Ich habe kaum Ahnung von Afrika, war noch nie wirklich dort und habe auch keine diesbezüglichen Pläne (weil mir das tropische Klima mehr zusetzt als zusagt). Warum habe ich also die letzten Wochen ein 660-Seiten-Buch über die Geschichte des Kongo gelesen?
Weil mich Kongo – Eine Geschichte des belgischen Autors David van Reybrouck schon nach der Einleitung gefesselt hat wie ein Roman. In jedem Kapitel hat sich eine neue Welt aufgetan, aber auch ungeahnte Zusammenhänge eröffnet.

David van Reybrouck geht chronologisch vor, im Wesentlichen beginnend 1870, aber das Buch ist keines jener Geschichtsbücher, die Zahlen, Namen, Orte von Schlachten und Wahlergebnisse aneinanderreihen und die einen ratlos zurücklassen. Stattdessen verwebt er historische Fakten mit persönlich Erlebtem oder geführten Gesprächen und bettet alles in einen größeren Kontext ein.
Immer wieder war der Autor selbst im Kongo, hat auf Reisen nicht nur Politiker, Popstars und Akademiker getroffen, sondern auch mit ehemaligen Regimegegnern, vergewaltigten Frauen, Kindersoldaten und Zeitungsverkäufern gesprochen. Er flog durchs ganze Land, ging in die Slums, in die Villen, wagte sich in die Rebellengebiete und hörte Rentnern zu, die noch von der Kolonialzeit erzählen können.
So umfassend wie die Recherche, so umfassend ist der Anspruch. Nicht nur um große Ereignisse wie Krieg, Unabhängigkeit, Putsch geht es. Die Wirtschaft spielt natürlich eine Rolle, zuerst der Kautschuk, dann Kupfer, jetzt Coltan. Der Kongo produzierte immer, was die Welt benötigte. Aber auch die Kulturgeschichte, von Musik zum Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman, von der Zairisierung unter Mobutu bis zu den unterschiedlichen Kirchen, Sekten und Predigern nimmt einen breiten Raum ein.
Das alles wird in globale Zusammenhänge eingebettet, natürlich angefangen mit Sklavenhandel und Kolonisierung. Aber auch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg spielte Belgisch-Kongo eine entscheidende Rolle, nicht nur als Lieferant des Urans für die amerikanischen Atombomben. Im Ersten Weltkrieg wehrte der Kongo deutsche Eroberungsversuche ab. Im Zweiten Weltkrieg befreiten kongolesische Truppen Äthiopien und durchquerten die Sahara bis nach Ägypten, wo sie die Briten verstärken sollten. Unmittelbar mit der Unabhängigkeit 1960 fiel der Kongo dann in den Strudel des Kalten Kriegs. Und Mobutu bemerkte erst, dass seine Zeit um war, als er im Fernsehen die Exekution seines rumänischen Freundes Ceaușescu sah. Ohne die Geschichte von Ruanda und Burundi ist die jüngere Vergangenheit des Kongo nicht zu verstehen. Und am Ende fliegt van Reybrouck nach China, um dort arbeitende und lebende Kongolesen zu besuchen. Von der Kongo-Konferenz in Berlin zur Globalisierung in Guangzhou wird hier ein ganz großer Bogen geschlagen, und man versteht mehr nicht nur über ein Land, sondern über die Welt.
Dazwischen stößt man immer wieder auf Kuriositäten, die die traurige Geschichte des Landes, das mehrfach umbenannt aber immer ausgeplündert wurde, auflockern. Ich führe hier nur zwei auf, die überraschende Bezüge zu Deutschland bieten. So hatte das Deutsche Kaiserreich ein Schiff in den Tanganjika-See gebracht, das im Ersten Weltkrieg den Kongo angriff und 100 Jahre später noch als Fähre Dienst tut.
Oder wusstet Ihr, dass seit 1977 ein deutsches Unternehmen etwa 5% des kongolesischen Staatsgebiets gepachtet hatte, um von dort Weltraumraketen ins All zu schießen? Unterstützt vom Bundesforschungsministerium konnte die OTRAG walten wie ein Kolonialherr: Zoll- und Steuerfreiheit, juristische Immunität, und das Unternehmen durfte sogar Einheimische umsiedeln, wenn sie im Weg waren.
Aber der dritte Teststart schlug fehl – vor den Augen des Diktators.
Alles in allem bietet das Buch die brillante Darstellung eines widersprüchlichen Landes, das weder auf die gebotene Komplexität verzichtet, noch den Kongo als reinen Katastrophenschauplatz abtut. Spannend, lehrreich und gut geschrieben, eine absolute Empfehlung! Und die Fortbildung lässt sich von zuhause aus genießen, ganz ohne tropische Regenfälle, giftige Schlangen und Flugscham.
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- Vielen Dank an die Leserin, die mir das Buch geschickt hat! Falls sich noch jemand für meine unermüdliche aber ermüdende Bloggerei bedanken möchte, hier findet Ihr meine aktuelle Wunschliste.
hahaha, ein neues ‚aktuelles’Wort:Flugscham!
Immer am Puls der Zeit, auch ohne Ei-Phone!
Read „The State of Africa“ by Martin Meredith recently. As you say, fesselnd. This is all of Africa since independence but Congo plays a big role. Alarming really, how little we know about this giant continent on Europe’s doorstep.
Ich kenne zwei Bücher van Reybroucks und bin von allen beiden beeindruckt: „Zink“ (über den staatenlosen Erdzipfel Neutral Moresnet) und „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ (Streitschrift für eine aleatorische Demokratie).
„Zink“ habe ich vor kurzem auch gelesen, weil ich ein paar Tage in Kelmis auf den Spuren Neutral-Moresnets war. (Ausführlicher Artikel folgt irgendwann mal.) Und „Gegen Wahlen“ interessiert mich auch.
Ich glaube, „Kongo“ würde dir dann wirklich gefallen. Es ist ein Recherche- und schriftstellerisches Meisterstück.
Über eine Reise nach Neutral Moresnet gibt es übrigens auch einen guten Roman von Dagmar Leupold: „Grüner Engel, blaues Land“.
Das Buch fand ich auch großartig! Und es ging mir ähnlich, vorher nie groß was von Afrika, geschweige denn vom Kongo gewusst. Empfehlen würde ich auf jeden Fall auch alles von Ryszard Kapuscinski zum Thema Afrika. Auch wenn er natürlich teilweise wild fabuliert und nicht ganz so faktentreu sein soll … ein packender Einstieg ist es allemal, und wenn man dann mehr weiß, kann man ja auf fundierteres umsteigen.
Oh ja, Kapuscinski ist einer meiner Lieblingsreporter! Ich bin gerade unterwegs und habe zufällig eines seiner Bücher im Rucksack.
So einen Kapuscinski sollte man im Prinzip immer dabei haben : )
Oder/und Egon Erwin Kisch!
Mit dem kann ich wieder nichts anfangen. Aber vielleicht kommt das noch. Immerhin leb
ich in seiner Geburtsstadt, da werd ich ihm auf jeden Fall noch eine Chance geben.
‚Kongo – Eine Geschichte‘ ist ein großartiges Buch. Gut recherchiert, toll geschrieben und voller Empathie. Sollte eigentlich jeder lesen, denn er zeichnet auch gut Muster auf.
Fast hätte ich ihn auf der ILB gesehen und gehört – aber leider wurde der Zeitplan in letzter Minute umgeworfen. Was sehr schade war, denn es waren Schülergruppen eingeladen. (Mich rief man fünf Minuten vor dem Termin an im Irrglauben, ich sei eine Lehrerin. Ich war allerdings nur privat unterwegs.
Anyway, je mehr Leute das Buch und dieses blog lesen, desto besser! Ihnen alles Gute und genießen Sie Länder und Geschichte! Ich lese Sie ausgesprochen gern, wenn auch sporadisch 🙂
Vielen Dank! Aber ich schreibe ja leider auch nur sporadisch. 😉
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