Geburtstagswanderung von Wien nach Bratislava

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Die ganze Nacht hatte es gestürmt und gewittert. Das war gut, denn so war die Luft am Morgen frisch, und es hatte gegenüber dem drückenden Julidurchschnitt um wohltuende zehn Grad abgekühlt. Perfekt zum Wandern.

Andererseits hingen noch immer dunkle Wolken über Wien, die sich jederzeit wieder aquatisch und elektrisch entladen konnten. Es gab eine Sturm- und Gewitterwarnung. Weniger gut zum Wandern.

Aber das war alles egal, denn die Entscheidung zum Aufbruch fiel nicht nach Wetterlage, sondern nach dem Kalender. Der 6. Juli ist mein Geburtstag, und es ist Tradition, dass ich an jenem Tag ein neues Land bereise, bevorzugt alleine. Da ich den Sommer über in Wien weile, ist die Slowakei das einzig nahe Land, das ich bisher noch nicht kannte. Nach Bratislava gehen Züge, Busse, Schiffe, aber diese Optionen würde ich mir für die Rückfahrt aufheben. Angespornt durch eine kürzlich absolvierte 24-Stunden-Wanderung blickte ich kurz auf die Karte (Bratislava schließt sich rechts an die untenstehende Kate an) und dachte mir: „Das kann man zu Fuß gehen.“ Nebenbei könnte ich so den Nationalpark Donau-Auen kennenlernen.

karte-donauauen

Dieser Entscheidungsprozess lief am Abend des 5. Juli an, denn irgendwie kommt dieser Geburtstag doch jedes Jahr überraschend. Um am nächsten Morgen keinen Rückzieher machen zu können und den Feiertag im Schaukelstuhl und mit Sachertorte zu verbringen, veröffentlichte ich das Vorhaben flugs auf Facebook. Die Vorbereitung beschränkte sich auf das Einpacken von Brot, Wurst, Käse, Mohrrüben und Zigarren.

Um 6:07 Uhr schaffe ich es am 6.7. aus dem Haus, verschlafen, aber stolz, so früh schon unterwegs zu sein. In der Straßen- und U-Bahn (ich musst ja erst einmal auf die richtige, also nordöstliche Seite Wiens gelangen) merke ich, dass Millionen Menschen ebenfalls schon auf den Beinen sind. Zur Arbeit, zum Flughafen, zur Uni und zur UNO. Dabei läge der Nationalpark so nah vor den Toren Wiens. Ist das keine tägliche Verlockung, den Schraubstock oder Schreibtisch hinter sich zu lassen, das Telefon auszuschalten und stattdessen den ganzen Tag im Wald herumzuspazieren? Anscheinend nicht.

Der Nationalpark hat sich hauptsächlich am Nordufer der Donau ausgebreitet, also wähle auch diese Seite. Ich will in der Natur und nicht neben der Straße laufen, wo schlimmstenfalls noch ein Auto anhält, mich mitnimmt und den sportlichen Plan zerstört. Der Weg verläuft anfangs auf einem Damm, der zum Hochwasserschutz dient. Hier bin ich also sicher, selbst wenn es den ganzen Tag regnen sollte. Auf so einem Damm entlang zu laufen, ist angenehm, weil man sich über die Orientierung keine Gedanken machen muss, weil keine Autos kreuzen und weil wegen der leicht erhöhten Lage ein Lüftchen weht, dass die Mücken vertreibt.

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Außerdem haben für mich als Bayern so Dämme durchaus etwas Exotisches an sich. Bei uns, wo wir von allen Europäern am weitesten entfernt vom Meer wohnen, gibt es nur Kartoffeläcker, keine Dämme und Deiche mit Ausblick auf Überseedampfer.

Auch der Donauradweg verläuft auf diesem Damm. Nur heute nicht, denn heute wird repariert und gebaut, ausgebessert und aufgeschüttet. Die Hochwasser werden immer höher (z.B. 2013), was auch daran liegt, dass all die Menschen, die ich morgens in der U-Bahn sah, lieber noch mehr Häuser und Parkplätze als Nationalparks bauen. Danke, Ihr Immobilienspießer! Dafür müssen die Bauarbeiter jetzt schuften wie die Biber.

Nach Schönau baut sich die erste Hürde auf meinem Weg auf. Vielleicht ein Zeichen, dass ich umkehren oder aufgeben sollte, aber das kommt jetzt nicht mehr in Frage. Außerdem wird sich die Dammsanierung vielleicht noch Jahre hinziehen, und ich bin nur diesen Sommer in Wien.

„Ja, wo möchten Sie denn hin?“

„Nach Bratislava.“

Die beiden k.u.k. Vermessungsingenieure sind gar nicht einmal so erstaunt, wie ich erwartet hätte. Es sind ja auch nur maximal zwei Tagesmärsche. Und mein Rucksack legitimiert mich als Wanderer, nicht als Hochwasserschutzsaboteur.

„Eigentlich müssten Sie da jetzt außenrum gehen, auf der Straße. Der Radweg ist auf 30 km gesperrt. Aber auf der Straße ist es ehrlich gesagt nicht so schön zum Wandern.“

Umleitung

„Ich wäre schon gerne durch den Nationalpark gewandert“, versuche ich zu flehen, auch weil ich merke, dass der Herr Zivilingenieur ganz verständnisvoll und nett ist.

“ Na gut. Dann geh weiter! Aber lauf in keinen Bagger rein und brich Dir kein Haxn.“

Ich bedanke mich, aufrichtig und hocherfreut, aber nach ein paar Kilometern finde ich dann doch einen Weg runter vom Fahrradweg und in den Wald. So praktisch ist dieser Nationalpark gar nicht, denn es gibt kaum sinnvolle Wanderwege. Die meisten sind nur Stichwege, die den Fernwanderer in die Irre und den Tod führen.

Das mit dem Tod ist nicht übertrieben. Nah am Wasser und sich der Mittagszeit nähernd, sind Flora, Fauna und Klima wie am Amazonas, mit all den Gefahren, die der Amazonas mit sich bringt: Sumpf,

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Treibsand, Schlangen, Löcher aus denen noch mehr Schlangen kommen,

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fleischfressende Pflanzen,

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Ratten,

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Kakerlaken, Giftkäfer

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und Taranteln.

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Immer wieder endet der Weg im Dschungel oder vor der reissenden Donau, in die sich zu werfen angesichts der Moskitoschwärme ein verlockender Gedanke ist. Aber ich kann nicht schwimmen.

Endlich erspähe ich einen Wegweiser. Hoffnung auf Zivilisation! Aber als ich näher komme, erkenne ich gerade noch rechtzeitig die Falle: Alle drei Pfeile weisen zum gleichen Ort. Das ist die Art von Indianerfalle, vor der Karl May gewarnt hat! Der unvorsichtige Wanderer soll damit in einen Hinterhalt gelockt werden, wo er dann aufgespießt und verspeißt wird.

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Aber ich bin schlauer und schlage mich in die vierte Richtung durchs Gebüsch. Nach einer verfluchten und fluchenden weiteren Stunde erreiche ich wieder das Ufer der Donau und sogar Reste einer einstigen Siedlung. Ich fühle mich, wie wenn ich nach etlichen Tagesmärschen Fordlandia erreicht hätte.

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Die Einwohner sind schon alle tot oder weitergezogen, aber das Höchstmaß an Luxus, das ich mir für den Geburtstag wünsche, haben sie zurückgelassen: eine Hängematte.

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Zeit für die erste Pause. Nach Bratislava sind es etwa 60 km. Das dürfte eigentlich in 24 Stunden zu schaffen sein. Aber wenn ich durch die Nacht laufen will, muss ich tagsüber ein bisschen schlafen. Überhaupt liegt mir dieser Rhythmus bei Mehrtageswanderungen mehr. So benötige ich weder Zelt noch Schlafsack. Wenn es kalt ist, bleibe ich in Bewegung, um nicht zu erfrieren. Tagsüber schlafe ich ein paar Stunden in einer warmen Wiese, im Park oder eben in einer Hängematte. So tanke ich Energie und Wärme – und übrigens auch Glück und Zufriedenheit. Probiert es einfach mal aus!

Auf der Höhe von Orth lockt eine Fähre, die mich nach Haslau am Südufer übersetzen würde. Ein Blick auf die Karte offenbart, dass dies die einzige Möglichkeit vor der Brücke ganz im noch weiten Osten des Nationalparks, ist. Sollte ich die nächsten 15-20 km am Nord- oder am Südufer gehen? So weit hatte ich nicht geplant. (Planung verdirbt das Abenteuer.) Aber wegen des gesperrten Radwegs und der Amazonasschwüle hatte ich den Norden schon satt. Es war Zeit für etwas Neues.

„Sind Sie der Fährmann?“ frage ich also den Hemingway an seinem Boot.

Er bejaht, wirft zuerst einen Tschick und dann den Motor an. Mit 115 PS zieht er gelassen an der Fluppe und vor dem unter litauischer Flagge fahrenden Dampfer „Korsika“ vorbei. Allein der Spaß ist die Überfahrt wert. „Das ist noch gar nichts“, erwidert der Kapitän. „In der Bucht dort drüben habe ich noch ein 500-PS-Boot.“ Ende Juli wird mich ein motorenfanatischer Freund in Wien besuchen, dafür merke ich mir das mal vor.

Die Fähre fährt übrigens jeden Tag bis 18 Uhr, kostet 4 € und ist unter 0664-421-0058 zu erreichen, falls Ihr am Südufer gestrandet seid und Richtung Orth übersetzen möchtet. Für mich sollte es die letzte motorisierte Hilfe auf dieser Wanderung bleiben.

Der Schiffsverkehr auf der Donau ist rege und international. Die „Зеленодольск“ aus der Ukraine fährt Stahl. Die „Rossini“ fährt Passagiere. Belgische, rumänische, estnische Flaggen rauschen vorbei, wie beim Eurovision Song Contest. Flußabwärts geht es schneller, logisch, aber in beide Richtungen sind die Schiffe zügiger als ich dachte. Meine atlantiküberquerenden Kreuzfahrten waren lahme Enten dagegen.

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Der Süden ist dann tatsächlich etwas zivilisierter als der Norden. Teilweise gehe ich auf einem Weg, der fast wie eine Römerstraße aussieht. Sollte hier einst tatsächlich die Grenze des Römischen Reichs verlaufen sein, mit der Donau als Naturlimes?

Römerstraße

Immer wieder laufe ich an kleinen Häusern vorbei, die auf Hochwasserschutzstelzen stehen. Eindeutig auch hier der römische Einfluss, von Venedig abgeguckt.

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Diese Häuschen sind unbewohnt und werden anscheinend allenfalls an Wochenenden von Anglern und Grillern frequentiert. Als Haus-, Wohnungs- und heute sogar Obdachloser finde ich solche Wochenendhäuser eine schreiende Ungerechtigkeit und Vergeudung von Wohnraum. Das gleiche Gefühl beschleicht mich immer, wenn mich der Weg durch Kleingartenkolonien führt. Da stehen Häuser, die mir von Umfang, Ausstattung und Lage absolut adäquat, ja oft richtig schön, für den Lebensmittelpunkt erscheinen. Aber während ich und meine Vagabundenkollegen unter Brücken oder auf Güterwaggons erfrieren, hält sich die Bourgeoisie Zweitpaläste für ihre Orgien warm. Diese Revolution, deren hundertjähriges Jubiläum wir heuer feiern, ging wohl nicht weit genug. Aber auch ich bin heute nicht revolutionär aufgelegt und spaziere an den Hütten vorbei, ohne den Hausfrieden zu brechen. Außerdem regnet es nicht, so dass ich gerade keinen Unterstand benötige.

Außerdem macht eine Rast ohne Haus oder sonstigen Besitz- oder gar Eigentumsballast viel mehr Spaß. Wo es mir gefällt, lasse ich mich nieder. Wenn es mir nicht mehr gefällt, ziehe ich weiter. Manchmal fragen mich Leute, ob ich angesichts meines Lebensentwurfs kein „Zuhause“ vermisse, und ich verstehe die Frage kaum, denn ich habe hunderte, tausende, ja fast ungebrenzt Zuhauses in allen Wäldern und auf allen Wiesen und Bergen dieser Welt, vom Titicaca-See bis zu den Karpaten. Und das alles ohne Immobilienmakler, Hypotheken und Mietverträge.

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Auch die Römerstraße, temporäre Hoffnung auf ein schnelles Vorankommen, endet früher oder später wieder in der grünen Hölle. Zwischen Regelsbrunn und Wildungsmauer verliert sich der Weg endgültig im Dickicht. Das kommt von diesen Naturschutz- und Nationalparkideen. Wenn doch nur die Römer noch das Sagen hätten!

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Nach Wildungsmauer gebe ich auf und gehe an der Straße entlang, bis die Landschaft dem Namen der Ortschaft entspricht. Etwa einen Kilometer schleppe ich mich auf der Straße ich an einer Mauer entlang, die mich an Wanderungen in Großbritannien erinnert. Sollte hier tatsächlich auch Kaiser Hadrian gebaut haben?

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Warum steht mitten im Kornfeld ein Theater?

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Und was sollen die toskanischen Pappeln hier?

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Tatsächlich bin ich in einer römischen Stadt gelandet, in Carnuntum. Mittlerweile hat die Stadt allerdings geheiratet und trägt einen dieser nervigen Doppelnamen, sie heißt jetzt Petronell-Carnuntum.

Das Amphitheater ist schon mal sehr verlockend als Schlafstelle. Wunderbar weiches Gras, wie Samt fühlt es sich unter den nackten Füßen an. Schöne Blumen statt Dschungelungetier. Ein höher gelegener Punkt mit kühlendem Wind, aber mit schützenden Kuhlen für die Nacht. Und das Rauschen der Pappeln.

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Innerhalb des Amphitheaters steht ein riesiges Zelt, falls es regnen sollte. Es ist so groß, dass sogar noch andere Tippelbrüder Unterschlupf fänden. Da fällt mir erst auf, dass ich den ganzen Tag keinen Kollegen gesehen habe. Arbeitet denn gar niemand mehr als Landstreicher? Dabei würde das Amphitheater je nach Informationstafel 12.000, 13.000 oder 15.000 Menschen fassen.

Es ist zwar erst nach 18 Uhr, aber dunkle Wolken schieben sich vor die Sonne, wie wenn just in diesem Moment das Klimaoptimum der Römerzeit in das Pessimum der Völkerwanderungszeit umschlagen würde.

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Hier könnte ich jetzt eigentlich glücklich einschlafen, aber dann wäre ich um Mitternacht wieder wach. Naja, ich bleibe erst einmal zum Abendessen an diesem schönen Ort. (Eine Schachtel Karotten ist übrigens billig und gesund, aber wirklich langweilig.)

Während ich so meine weiteren Schritte überlege, donnert es. Noch fern, aber jetzt weiß ich, weshalb der Wind so stark kühlt: Ein Sturm zieht herauf. Mit dem Sturm kommt der Drang, in diesem Fall der Drang zum Weiterziehen.

Und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, war ein Fehler.

Durch Erfahrung klug geworden kann ich jetzt den Ratschlag geben: Wenn Ihr einen trockenen und geschützten Platz gefunden habt, legt Euch dort zur Ruhe, auch wenn die Schlafenszeit noch nicht gekommen ist. Es wird nicht besser!

Aber ich hatte auf der Karte bei Bad Deutsch-Altenburg, dem nächsten Ort, nur etwa 3 km entfernt, ein paar Höhlen entdeckt, in die ich mich retten wollte. So lief ich viel zu schnell und oberflächlich durch Petronell-Carnuntum, vorbei an Römermuseen, romanischen Kirchen und leider geschlossenen Burgen.

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Patrick Leigh Fermor war auf seiner Wanderung in solche Paläste eingeladen worden, und ich werde nicht ruhen, bis mir auch eines Tages solch ein Glück zuteil wird.

Am späten Nachmittag klopfte ich an das Tor von Schloss Deutsch-Altenburg, in einem Wäldchen direkt am Donauufer. Wiener Freunde hatten den Schlossherrn gebeten, mir ein Nachtquartier zu geben, und der alte Graf Ludwigstorff überließ mich nach einer freundlichen Begrüßung seiner hübschen Tochter Maritschi.

Der Regen wird stärker, ich werde schneller, um noch den Wald am Donauufer zu erreichen. Dort werde ich immer am Fluss entlang nach Osten laufen, hoffentlich ohne aufzuweichen, ohne in die Donau zu fallen, und ohne von Wildschweinen angegriffen zu werden.

Und dann passiert etwas, was mich vollkommen schockiert!

Ihr erinnert Euch an den Plan, tagsüber zu ruhen und nachts durchzulaufen, um der Kälte ein Schnippchen zu schlagen? Ein schlauer Plan, zugegeben. Nur einen Punkt hatte ich nicht bedacht: Nachts wird es dunkel.

„Ja klar“, sagt Ihr jetzt, aber so klar ist das nicht. Wenn man länger in der Großstadt wohnt, kann man das schon mal vergessen, weil auch nachts alles leuchtet. In Wien kann man nachts sogar noch im Park sitzen und ein Buch lesen, so hell wird man angestrahlt. Aber jetzt bin ich weit weg von Wien, weit weg von Parks, und weit weg von Lampen. Der große, runde Scheinwerfer da oben leidet gerade unter Mondfinsternis, und so wird es zuerst grau, dann dunkelgrün, dunkelbraun und schließlich schwarz. Pechschwarz. Und es schüttet. Ihr erinnert Euch an die Gewitterwarnung? Die Meteorologen haben Recht behalten. Nur mit ein ganz wenig Restlicht kann ich verhindern, dass ich in die Donau links neben mir falle. Ein falscher Schritt, und der Geburts- würde zum Todestag werden. Ein Wolkenbruch, durchzuckt von Blitzen, in deren kurzen Schein sich immer wieder zeigt, wie gefährlich nah am Wasser ich bin. Ein Wildschwein, ein Fuchs, ja selbst ein Hase, der mich erschreckt, alles könnte das Ende bedeuten. Wenn Donner und Blitz simultan zu- und einschlagen, weiß ich, dass die Himmelsmonster direkt über mir sind, wie wenn sie die einzige Seele aufgesucht haben, die sich diese Nacht in den dunklen Wald getraut hat. Und immer wieder tritt die Gefahr der Überschwemmung in den Hinterkopf.

Irgendein Schlaumeier in seinem Sessel wird jetzt fragen, „wieso nimmt der Depp denn keine Lampe mit?“ Nun, ich hatte schon eine Lampe dabei, aber wenn man allein im Wald ist, macht man sich dadurch erst recht zum Ziel für Scharfschützen. (Ich näherte mich immerhin der NATO-Außengrenze.) Ich zückte die Lampe nur einmal, um dieses Video aufzunehmen. Man beachte den Blitz, bevor ich das Licht anknipse.

Als ich total erschöpft Bad Deutsch-Altenburg erreiche, fängt es erst so richtig zu schütten an. Und hört nicht mehr auf. Eine halbe Stunde verstecke ich mich unter dem dicksten und schützendsten Baum im Park, aber dann dringen die Tropfen auch da durch. Ohne meinen Zauberhut macht der Regen einfach keinen Spaß.

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Ich laufe durch die Hauptstraße. Ein Restaurant+Gasthof ist gerade am Schließen und Staubsaugen. Ob noch ein Zimmer frei sei, frage ich. „Leider nein.“ Der Herr und die Dame sehen, wie patschnass ich bin, sehen, dass es stürmt und gewittert, aber eine Einladung, in der Gaststube zu nächtigen, erfolgt nicht. In Montenegro oder dem Iran wäre das nicht passiert, und ein Rakija oder ein Tee wäre auch noch drin gewesen.

Weiter ziehe ich durch das altdeutsche Dorf, denn der Weg zu den Höhlen ist mir jetzt zu dunkel, nass und gefährlich, aber um 22 Uhr sind schon alle Gaststätten geschlossen und die Fenster dunkel. Bei einer der „rund um die Uhr für Sie da“-Nummern an einem Hotel rufe ich an, aber niemand meldet sich. Dieses Dorf ist echt das sinnloseste Kaff Österreichs. Ich plädiere dafür, es zu Bombentestzwecken freizugeben.

Dann sehe ich die Rettung: eine Telefonzelle. Dass es so etwas überhaupt noch gibt! Als ich einsteige, merke ich sogleich, dass sie jedoch nicht mehr zur Telekommunikation, sondern als Aufzuchtstation für Giftspinnen (die ganz großen mit dem Kreuz) dient. Auch nicht ideal für eine lange Nacht. Lieber nass und kalt als gelähmt oder tot.

Die allerletzte Rettung ist der Bahnhof. Dort gibt es tatsächlich ein Glashäuschen auf dem Bahnsteig, sogar mit Tür, also windgeschützt und trocken. Ein letzter Zug kommt heute Abend noch vorbei, die S7 nach Wolfsthal um 23:22 Uhr. Das läge sogar auf meinem Weg und verlockend nah an Bratislava. Aber erstens wäre das gegen die Regeln, zweitens weiß ich nicht, ob es dort einen Unterstand gibt, drittens würde ich so den schönsten Teil der Strecke verpassen (soweit ich die Landkarte richtig interpretiert habe). Weniger regnen wird es in Wolfsthal auch nicht, eher gibt es dort noch mehr Wölfe. Wenn es morgen früh noch regnet wie bei Noah, muss ich den kleinen Ausflug sowieso abbrechen.

Nachdem die S7 weg ist, bleibt das Wartehäuschen geöffnet und beleuchtet. Danke, ÖBB! So verbringe ich also meinen Geburtstag. Nass und kalt habe ich nicht einmal Lust auf eine der mitgebrachten Zigarren. Zu trinken gibt es in diesem Kaff übrigens auch nichts.

Gegen Mitternacht wird der Regen noch stärker (er ist jetzt auf tropischem Regenzeitniveau). Wenn ich noch unterwegs gewesen wäre, hätte ich vielleicht sogar eine Überschwemmung erlebt. Fehlt nur noch ein Erdbeben zum perfekten Geburtstag.

Oh, die Anzeigetafel kündigt schon den nächsten Zug an: Die S7 nach Wien um 6:11 Uhr. Wieso fahren eigentlich nachts keine Züge, obwohl die Gleise rund um die Uhr zur Verfügung stehen? (Für solche Verbesserungsvorschläge sollte ich mit einer Österreichcard belohnt werden.)

Was mache ich jetzt die ganze Nacht? Die Bänke/Sitze sind nicht zum Hinlegen geeignet, und es wird stündlich kälter werden. Eine ganze Nacht ohne Schlaf war als Student und Rechtsanwalt normal, aber jetzt ist es fast unschaffbar. Zum Glück habe ich einen dicken Wälzer dabei. Sechs Stunden Habsburgergeschichte, das wird hart.

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Bald gewinnt die Müdigkeit. Ich lege mich einfach auf den Steinfußboden, mit dem Ruckack als Kopfkissen. Sofort schlafe ich ein. Erst um 2:30 Uhr wache ich das erste Mal auf, so unbequem kann es also nicht sein. Und das Beste: Es hat zu regnen aufgehört! Aber ich fühle mich auf dem blanken Beton und ohne Decke so wohl wie in einem Bett und will oder muss noch weiterschlafen. Hoffentlich wird der kommende Tag sonnig, so dass bald eine trockene Wiese zu finden sein wird. Denn ohne eine solche Rast wäre es auf keinen Fall drin, die noch fehlenden etwa 20 km nach Bratislava zu gehen.

Um 3:50 Uhr fühle ich mich schon fitter. Oder ich will einfach weg von diesem Ort. Die Vögel zwitschern schon, also packe ich den Rucksack und ziehe los, noch ins Dunkle hinaus.

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Dieses Dunkle ist auch weiterhin tückisch, denn neben dieser Kirche wollte ich übers Feld laufen. Es sieht nach einer Abkürzung aus, findet Ihr nicht auch?

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Zum Glück stand da ein Zaun, der mich zum Außenherumlaufen zwang. Denn als ich auf der anderen Seite angekommen war, erkannte ich, dass hinter der Kirche eine steile Klippe abfiel (vielleicht auch von den Römern erbaut, so wie die in Dover). Mit diesem perfiden Trick füllt dieses Kirchlein wahrscheinlich seinen Friedhof.

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An wie vielen gefährlichen Stellen ich wohl letzte Nacht im Dunkeln knapp vorbeigestolpert bin? Mit meinem Glück sollte ich die nächste Wanderung durch ein Minenfeld machen.

Jetzt kann ich Euch mitteilen, dass es in Mitteleuropa im Sommer um 4:30 Uhr hell wird und dass Ihr mit jeder darüber hinausgehenden Stunde Schlaf beste Lebenszeit vergeudet. Und es sieht nach einem wunderschönen Tag aus!

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Um 6 Uhr bin ich schon in Hainburg. Bis auf die schönen Ausblicke auf Donau und Burgen nützt mir das aber nichts, weil noch kein Laden offen hat. Dies ist der letzte Ort vor Bratislava. Ohne einige Liter Wasser kann ich das letzte Teilstück nicht angehen. Auf der Suche nach einer Tankstelle, einem Supermarkt oder einem hochmotivierten 24-Stunden-Dönerladen ziehe ich durch die Stadt. Fehlanzeige. Lidl und Hofer öffnen um 7:40, Penny um 7:30, also bleiben mir noch eineinhalb Stunden.

Dann sehe ich mir eben Hainburg an. Zwischen den drei Supermärkten steht das Pestkreuz, zum Gedenken an Pest von 1679. Wahrscheinlich hat sich die Pest nur ausgebreitet, weil die Märkte geschlossen waren und niemand Medizin, Impfstoffe oder Seife kaufen konnte.

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„Altes Kloster“ steht an einem Gebäude, das eher wie eine Kaserne für eine gesamte Infanteriedivision aussieht. Überhaupt ist es eine imposante Stadt, die ausweislich ihrer Gebäude mal militärisch bedeutsam war.

Wegen des Hochwassers fährt die Eisenbahn hier auf der Stadtmauer.

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Vor der Kirche finde ich endlich einen Trinkwasserbrunnen, aber leider habe ich meine leeren Flaschen schon weggeworfen. Ein schwerer Fehler, der mich einige Stunden kostet. Wie ein Anfänger, peinlich.

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Vor dem Penny-Supermarkt, dessen um 10 Minuten frühere Öffnungszeit sich auszuzahlen scheint, versammeln sich schon die Hungrigen. Eine Frau, die ständig mit ihrem Minihund und auf den Regen von letzter Nacht schimpft (da stimme ich zu), will gar nicht glauben, dass man allein Wandern geht. „Ist das nicht gefährlich?“ Nein, nur nass.

Ich müsse sehr aufpassen, wenn ich nach Bratislava käme, warnt sie mich: „Die Leute dort stehlen alles. Nachts können Sie da nicht auf die Straße gehen, sonst werden Sie erschlagen.“ Bei solch dramatischen Prophezeiungen kann ich meinen amüsierten Unglauben nicht verhehlen. „Doch, doch, glauben Sie mir,“ insistiert die Apokalyptikerin, „meine Schwiegertochter ist Slowakin.“

Dann öffnet der Supermarkt, und die Österreicherin, die Angst vor den nahen Nachbarn hat, steckt ihren Hund in den Einkaufsbeutel. „Sonst kann ich ihn nicht mit reinnehmen, weil Hunde im Supermarkt nicht gestattet sind.“

Drei Liter Wasser und eine Tafel Schokolade müssen reichen, auch weil sonst das Geburtstagsbudget gesprengt würde.

Am Ausgang von Hainburg, schon wieder an der Donau, wartet ein älterer Mann mit Hund auf mich. Er schimpft weder mit seinem Hund, noch über sonst etwas, sondern begrüßt mich freundlich: „Wir haben Sie schon von Weitem gesehen, und waren neugierig.“ Ich erzähle ihm, wohin ich gehe, und er freut sich für mich: „Da haben Sie eine schöne Strecke vor sich, im doppelten Sinn“, grinst er aufmunternd. „Aber in Bratislava können Sie sich dann erholen.“

Dieses Phänomen habe ich immer wieder erlebt: Menschen, die grundsätzlich eher ängstlich, pessimistisch oder negativ sind, haben auch Angst vor Fremden und der Fremde. Menschen, die eher positiv, optimistisch und fröhlich veranlagt sind, freuen sich eher über das Fremde und Neue. Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Grundeinstellung mehr mit der Meinung gegenüber Fremden, Ausländern oder Flüchtlingen korreliert als alle politischen Einstellungen.

Wie erwartet hat der fröhliche Mann Recht und die missmutige Frau Unrecht. Gefährlich ist das Alleinwandern nicht, aber der Weg ist tatsächlich der schönste Abschnitt des ganzen Wochenendes. Weit weg von der Straße, von Dörfern, von Verkehr geht es auf kleinen Pfaden durch Laubwälder, durch in den Fels gehauene Durchgänge und durch ein Meer aus dutzenden Schattierungen von Grün.

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Und dann ein Ausblick, der für alle Strapazen entschädigt, der die harte Nacht, das Stapfen durch den Regen, den Durst und die Verzweiflung vergessen macht.

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Hier lasse ich mich nieder!

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Gegenüber ist schon die Slowakei, genauer die Burg Devín (auf Deutsch: Theben) am Zusammenfluss der beiden Grenzflüsse March und Donau. Hier liegen – Achtung, geschichtsverfälschender Nationalismuskitsch – die Wurzeln der slowakischen Nation, die sich hier aus dem Großmährischen Reich entwickelt hat. Devín war über Jahrhunderte Pilgerstätte und Projektionsort slowakischer Rebellen und Dichter, die hier an der Identität des zu schaffenden Staates bastelten.

Jedenfalls sollte eigentlich hier die Hauptstadt sein, nicht in Bratislava. Ist sie aber nicht. So habe ich noch ein paar Stunden vor mir, weniger wegen der Entfernung (7 oder 8 km), als wegen Müdigkeit und Mittagshitze.

Die Grenze wird die Grenzschutzfanatiker, deren Zahl in Österreich zu- dann aber bei eigenen Urlaubsreisen wieder abnimmt, übrigens enttäuschen. Man läuft da einfach durch den Wald, ohne Zaun, ohne Stacheldraht, ohne Hunde, ohne Grenzposten, ohne Pass, ohne Stempel, ohne Schlagbaum, ohne Schießbefehl. Es hängt noch ein slowakisches Schild am Baum, das österreichische ist schon abmontiert.

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„So eine Sauerei! Da kommen die ganzen Horden zu uns“, würde die wütende Frau vor dem Supermarkt wahrscheinlich sagen. Und der freundliche Herr am Fluss würde antworten, dass es doch schön sei, dass wir jetzt alle Europäer sind und niemand mehr erschossen wird oder in der Donau ertrinken muss. Nicht einmal die Hasen haben noch Angst vor dem Tod im Kugelhagel.

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Auf der slowakischen Seite entdecke ich dann tatsächlich noch richtige Grenzschutzanlagen, die 1938 jedoch den deutschen Einmarsch nicht verhindert haben.

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Gegen das Münchner Abkommen hatte selbst der dickste Betonbunker keine Chance. (Wer mehr davon sehen will, für den gibt es das Museum der Tschechoslowakischen Befestigungsanlagen.) Tja, wenn die Deutschen damals doch mehr Geduld gehabt und noch zwei Generationen gewartet hätten. Jetzt kann jeder, der will, in die Slowakei wandern, dorthin umziehen, sich niederlassen, und das alles ohne Krieg und Völkermord. Und dazwischen war hier zwei Generationen lang das Ende Westeuropas bzw. Osteuropas, eine fast undurchdringliche Grenze. Solchen ernsten Gedanken hänge ich nach, als Bratislava zum ersten Mal Sichtkontakt herstellt.

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So eine Wanderung ist wie ein Marathon. Die letzten Kilometer hauen ganz schön rein. Ich hätte den ganzen Tag gegenüber der Burg Devín bleiben sollen, unter den Bäumen, und den Schiffen zusehen, etwas schlummern, dazwischen lesen und rauchen, und erst am Abend weiter wandern, wenn es nicht mehr so heiß wäre. Aber so nah am Ziel wirkt die slowakische Hauptstadt wie ein Magnet.

Dabei weiß ich gar nicht, was mich dort erwartet. Zuerst einmal eine Parkbank an der Donau und die Kombination aus Erschöpfung und Erleichterung, gewürzt mit einer Prise Stolz. So kaputt sitze ich endlich im Schatten, dass sich die vorbeisausenden Jogger, Skater, Rollschuh- und Radfahrer wundern, was mich so fertig gemacht hat. Die können ja nicht ahnen, dass ich erst einen Tag zuvor in der Hauptstadt des benachbarten Landes losgegangen bin. Wer geht schon in zwei Tagen von Hauptstadt zu Hauptstadt? Ich fordere meine Leser aus Berlin, Paris und Moskau auf, das erst einmal nachzumachen!

Ich merke, dass ich zu kaputt bin, um Bratislava zu genießen. Da ich mit dem Bus oder Zug jederzeit in einer Stunde hier sein kann, entscheide ich mich, die Erkundung der Stadt auf später zu verschieben, und jetzt erst einmal in mein Bett zu reisen. Mit bis zu 70 km/h brause ich mit dem Twin City Liner in 90 Minuten stromaufwärts. Ein teures Vergnügen (35 €), und nach der Wanderung fast zu schnell, aber durch den Fahrtwind bleibe ich wenigstens noch wach. Und wenn ich jetzt die Ufer und Buchten, die Burgen und Wälder von der Donaumitte in umgekehrter Reihenfolge aus sehe, spult sich der ganze Film der Wanderung rückwärts ab.

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Übrigens: In Bratislava war ich zwar nur ein paar Stunden, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass man dort Raub und Totschlag fürchten muss. Der ängstlichen Dame würde etwas Reisen gut tun. Sie muss ja nicht alles zu Fuß gehen.

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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25 Antworten zu Geburtstagswanderung von Wien nach Bratislava

  1. Max schreibt:

    sehr schön ja Eigentum belastet. Man kann es nicht mal verschenken wegen Steuer.

    • Andreas Moser schreibt:

      Man muss aber auch schon viel verschenken, um über den Freibetrag für die Schenkungssteuer zu kommen. Und wenn der Beschenkte ein bisschen etwas davon abgeben muss, finde ich das auch nicht so schlimm. Irgendwie muss sich der Staat ja finanzieren.

      Aber seit ich regelmäßig umziehe (oder übersiedle, wie das in Österreich heißt), empfinde ich Eigentum tatsächlich als Belastung. Mit jedem Umzug wird mein Gepäck leichter und ich werde entspannter.

  2. Max schreibt:

    Du als Outdoor Experte kennst Dich sicher aus. Sind heute eigtl. noch die großen und schweren 70 Liter Rucksäcke (hatte ich Anfang der 90er als Interrailer) in oder ist die Tendenz zu 30 Liter ohne festes Rückengitter?

    • Andreas Moser schreibt:

      70-Liter-Rucksäcke nimmt eigentlich nur, wer Sherpas hat. 😉

      Ich selbst habe noch einen alten 60-Liter-Rucksack, der zusammen mit einer Sporttasche für meine Umzüge ausreichen muss (so komme ich meist auf 30-35 kg Gesamtgewicht).
      Für längere Wanderungen in dem Land verwende ich dann teilweise auch diesen Rucksack, vor allem wenn ich draussen übernachte (zB bei der Wanderung entlang dem Hadrianswall oder im Amazonas, wo ich das gesamte Trinkwasser mitschleppen musste) oder wenn ich den Laptop mitschleppe. Aber eigentlich ist er zu schwer zum Wandern, wenn er voll ist. Als ich den West Highland Way in Schottland gewandert bin, ging mir das Gewicht so auf den Sack, dass ich nach zwei Tagen die Gepäckbeförderung für 10 £ pro Tag in Anspruch genommen habe.

      Mittlerweile habe ich auch einen 30-Liter-Rucksack, den AC Flash 30 von Deuter. Das zwingt zum sparsamen Packen, genügt aber im Sommer und ohne Laptop sogar für mehrwöchige Reisen (obwohl ich immer ein paar Bücher dabei habe). Auch zu mehrtägigen Universitätsseminaren oder zuletzt für 10 Tage in Krakau genügt der 30-Liter-Rucksack. Im Winter sähe es vielleicht anders aus.
      Was mir an dem Rucksack gefällt, ist ein Ventilationssystem. Mit gebogenen Metallstangen wird der Rucksack vom Rücken ferngehalten, so dass man wirklich überhaupt nicht verschwitzt (selbst nicht auf der hier beschriebenen Wanderung im schwülen Juli). Der Nachteil ist, dass die Stangen nach innen in den Rucksack gebogen werden, was den Platz reduziert. Man kann sie mit Gewalt nach außen biegen, zB wenn man den Rucksack mit Büchern vollstopft, aber dann drückt das Metall in den Rücken, ist also zum Wandern nicht mehr geeignet.
      Das Eigengewicht des Rucksacks ist minimal, und gekostet hat er zwischen 60 und 70 €. Von den Ausmaßen geht er bei Ryanair und Wizzair als Handgepäck durch (außer die haben schon ieder ihre Richtlinien geändert).
      Allerdings fehlt eine Zugriffsmöglichkeit von unten oder von der Mitte, man muss also alles auspacken, um an das unterste Hemd oder Buch zu kommen.

      Grundsätzlich muss ich sagen, dass ich immer noch zu viel herumschleppe. Mit 30 kg nach Südamerika auszuwandern hört sich zwar für einen Eigenheimbesitzer wahnsinnig an, aber man braucht eigentlich immer weniger als man denkt. Und wenn man es braucht, geht man halt auf den Markt und kauft sich billig einen gebrauchten Pullover. Meinen schönsten Pullover hatte ich auf dem Markt in El Alto (Bolivien) für 1,50 € gekauft. Leider hat er bei der Rückfahrt über den Atlantik zu viele Brandlöcher von Zigarren abbekommen, so dass ich ihn weggeworfen habe. Aber wenn man öfter umzieht, hängt man nicht mehr so an materiellen Dingen.

  3. Max schreibt:

    Vielen Dank für Deine ausführliche Antwort. Ich denke so Schlafsack und Elektronik machen das meiste Gewicht aus, kommt aber immer darauf an. Ich finde meinen alten 70 Liter Vaude Profile definitiv zu schwer mittlerweile, auch schon vom Leergewicht her.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ja, da hat sich echt etwas geändert an den Rucksäcken. Der 60-Liter-Rucksack, den ich bon meinem Vater übernommen habe, ist auch vom Leergewicht schon ein ganzes Stück, obwohl ich die Hüftstützen schon abmontiert habe.

      Schlafsäcke gibt es jetzt ganz leichte und kleine, allerdings auch nur für sommerlich-laue Nächte. Besonders praktisch finde ich einen Biwaksack, den man über den Schlafsack stülpt und der den Wind abhält. Dieser Biwaksack wiegt fast gar nichts (ist aber teuer) und bringt etliche Grad an Wärme und erheblichen Komfort.

      Die Elektronik ist wirklich nervig, vor allem weil jedes Teil ein anderes Ladekabel benötigt. Ich habe sowieso schon realtiv wenig, aber manche Leute schleppen mehr Elektronik herum als eine Apollo-Mission.
      Einer meiner Wunschvorstellungen ist es, mal wieder ganz ohne Elektronik auf eine lange Wanderung (zB durch Europa) zu gehen. Nur mit Notizblock und Landkarte.

  4. Anonymous schreibt:

    Tolle Wanderung (mit Wasserfuge!)
    Apropos Biwaksack: 1. Wieviel ist teuer? Ich sehe Preise von 20$ bis 200$. Wie ist das mit dem Schwitzen/Atemdampf, wird man da sehr nass?
    Ich suche etwas damit ich weiterhin am Missouri oder auf dessen Inseln uebernachten kann. Bin im Kajak und Zelte vertrueben die Sicht.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich habe jetzt gerade ebenfalls nachgesehen und einige günstige gefunden, weiß aber nicht, wie gut die sind. Ich weiß nicht, wieviel meiner gekostet hat, aber mein Vater (der ihn gekauft hatte), hatte gesagt, dass der Biwaksack wesentlich teurer als der Schlafsack war.

      Von der Atmung oder vom Atemdampf her hatte ich keine Probleme, denn den Kopf oder das Gesicht halte ich immer in der frischen Luft. Und ansonsten nutze ich den Biwaksack nur, wenn der Schlafsack nicht reicht gegen Kälte und Wind.

  5. Pingback: Birthday Walk from Vienna to Bratislava | The Happy Hermit

  6. Bela Bach schreibt:

    „Nur einen Punkt hatte ich nicht bedacht: Nachts wird es dunkel.“ Ich fühle mit Dir… 😉 Aber im Ernst: Alles in Chino-Hose und Hemd? 😀

    • Andreas Moser schreibt:

      Man merkt eben, dass ich immer zeitig ins Bett gehe, so dass mich Dunkelheit überrascht. 😀 – Oh ja, stilsicher bin ich schon beim Wandern! 🤠 Erstens finde ich kurze Hosen für Akademiker unangebracht. 🤓 Zweitens schützen sie gegen Schlangenbisse. Drittens wird man so nicht gleich als Vagabund behandelt und des Hofes verwiesen, wenn man in einen Schlosspark geht (oder die Vermessungsingenieure hätten mich zB von dem Fahrraddamm weggeschickt). Viertens, und der ehrliche Grund, habe ich einfach nicht viel Alternativkleidung. 🙂

    • Andreas Moser schreibt:

      Und es geht mir auch darum, zu zeigen, dass man zum Wandern und Abenteuern keine teure Ausrüstung benötigt. Ich würde gerne mehr Leute aus nicht so reich gesegneten sozioökonomischen Schichten zum Wandern animieren (dazu habe ich mal einen Artikel geschrieben, den es allerdings nur auf Englisch gibt: https://andreasmoser.blog/2017/08/15/hiking/ ). – Und deshalb demonstriere ich, dass man in Straßenkleidung auch bis auf 4800 m gehen kann.

    • Bela Bach schreibt:

      Was kurze Hosen angeht, teile ich deine Auffassung grundsätzlich. Ich finde nur auch, dass ein übermäßiges Zerfließen für AkademikerInnen ebenfalls unangebracht ist und übe mich gerne im fließenden Wechsel. 🙂 Darüber hinaus sieht man auch in Funktionskleidung nicht zwangsläufig aus wie ein Vagabund, sondern im Zweifel so, als könnte man in dieser Kleidung in einem Aufwasch nicht nur nach Bratislava laufen, sondern nebenbei auch gleich noch den Mount Everest besteigen.

    • Bela Bach schreibt:

      Deinen Artikel lese ich später gerne. 🙂 Auch den Ansatz teile ich. Der Haken besteht nur darin, dass man in den Alpen in dieser Kleidung entweder gar nicht erst auf 4.800m kommt, weil man vorher abgestürzt oder erfroren ist. Ab einem gewissen Level braucht es eine gute Ausrüstung und die ist leider tatsächlich teuer (aber auch eine Frage der Prioritätensetzung…). Für normale Bergwanderungen ist Funktionskleidung nur komfortabel. Ein Großteil der Leute ist am Berg allerdings massiv overdressed. Übrigens ist das Sporthaus Schuster in München ein interessanter Ort für soziologische Studien. Ich empfehle im Sommer die Abteilung für Bergstiefel (da kaufen sich Leute vollsteigeisenfeste Stiefel für leichte Wanderungen zur nächsten Hütte, eine absolute Qual für jeden Fuß) oder die Tourenskiabteilung im Winter (da wundert es mich, dass der K2 erst jetzt das erste Mal auf Ski abgefahren wurde, denn die Ausrüstung, die sich die Leute dafür kaufen, hätte locker gereicht 😉 )

    • Andreas Moser schreibt:

      Warum sich die Leute jeweils ein zusätzliches Kilo an den Fuß binden, wenn sie durch die Lüneburger Heide wandern, habe ich auch noch nicht verstanden. Manche meinen wohl, man wird mit viel Ausrüstung zum Messner oder Amundsen. – Wobei es Mallory in Cordhosen und Tweed-Sakko auch ziemlich weit geschafft hat. Das ist eher mein Vorbild. 😉

  7. Radobyl schreibt:

    Ha, die Burg Devin! Da bin ich im Sommer 82 von der slowakischen Grenzpolizei verhaftet worden. Wir waren drei junge Wanderer, die am Ende ihrer Velka Fatra, Niedere Tatra und Westtatra Kammwanderung noch einen Abstecher nach Bratislava machten, bevor es nach Hause (Dresden) ging. Wir waren alle mit Magenproblemen gesundheitlich angeschlagen und haben die vorherige Nacht im Stadtpark verbracht. Das letzte Highlight sollte die Burg und die Devinska Kobyla, ein Naturschutzgebiet sein. Zu zweit waren wir im Naturschutzgebiet, der botanisch nicht interessierte wartete an der Burg. Als wir wieder unten waren war er weg und wir ratlos und angepisst. Fünf Minuten später kam ein Jeep mit Grenzern, die uns einluden und alle Unklarheiten beseitigten ;-). Nach einem Tag und endlosen Verhören hatten sie ein Einsehen, dass wir harmlos waren und uns in den Zug nach Hause gesetzt.
    Trotzdem bin ich noch heute gern in der Gegend. An der March (alle Seiten) mit dem Rad, oder am Neusiedler See. Ja, ich glaube die Niederösterreicher im Marchfeld leben sehr mit dem Rücken zur Grenze. Das ist im Burgenland, soweit ich es beobachtet habe, eigentlich anders. Bei uns in Sachsen ist das auch sehr unterschiedlich. Es gibt hier Orte, wo Bürgermeister den kompletten Grenzverlauf mit riesigen Hinkelsteinen „verschönern“, um diebische Invasoren abzuschrecken ;-), während in anderen Ortschaften alle Hinweistafeln zweisprachig ausgeführt werden und man generell sehr auf gute Nachbarschaft bedacht ist.
    Danke für den schönen Bericht übrigens.

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank auch für die tolle Geschichte, das war ein richtiges Abenteuer!

      Sehr interessante Beobachtungen auch darüber, wie verschiedene Orte/Regionen mit der nahen Grenze umgehen. Als Oberpfälzer (aus Amberg) bin ich immer ein bisschen beschämt, wenn ich sehe, wie wenig wir über Tschechien wissen, wie wenige Leute hier Tschechisch sprechen (ich auch nicht 😦 ) und wie wenige Leute sich überhaupt für unser Nachbarland interessieren. Wenn ich dann in Tschechien bin, spricht fast jeder Deutsch. Ich glaube in Kärnten und Slowenien ist es genauso. (Wobei ich auch zugestehen will, dass es mehr Gründe gibt, um die Sprache des bevölkerungsreichsten Landes in Europa zu lernen als eine Sprache, die einem nur in einem relativ kleinen Land hilft.)

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  11. grenzgeniale Story .. bin platt begeistert … !!

    • Andreas Moser schreibt:

      Oh, vielen Dank!
      Ich war auch ganz platt, nicht vor Begeisterung, sondern vor Erschöpfung. 😉
      Bei Nachahmungsgedanken würde ich auf jeden Fall eine richtige Nachtruhe zwischen Wien und Bratislava empfehlen.

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