Stücke reissen.” Mir schien der Moment gekommen, ihn anzuwenden.
Der junge Mann, dessen Namen ich leider vergessen habe und den ich aus Gründen journalistischer Integrität nicht einfach Tom, Samuel oder Harry nennen kann, obwohl dies die Geschichte viel lesbarer machen würde als diese komplizierten Einschübe, war entweder sehr ehrlich oder ziemlich schlau in seiner Herangehensweise. “Ich hatte gehofft, dass ich Ihnen eine Frage stellen dürfte, weil Sie intelligent aussehen.”
Ich musste lachen, bevor ich mich aus vollem Herzen bedanken konnte. “Wie kommst du darauf, dass ich intelligent aussähe?”
“Weil Sie so vertieft in der Zeitung lesen, Sir.”
Ich lächelte noch immer und wies darauf hin, dass die Lektüre einer Zeitung mich nicht zum Beantworten aller Fragen qualifizierte, aber ich bat den jungen Mann, Platz zu nehmen. Von der Pizza bot ich noch nichts an, denn das würde von der Art der Frage abhängen. Falls es eine dumme sein sollte – ja, es gibt tatsächlich dumme Fragen, egal was man Euch in der Schule Konträres erzählt -, wollte ich ihn so schnell wie möglich abschütteln können und zu den Seiten zurückkehren, die mich so gelehrt erscheinen ließen.
“Also, es geht um ein Problem mit einem Mädchen”, begann er. Wie praktisch, dass ich Fachanwalt für Familienrecht war, obwohl er das oder überhaupt die Tatsache, dass ich Rechtsanwalt war, kaum hätte wissen können. Würden die Anwälte von Boston Legal spätnachts im Park sitzen und eine Pizza essen? Wohl kaum. Egal, ich war jedenfalls erleichtert. Das war mein Spezialgebiet, und ich hatte schon Hunderten von Männern beim Rückweg in die Freiheit geholfen. Vielleicht könnte ich auch diesen jungen Mann befreien.
“Sie mag mich und sie hat gesagt, dass sie mit mir zusammen sein möchte. Ich mag sie auch, aber nur auf freundschaftlicher Ebene. Ich fühle mich einfach nicht zu ihr hingezogen.” Bis dahin klang es eher nach einem Teenager-Problem, was mich überraschte, denn er sah mindestens wie 21 oder 22 Jahre aus. “Aber ich fühle mich zu einem anderen Mädchen hingezogen. Und jetzt wird es kompliziert: Das Mädchen, das mich mag, ist weiß. Und das Mädchen, das ich mag, ist schwarz. Das weiße Mädchen nennt mich jetzt einen Rassisten. Und dieser Gedanke bedrückt mich, ehrlich gesagt, denn ich habe mich bisher noch nie als Rassisten gesehen.” Und, um mit einer Frage wie in der Aufgabenstellung eines Schulfaufsatzes zu schließen: “Denken Sie, dass es rassistisch von mir ist, dass ich mit dem schwarzen Mädchen zusammen sein will, aber nicht mit dem weißen?”
Das war mal eine neue Frage, was mir gefiel. (Ein Grund, warum ich noch im gleichen Jahr meinen Anwaltsberuf aufgab war, dass Mandanten nur mehr selten mit wirklich neuen Fragen kamen. Es wurde ein bisschen langweilig.) Eine Frage, über die man eigentlich eine Weile nachdenken sollte, aber ich konnte den jungen Mann nicht warten lassen, sonst würde er beim falschen Mädchen anheuern. Und, um ehrlich zu sein, ich wollte ihm eine positive Antwort geben, so dass meine Gedanken nicht ganz so unteleologisch umherschwirrten, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. Außerdem hatte ich bemerkt, dass er einen praktischen Rat suchte, keine soziologische Diskussion über Rassismus. Schließlich könnte man argumentieren, dass jeder ein bisschen rassistisch ist, zumindest manchmal. (Ihr könnt ja mal kurz innehalten und Euch bewusst machen, in welchen Hautfarben Ihr Euch mich und den jungen Mann aus dieser Geschichte vorgestellt habt, obwohl ich keinen Hinweis auf die Farben der Beteiligten gegeben habe.)
“Ich glaube nicht, dass das rassistisch ist. Erstens bin ich mir nicht einmal sicher, ob es deine Entscheidung ist, wenn du verliebt bist. Manchmal passiert es einfach, und wir haben keine Kontrolle darüber.” Im 16. Jahrhundert wurde Liebe teilweise als Krankheit angesehen, die medizinischer Behandlung bedurfte. Und wer hat sich noch nie gewünscht, dass es eine Impfung dagegen gäbe?
“Und dann nehme ich an, dass du von dem fraglichen Mädchen nicht wegen ihrer Hautfarbe begeistert bist, sondern wegen ihres Charakters, ihres Lächelns, ihres Intellekts, wegen dem, was sie sagt, tut und denkt”, schloß ich von mir auf ihn. “Vielleicht von der Art, wie sie küsst”, dachte ich, erwähnte es aber nicht, weil mir schien, dass es bei den beiden noch nicht so weit gekommen war.
“Und schießlich könntest du das weiße Mädchen fragen, ob es nicht genauso rassistisch gegenüber allen anderen Farben wäre, wenn du ihr Freund würdest. Wenn wir uns für eine Person entscheiden, enttäuschen wir immer Dutzende von anderen. Beziehungen sind nicht der Anwendungsbereich für Antidiskriminierungsgesetze”
“Sag mal, möchtest du ein Stück von der Pizza?” fragte ich, viel zu spät.
“Oh, vielen Dank, aber ich sollte schon auf dem Weg sein. Ich übernachte in einem Wohnheim für obdachlose Veteranen und muss um 22 Uhr dort sein.” Es war schon zehn nach zehn. Er dankte mir nochmals, sichtbar erleichtert.
Die Nacht war mild, und ich war wieder hungrig geworden. Während ich den Rest der Pizza vertilgte, wälzte ich Gedanken über Rassismus, über Liebe und darüber, wie ein reiches Land seine Kriegsveteranen behandelt.
Ich weiß nicht, was aus dem jungen Mann und den Mädchen aus Boston wurde, und die Chancen, dass jemand von ihnen über diesen Artikel stolpert, sind gering. (Außer Ihr schickt die englische Fassung an all Eure Freunde dort.) Aber noch jetzt, zehn Jahre später, wo wir Couchsurfing und Tinder und Facebook und all diese Programme haben, um Menschen kennenzulernen, bin ich noch immer dankbar für diese zufällige Begegnung. Denn sie erteilte mir eine Lektion, die ich zu einer regelrechten Strategie entwickelt habe.
Seitdem gehe ich immer, wenn ich etwas länger in einer Stadt weile (und wenn das Wetter es zulässt), in einen Park, lasse mich für ein paar Stunden nieder und warte offen und gespannt auf die Überraschungen, die das Schicksal meines Weges schicken wird. Ich lese dann gerne ein Buch oder eine Zeitung, so dass die Leute sehen, dass ich nicht in Eile bin. Man sieht das nicht mehr oft, dass Menschen in der Öffentlichkeit lesen, also macht mich das auch ein bisschen interessanter, kann ich mir vorstellen. Und wenn jemand neugierig ist, dann ist ein Buch oder eine Zeitung ein guter Aufhänger für ein Gespräch.
In Belgrad saß ich mal im Studentski Park, genoß ein paar sonnige Stunden und die Süddeutsche Zeitung, die ich bei dem gut-sortierten Zeitschriftenladen auf der anderen Straßenseite erworben hatte, der immer mein erster Anlaufpunkt ist, wenn ich nach ein zwei nachrichtenlosen Wochen im Sandschak oder im Durmitor in die Zivilisation zurückkehre. Miro und Maia, zwei Chemieingenieure, beide in den 60ern und miteinander verheiratet, erkannten so, dass ich Deutsch sprach, und begannen mit der Erzählung der gemeinsamen Lebensgeschichte, einschließlich ihrer Arbeitsaufenthalte im sozialistischen Deutschland. Sie waren so froh, auf jemanden zu treffen, der ihnen zuhörte, dass sie fast darum stritten, wer von ihnen welche Geschichte erzählen durfte. (Sie waren sich auch sehr uneinig, was den genauen Inhalt ihrer Erinnerungen anging, sowie über die Industriepolitik der DDR.)

In Targu Mures saß ich draußen, wieder lesend, Auf der Bank gegenüber war ein älterer Mann, der so aussah, wie wenn er gerade einen langen Arbeitstag im Kombinat hinter sich gebracht hatte. Anstatt eines Buches hielt er eine Bierflasche in den Händen. Nach einer Weile, in der er mich anscheinend als Ausländer erkannt hatte, fragte er, ob ich Rumänisch, Ungarisch, Englisch, Französisch oder Russisch spräche, weil er mir gerne eine Frage stellen würde, falls ich dies zuließe. Wir einigten uns auf Englisch, und er sagte: “Mich hat eigentlich nur interessiert, welches Buch Sie lesen, weil mir aufgefallen ist, dass Sie immer mal wieder lächeln oder schmunzeln.” Das Buch war “Scoop” von Evelyn Waugh, eine wahrhaft amüsante Lektüre.
Der Herr stellte sich als sympathischer und humorvoller Ingenieur im Ruhestand heraus, der selbst einen Band mit Erzählungen veröffentlicht hatte. (Rumänen lieben Bücher und Schreiben so sehr wie Amerikaner Pizzas und Waffen.) Wir unterhielten uns prächtig, fanden heraus, dass wir fast Nachbarn waren, und als wir, wie altmodische Menschen es zu tun pflegen, Visitenkarten austauschten, erfuhr ich erst, dass Vasile zudem der Vorsitzende der örtlichen Jüdischen Gemeinde war. Er bemerkte mein Interesse und sagte ohne zu zögern: “Wenn Sie diesen Samstag Zeit haben, kommen Sie doch um 10 Uhr morgens zu unserer Synagoge. Ich gebe Ihnen eine Führung durch das Gebäude, es ist gerade neu restauriert worden, und dann können Sie Schabbat mit uns feiern.” Ich hielt es für angebracht, darauf hinzuweisen, dass ich kein Jude bin, aber er unterbrach mich sofort, “Und warum sollte uns das stören?”, wie wenn es die dümmste Ausrede war, die er je gehört hatte.
Ich ging natürlich hin und traf auf eine sehr gastfreundliche Gemeinschaft überwiegend älterer Herren sowie auf eine junge Familie aus den USA, die damals in Rumänien lebte. Um diese wendungsreiche Geschichte abzukürzen, diese Familie zog später nach Wien und sie heuerte mich als Haus- und Katzenhüter an. Wenn ich also an jenem Sommerabend in Targu Mures zuhause geblieben wäre, oder mit meinem Telefon gespielt hätte anstatt ein Buch zu lesen, oder wenn ich die Frage des Herrn ignoriert hätte, dann hätte ich niemals die Chance gehabt, zwei wunderbare Sommer in Wien zu verbringen und meine neue Lieblingsstadt kennenzulernen.
Eine Stadt, die übrigens auch ein paar nette kleine Parks aufweist.

Die Menschen, die mich ansprechen, sind meist älter und alleine, manchmal mit Hund, eben die Leute, die Zeit zum Reden haben. Aber ich habe auf diese Art und Weise auch schon junge Menschen kennengelernt. Es sind oft intelligente Zeitgenossen, die den Anblick von jemandem schätzen, der liest oder schreibt. Und dann gibt es natürlich noch die Obdachlosen und die Bettler, aber das sind sowieso die interessantesten Menschen.
Nur die Zeugen Jehovas können nervig werden. Als ich in Cochabamba lebte, unterhielt ich mich jedoch sogar mit den Jesus-Freaks und nutze sie als Spanischtutoren, die der Himmel geschickt hatte, so sehr sie mir auch mit der Hölle drohten.

Es gibt einen Grund, weshalb ich mich jetzt an all das erinnere. Wahscheinlich werden wir für die nächsten ein oder zwei Jahre nicht mehr kreuz und quer durch die Welt reisen können. Aber, wie Ihr gesehen habt, man muss gar nicht kreuz und quer durch die Welt reisen. Wenn die Parks wieder offen sind, nehmt Euch doch mal ein paar Stunden Zeit und hört den Menschen zu. Vielleicht werdet Ihr überrascht davon, was für interessante Menschen und Geschichten die ganze Zeit in Eurer unmittelbaren Nachbarschaft auf Euch gewartet haben.
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Ich folge dir jetzt also,weil du so intelligent „aussiehst“ (=schreibst) 😉
Oh, dankeschön!
Hoffentlich wird sich dieser erste Eindruck auch langfristig bestätigen.
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