Wenn man über Kolonialismus spricht, und erst recht, wenn man daraus Folgen ziehen will, wie z.B. Raubkunst zurückgeben, Reparationen bezahlen oder – Gott bewahre! – gar eine Straße umbenennen, dann kommen immer irgendwelche Leute um die Ecke der Hindenburgstraße und behaupten dummdreist, dass es früher halt so war (was sehr unterkomplex ist), dass man die Geschichte nicht „auslöschen“ könne (was niemand will) und dass ohne Denkmäler und Straßennamen die Geschichte vergessen werden würde (was nicht stimmt).
Interessanteweise kommt diese Argumentation meist von Leuten, die sonst gerne einen „Schlussstrich“ unter die deutsche Vergangenheit ziehen wollen. Sehr inkonsequent. Und durchschaubar.
Dazu ist vieles zu sagen. Aber heute nur ganz kurz:
Erstens:
Und, hat die Entfernung von Hakenkreuzen und die Umbennenung von Adolf-Hitler-Plätzen dazu geführt, dass niemand etwas über den Nationalsozialismus lernt? Kaum. Man lernt Geschichte halt doch eher in der Schule, durch Fernseh-Dokus und auf diesem Blog. Ich sitze bekanntlich viel in Parks, und mir ist noch nie aufgefallen, dass jemand unbedarft spazierengeht, beim Bismarck-Denkmal stutzend stehen bleibt und plötzlich über die Kongo-Konferenz nachdenkt.
Zweitens:
Wo waren diese Leute eigentlich 1990, als in Deutschland Tausende Straßen, Plätze, Schulen und sogar Städte umbenannt wurden? Wann haben sie sich für Karl-Marx-Stadt eingesetzt?
Hm. Anscheinend geht es nur um eine ganz bestimmte Version von Geschichte.
Drittens:
Die Behauptung, dass „es früher halt so war“ und dass man die Vergangenheit nicht mit heutigen Maßstäben messen dürfe, negiert – aus Unwissenheit oder Bösartigkeit – dass sich schon zur Zeit des Kolonialismus nicht wenige Menschen bewusst waren, dass Sklaverei und Völkermord schlecht sind.
Zum einen natürlich die Opfer.
„Ach so“, sagen die Früher-war-es-halt-so-Leute dann betroffen, weil sie merken, dass sie aus ihrer eurozentrischen Sicht an die außereuropäische Perspektive noch gar nicht gedacht haben.
Aber auch unter Europäern gab es zu allen Zeiten welche, die Kolonialismus und Sklaverei ablehnten. Sie waren halt leider nicht an der Macht. Aber dass es die Stimmen nicht gegeben hätte, die Argumente nicht bekannt gewesen wären, das kann man wirklich nicht behaupten.
Man könnte da zurückgehen bis zum Disput von Valladolid von 1550, aber im Rahmen dieser Reihe „Vor hundert Jahren …“ will ich einen Artikel aus der Berliner Volkszeitung vom 10. Juli 1921 zitieren.

Ach so, hier spricht nicht jeder Fraktur. Na, dann transkribiere ich das mal:
„Im Namen der Kultur“
Der Vernichtungskrieg in Afrika
Es gibt keine Kulturwidrigkeit, die nicht unter der Flagge der „Kultur“ begangen worden wäre. Keine Epoche, keine geistige Bewegung hat über den ganzen Erdball soviel Scheußlichkeiten verbrochen, als der koloniale Expansionsdrang der europäischen Nationen, die ihre oft schlimmen Vertreter in die Welt sandten, um Christentum in der Form von Badehosen und Zivilisation in der Gestalt von Gewehren, Schnaps, Seuchen und Sittenverderbnis zu verbreiten.
Huch, so viel „political correctness“, wie man das heute abschätzig nennen würde. Dabei sind kontemporäre Feuilletonisten gar nicht mehr so scharfzüngig wie vor 100 Jahren. Auch das übrigens ein Grund, um in den damaligen Zeitungen zu blättern. Und Badehosen sind fast so schlimm wie kurze Hosen.
Der Kern der Sache aber war das „Geschäft“. Auf diese Weise gingen die Buschmänner Südafrikas zugrunde. Erst wurden sie aus dem Lande ihrer Väter vertrieben, das Wild, von dem sie sich bescheiden nährten, indem sie nur soviel töteten, als sie unbedingt brauchten, wurde in Massen gemordet, und wenn die verhungernden Eingeborenen dann ein Stück Vieh stahlen, begann ein fürchterlicher Vernichtungskrieg gegen sie. […]
Auch im Hererofeldzug ist viel gesündigt worden. Die menschlich denkenden unter den Offizieren, wie der hochbegabte und leider zu früh verstorbene Adolf Fischer sahen es ein und erhoben ihre Stimme. Umsonst! „Es war keiner unter uns,“ schreibt er, „der nicht sah, dass hier zuviel geschehen war. Wer zu den Gehetzten des Sandfeldes gehört hat, wird den Glauben verloren haben, dass auf Erden Recht noch gilt. Noch heute, 1914, verfolgt man sie, nimmt ihre Kinder fort, lässt sie fern der Mutter aufziehen. […]“

Oh. Es scheint so, dass es doch nicht bis 2021, also genau hundert Jahre nach diesem Artikel, dauern hätte müssen, um herauszufinden, dass das deutsche Vorgehen gegen die Herero und Nama ein Völkermord war.
Zu der Denkmaldebatte habe ich bisher noch nicht ausführlich geschrieben, weil schon so viel geschrieben wurde. Wenn ich mal etwas dazu beitragen werde, dann aus der Perspektive desjenigen, der tatsächlich stundenlang unter, neben und manchmal auf Denkmälern sitzt. Dabei fällt einem nämlich so Einiges auf. Zum Beispiel die Söder-Denkmale überall in Bayern:

Links:
- Alle Folgen aus der Reihe „Vor hundert Jahren …“.
- Mehr Geschichte.
- Auf diesen Zeitungsartikel aufmerksam wurde ich durch diese Folge des Podcasts „Auf den Tag genau“, der jeden Tag eine Zeitungsmeldung von vor 100 Jahren sendet. Oft mit erstaunlich aktuellen Bezügen.
- Weil ich die Kongo-Konferenz erwähnt habe: Dieses Buch ist absolut empfehlenswert.
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sehr einfallsreiche Formulierung des Titels!👍👌
Aber etwas zu pauschal, wahrscheinlich. 🙂
Wie wahr, das alles! Es kommt aber immer darauf an, was man aus den entsprechenden „Überbleibseln“ macht. Als während der Samtenen Revolution in Prag ein Panzer rosa angestrichen wurde, hat mich das sehr begeistert, weil es aus meiner Sicht ein sehr subversiver Umgang mit den Unterdrückungssymbolen des kommunistischen Regimes war. In einer Konferenz von Historikern wurde 1991 in dieser Umbruchsituation auch der „richtige“ Umgang mit Denkmälern des Regimes diskutiert. Ich votierte dafür, den Panzer zum offiziellen Denkmal zu erheben und wurde fast ausgebuht. Zu viel Provokation und Respektlosigkeit gegenüber der ehrwürdigen Geschichte! Man wollte lieber die Denkmäler aus der Zeit des Historismus neu beleben. Der Student, der den Panzer rosa angefärbelt hatte, wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen, der Panzer auf ein Militärareal „verräumt“. Mutigen und produktiven Umgang mit den Zeugen der unrühmlichen Vergangenheit, das würde ich mir noch immer wünschen. Dazu braucht es aber Politiker mit Mut, historischem Bewusstsein und vor allem: Bildung.
Danke für diesen Einblick! Ich wusste weder von dem Panzer noch von der Diskussion 1991 etwas.
Vielleicht braucht es oft auch zeitlichen Abstand, denn jetzt wäre man vielleicht froh um so ein markantes, kreatives, einzigartiges Denkmal.
Die bemalten Teile der Berliner Mauer sind ja auch so etwas ähnliches, und man muss eigentlich froh sein, dass sie damals nicht komplett abgerissen wurde.
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