Nichtsesshafte Randgruppen – am Beispiel von Vagabunden und Roma

Meine Artikel zur Geschichte wurden bereits als schnoddrig, „dümmster Blog aller Zeiten“, „absolut widernatürlich und beispiellos“, ignorant, „völlig unangemessen“, nestbeschmutzend, mühsam, vor Halbwahrheiten strotzend, Schlamassel, Clickbait und sogar als „Aufruf zum Mord“ kritisiert.

Zu einer gewissen Schnoddrig- und Flapsigkeit, fein dosiert auch bei ernsten Themen eingesetzt, stehe ich. Die anderen Vorwürfe weise ich aufs Entschiedenste zurück und fordere die Beleidiger zum Blog-Duell auf. Diesen Samstag im Morgengrauen, in den Donauauen.

Aber ich kann auch anders als flapsig. Notgedrungen. Denn im Geschichtsstudium an der Fernuniversität in Hagen geht es sehr ernst zu. Das ist wie bei den Marines in Full Metal Jacket: „Hier wird nicht gelacht!“

Apropos Marines, Fremdenlegion und Studium:

Dieses Sommersemester nahm ich an einem Seminar mit dem Titel “Randgruppen und Außenseiter in den Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit” teil. Da ging es um Henker und Hexen, Aussätzige und Adelige, und so weiter.

Weil die beiden Dozentinnen anscheinend um meinen unsteten Lebenswandel wussten, wiesen sie mir als Referatsthema den Themenkomplex „fahrendes Volk“ zu.

Landstreicher bei der Rast, Mitteleuropa, Anfang des 21. Jahrhunderts

Von diesem Referat gibt es eine schriftliche Fassung, die ich, damit sie nicht sinnlos auf dem Semesterserver schlummert, Euch hiermit zum – zur Abwechslung – ernsten Lesen darbiete. Gerade die Aspekte der Kriminalisierung von Armut sind ja durchaus zeitgemäß. Überhaupt fällt einem beim Studium der Geschichte oft auf, welch lange Vorläufe und Kontinuitäten es bei angeblich ganz neuen Entwicklungen gibt.


Sesshaftigkeit als Norm

Obwohl es ohne Wanderungsbewegungen keine Menschen in Europa gäbe, war Sesshaftigkeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit schon zur Norm geworden. Ja, die Sesshaftwerdung des Menschen ab der Jungsteinzeit, also vor ca. 12.000 Jahren, wurde und wird gleichgesetzt mit dem Beginn der Zivilisation.

Die meisten Menschen hatten die meiste Zeit einen festen Wohnsitz, und die Abwesenheit für Geschäftsreisen, zur Teilnahme an Kriegen, an saisonaler Arbeit, an Pilgerfahrten oder Gesellenwanderungen war vorübergehend und führte im Regelfall an den Wohnsitz zurück.2

Auch die dauerhafte Abwanderung führte nicht zur Nichtsesshaftigkeit, sondern verlagerte den Wohnsitz an einen neuen Ort, sei es durch Auswanderung aus ökonomischen, politischen oder religiösen Gründen, durch die Arbeit in einem Handelskontor der Hanse oder dem im Seminar bereits erwähnten Fondaco dei Tedeschi in Venedig oder für eine der ostindischen Kompanien oder in anderen Kolonialisierungszusammenhängen.3

Aber es gab auch Gruppen, bei denen die Nichtsesshaftigkeit unfreiwillige Begleiterscheinung von Armut war und mit dieser in einem sich gegenseitig bedingenden Kausalverhältnis stand. Zwei dieser Gruppen sollen hier einführend vorgestellt werden, wobei es mir auch darum geht, die beiden Gruppen nicht zu vermengen, obwohl dies zeitgenössisch unter dem weit gefassten Begriff “fahrendes Volk” häufig getan wurde.4

Zum einen soll es gehen um Landstreicher, Vagabunden oder Vaganten, wobei die Begriffe austauschbar sind.

Zum anderen möchte ich einen Überblick geben über die Volksgruppe(n) der Roma und Sinti, auch bekannt unter der Fremdbezeichnung “Zigeuner”.

Dabei sei darauf hingewiesen, dass beiden Gruppen das Problem zu eigen ist, dass die Quellen nicht von ihnen selbst stammen. Oft sind es staatliche, polizeiliche oder politische Quellen, die zu einem verzerrten Bild beitragen.5 Andererseits literarische Erzählungen, deren (negative wie positive) Stereotype dann in vermeintlich objektive Lexika Eingang fanden. Und in der Neuzeit kommen – ebenfalls von außen – (pseudo-)wissenschaftliche, hygiene- und erbbiologische6 sowie rassenanthropologische Diskurse dazu.

Landstreicher / Vagabunden

Vagabunden, Landstreicher oder Vaganten waren Menschen ohne festen Wohnsitz, die sich aus den armen und landlosen Unterschichten rekrutierten und umherstreiften. Ihre Zahl nahm mit dem Bevölkerungswachstum, aufgrund von Missernten7, Kriegsvertreibungen oder Brand- und Naturkatastrophen8 sowie durch “die fortbestehenden Ausgrenzungsmechanismen der feudalen Institutionen (Zünfte, Bruderschaften, kommunale und landesherrliche Vorschriften)” zu.9

Frauen wie Männern waren von der unfreiwilligen Wanderschaft gleichermaßen betroffen.10 Für die Kinder gab es in der Regel kein Entrinnen aus diesem Milieu; sie waren mit dem “Stigma der Nichtsesshaftigkeit” behaftet.11

Zwar handelte es sich dabei um eine unfreiwillige, aus der Not geborene Randgruppe, jedoch war die Zahl der von Subsistenzmigration12 Betroffenen gar nicht so gering. Für das 18. Jahrhundert wird sie auf 4% an der Gesamtbevölkerung13, für Bayern sogar auf bis zu 10% der Bevölkerung geschätzt14.15 Damit dürfte die Schwelle dessen überschritten gewesen sein, was an Not durch gelegentliche Almosen aufgefangen werden konnte, so dass die Vaganten zum Regelungsgegenstand der Obrigkeit wurden. Dies wiederum führte zu einem Teufelskreis aus Armut und Repression.

Kriminalisierung der Vaganten durch die Obrigkeit

Mit dem 15. und 16. Jahrhundert begann ein Prozess der Verrechtlichung, in dem die Obrigkeit bzw. der Staat eine wesentliche Rolle in der Definition von Norm und Normabweichung übernahmen.16 Die bis dahin erfolgte gesellschaftliche Ausgrenzung oder eventuelle religiöse Missbilligung wurde zur Kriminalisierung und Verfolgung. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden in immer größerer Zahl Policey-Ordnungen und andere “policeyliche Mandate und Regelungen” gegen Vagabunden und Bettler erlassen.17 Und zwar nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in ganz Europa.18

Im 16. Jahrhundert bedeutete der Begriff “Policey”19, so die zeitgenössische Schreibweise, die “gute Ordnung und Verwaltung des Staatswesens”.20 Die heutige Aufteilung in Zivil-, Straf- und öffentliches Recht wurde zu dem Zeitpunkt nicht eingehalten, und die Policey-Ordnungen regelten verschiedenste Aspekte des Alltagslebens, sozusagen das Recht des kleinen Mannes.21

Das Vorgehen gegen nichtsesshafte Arme spiegelte “eine seit dem Spätmittelalter einsetzende Neubewertung von Armut wider, die grundlegend von einer Polarisierung zwischen Armut und Arbeit ausging”.22 Armut wurde nicht mehr als Schicksalsschlag, sondern “als Folge von Nicht-Arbeit bewertet”.23 Damit wandelte sich die Reaktion von Gesellschaft und Obrigkeit von Mitleid zu einer vorwurfsvollen, repressiven Vorgehensweise. “Die Entstehung der Unbarmherzigkeit” nennt es Schindler.24

Neben die Unterscheidung zwischen “würdigen” Armen (z.B. Blinden) auf der einen und arbeitsfähigen “starken” Armen auf der anderen Seite25, wurde auch eine Unterscheidung zwischen einheimischen und fremden Armen getroffen.26 Nur wer der jeweils ersteren Gruppe angehörte, verdiente Fürsorge.27 “Starke” Bettler wurden aus der Gemeinde oder dem Land verwiesen28, womit sie erstmals oder erneut zu Vagabunden wurden.

Wer einmal in das Milieu der Vaganten abgerutscht war, “konnte als Recht- und Ehrloser kaum mehr sesshaft werden”.29 Denn “ein ehrbares Leben war unter den dauernden Anstrengungen und Gefahren des Wanderns gar nicht möglich. Es ging allein um das Überleben.”30

Der Vorwurf des Müßiggangs und der mangelnden Arbeitsmoral wurde mit dem Hang zur Wanderlust kombiniert31, so dass das Wandern selbst strafbar war32, auch wenn ansonsten keinerlei Straftaten begangen wurden. Strafen waren Körperstrafen (auch Brandmarkung), Ausweisung/Deportation (sogenannte Bettelfuhren oder Bettlerschübe33) und Zwangsarbeit.34

Dabei ist das Landstreichen ein klassischer Fall der “opferlosen Straftat”, also eines Delikts, bei deren Begehung niemand an Leib, Leben, Eigentum, Besitz, Ehre oder sonstigen Rechtsgütern verletzt wird.35

Die Kriminalisierung des Umherziehens ging zeitlich einher mit einer beginnenden (National-)Staatlichkeit, im Rahmen derer auch andere Politiken zur Kontrolle der Bevölkerung eingeführt wurden, wie z.B. Volkszählungen, die Wehrpflicht oder die Sesshaftmachung von Nomaden (im Osmanischen Reich).

Auch für die langsam einsetzende Ausbildung des Kapitalismus war die Verinnerlichung von Sekundärtugenden wie Fleiß, Zuverlässigkeit, Disziplin erforderlich36, wofür die Policeygesetzgebung die langfristige mentale Prägung herstellte37 und wogegen die Vagabunden (ob vorsätzlich oder aus Not) verstießen.

Roma / Sinti / ”Zigeuner”

Nicht zuletzt, weil manche Leute darauf beharren, ihre Meinungsfreiheit hinge davon ab, das Paprikaschnitzel als Zigeunerschnitzel zu bezeichnen, verdient die Bezeichnung dieser ethnischen Gruppe einen kleinen Exkurs.

In Deutschland herrscht diesbezüglich etwas mehr Problembewusstsein als in vielen anderen Ländern, wahrscheinlich weil der “Zentralrat deutscher Sinti und Roma” zu einer festen Größe im politischen Diskurs geworden ist. Dennoch wird im Alltag, aber auch in der Fachliteratur bis in die jüngste Zeit immer wieder gedankenlos der Begriff “Zigeuner” verwendet.

Zigeuner” ist eine Fremdbezeichnung, die negativ konnotiert ist, deren Etymologie aber unklar ist.38 In spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen werden sie auch als “Heiden”, ”Tartaren” oder “Ägypter” bezeichnet.39 Von letzterem leitet sich das englische “gypsy” ab.

Die Eigenbezeichnung lautet je nach Gruppe Roma (jeweils Plural des Maskulinums), Sinti, Jenische, (Irish) Travellers, Manouches u.s.w. Als Sammelbegriff kann man auch Rom-Völker verwenden.

“Sinti” kam als Selbstbezeichnung der deutschsprachigen Roma erst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts auf40. Im Folgenden verwende ich meist den Oberbegriff Roma, weil ich auch auf die Entwicklung außerhalb der deutschsprachigen Territorien eingehe.

Ankunft der Roma in Europa

Woher kamen nun die Roma?

Die Verwandtschaft des Romanes, der Sprache der Roma, mit dem Sanskrit41 deutet auf eine Herkunft vom indischen Subkontinent. Persische, türkische und griechische Anteile im Wortschatz zeigen die vermutliche Wanderungsbewegung auf, die sich über Jahrhunderte abgespielt haben muss.42

Über Südosteuropa43 und den Balkan kamen die ersten Roma im 14./15. Jahrhundert nach Mitteleuropa. Die Ankunft der Roma wurde z.B. dokumentiert für folgende Orte und Jahre: Belgrad 1323, Basel 1414, Kronstadt/Brașov (Siebenbürgen) 1416, Konstanz 1417, Hildesheim 1417, Lübeck 1417, München 1418, Frankfurt am Main 1418, Straßburg 1418, Antwerpen 1419, Bologna 1422, Paris 1427, Barcelona 1447, Stockholm 1512, woraus sich wiederum der Zug der Wanderungsbewegung ableiten lässt.44

Rezeption der Roma durch die Mehrheitsgesellschaft

Das plötzliche Auftauchen von auch phänotypisch andersartigen Menschen war offenbar wichtig genug, um seit dem 15. Jahrhundert in den Chroniken Erwähnung zu finden.45 Die Chroniken deuten auf organisierte Gruppen unter Führung jeweils eines “Herzogs” oder “Grafen”46 und erwähnen, dass Schutzbriefe präsentiert wurden47, in denen den Roma freies Geleit zugesichert wurde.

Zuerst wurden die Roma als Pilger bestaunt.48 Man vermutete eine Verdammung zur Bußfahrt wegen unchristlicher Lebensführung49 oder eine Flucht der christlichen Roma vor den Osmanen.50

Bald jedoch wurden sie als Bettler, Heiden, Spione (für das Osmanische Reich) und Diebe diffamiert51 oder für Seuchen verantwortlich gemacht52. Ihre Mobilität wurde nicht als Folge von Vertreibung oder Armut anerkannt, sondern “als eine Strategie der Arbeitsverweigerung” angesehen.53

Womöglich hatten die Roma einfach Pech, dass sie zu einer Zeit nach Mitteleuropa kamen, als diese Region unter Hungersnöten, Kriegen und dem Wiederaufflackern der Pest litt54, als das bestehende lokale und klösterliche Wohlfahrtssystem kollabierte55, und als staatliche und religiöse Gewissheiten ins Wanken gerieten.56 Als Beispiele seien genannt die Niederlage des Deutschen Ordens in Tannenberg 1410, die Hinrichtung des Reformators Jan Hus 1415, die Hussitenkriege 1419-1436, die Eroberung Konstantinopels durch das Osmanische Reich 1453.

In dieser Übergangsphase vom Mittelalter zur Neuzeit wurden die fremden Neuankömmlinge als “Strandgut aus einer vergangenen Zeit am Ufer der Moderne”57 gesehen.

Auch in der Literatur tauchten die “Zigeuner” bald auf und standen negativ für das Wilde, das Unzivilisierte, das Fremde, aber in positiver Weise für ein angeblich freies, sorgenloses und naturverbundenes Leben (“Zigeuner-Romantik”).58 In fast allen europäischen Sprachen gibt es hierzu einen reichhaltigen Fundus aus allen Text- und Kunstgattungen.59

Sowohl positive wie negative Stereotype “verweisen […] auf einen Verstoß gegen das vorherrschende Arbeitsethos”.60

Kriminalisierung und Verfolgung der Roma durch die Obrigkeit

Zum einen gilt für die Roma eigentlich alles, was ich oben zu den Vaganten dargestellt habe. Denn bis zur Frühen Neuzeit unterschied die Obrigkeit nicht immer zwischen Landstreichern, den Roma und anderen Angehörigen des “fahrenden Volkes”.61 Wenn in den historischen Quellen der Begriff “Zigeuner” verwendet wird, ist also nicht immer klar, ob es sich dabei um die ethnische Minderheit oder um alle wohnsitzlosen sozialen Randgruppen handelt.62

Allerdings wurden die Roma als ethnische Gruppe mit einer Härte und Vehemenz verfolgt, die über die normale Policeygesetzgebung hinausging.63 So erklärte sie der Reichstag von 1498 für “vogelfrei”, falls sie das Reichsgebiet nicht sofort verließen.64 In Frankreich befahl Ludwig XII. 1504 die Landesverweisung. 1514 begann die Vertreibung aus den Schweizer Städten, 1525 aus Flandern, 1530 aus England, 1541 aus Schottland, 1549 aus Böhmen, 1557 aus Polen.65 Portugal deportierte die Roma ab 1583 zur Zwangsarbeit auf Galeeren und in die Kolonien.66

Mit dem Vordringen des territorialen Denkens, mit der Entwicklung hin zu (Proto-)Nationalstaaten wurde Identität zunehmend aus der geographischen Herkunft abgeleitet.67 Die Roma konnten solch eine territoriale Herkunft nicht vorweisen. Es gab kein Gebiet, in dem sie die Bevölkerungsmehrheit stellten. Sie waren nicht nur wohnsitz-, sondern auch herkunftslos. So gab es niemanden, der ihnen Schutz gewähren, niemanden, der für sie eintreten konnte.

Die Sinti und Roma waren überproportional von Strafen und insbesondere von der Todesstrafe, aber auch von örtlichen Pogromen, sogenannten “Zigeunerjagden” oder “Heidenjagden” betroffen.68

Bogdal argumentiert, dass das Ziel der Maßnahmen gegen die Roma die Tötung und die Ausrottung war und sieht hier den Beginn einer grausamen Tradition: “Die Zigeuneredikte der Frühen Neuzeit bringen die Idee in eine Rechts- und Verwaltungssprache, dass als unnütz und schädlich angesehene Glieder aus dem Gesellschaftskörper ausgestoßen werden müssen.”69

Andererseits gab es teilweise Versuche, die Roma “umzuerziehen” und zu einer sesshaften Lebensweise zu bewegen. Insbesondere in der Habsburgermonarchie unter Kaiserin Maria Theresia (Verordnungen erlassen zwischen 1758 und 1774) wurde die bis dahin praktizierte Verfolgung zugunsten einer Zwangsassimilation aufgegeben.70 Diese umfasste nicht nur die erzwungene Sesshaftmachung (und damit Zurverfügungstellung als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft), die Unterrichtung im katholischen Glauben, das Verbot der Muttersprache, sondern auch die Wegnahme der Kinder.71 Die Ähnlichkeit zum Vorgehen europäischer Kolonialstaaten in Übersee sticht ins Auge.

Ein Sonderfall bestand in den Fürstentümern Moldau und Walachei (jeweils heutiges Rumänien), wo die Roma bis 1856 rechtlich den Status von Sklaven hatten.72 Nach der Aufhebung der Sklaverei wurden – wie bei Sklavenbefreiungen üblich – nicht die einstigen Sklaven, sondern ihre früheren Eigentümer entschädigt.

Kontinuität der Verfolgung bis in die Moderne

Die Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung sowohl von Landstreichern, aber insbesondere der Sinti und Roma, endete nicht in der Frühen Neuzeit. Ganz im Gegenteil, sie gipfelte während des Nationalsozialismus in Deutschland und im von Deutschland besetzten Europa im Völkermord gegen die Sinti und Roma.73 Auf Romanes wird dieser als “Porajmos” bezeichnet.

Vagabunden, Landstreicher, Bettler und Arbeitslose wurden im Nationalsozialismus als “Asoziale” oder “Arbeitsscheue” verfolgt, interniert und ermordet.

Dass diese beiden Gruppen nach 1945 noch über Jahrzehnte nicht als Opfer des Faschismus anerkannt wurden, zeigt, wie tief die Vorurteile und Stereotype saßen und sitzen. Die BRD erkannte den Völkermord an den Sinti und Roma erst 1982 an.74

Trotz der von der EU 2005 ausgerufenen Roma-Dekade sind die Roma noch immer die sozioökonomisch am meisten benachteiligte Minderheit in Europa. Auch die staatliche Dikriminierung (Ghettoisierung, segregierte Schulen, Zwangssterilisation75) hielt bis ins 21. Jahrhundert an.

Landstreicherei blieb in der BRD bis 197476 und in der DDR bis 199077 strafbar.78


2 Melville/Staub, Band I, S. 162; Vogler, S. 311.

3 Ein Teil der Beispiele nach Vogler S. 311.

4 Fings, S. 43.

5 Fings, S. 21, die jedoch auch auf Ulrich Opfermanns Auswertung neuer, einen anderen Blickwinkel eröffnender Quellen hinweist: “Seye kein Zigeuner, sondern kayserlicher Cornet” – Sinti im 17. und 18. Jahrhundert – Eine Untersuchung anhand archivalischer Quellen, 2007.

6 Härter/Sälter/Wiebel, S. 19.

7 Wadauer, Vagabund, 4. Absatz.

8 Fata, S. 156 f.

9 Boehncke, S. 70.

10 Fata, S. 158.

11 Fata, S. 158.

12 Den Begriff verwendet Fata, S. 153, unter Verweis auf Peter Clark (Fußnote 164).

13 Boehncke, S. 70 mit Verweis auf Sachße/Tennstedt: Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte (Fußnote 2 auf S. 362).

14 Boehncke, S. 362 in Fußnote 2, unter Verweis auf Küther: Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

15 Fata, S. 153, ist skeptisch gegenüber Versuchen, einen statistischen Anteil zu ermitteln.

16 Härter/Sälter/Wiebel, S. 10; Schulze, S. 80.

17 Fata, S. 153; Härter, Landstreicherei, 1. Absatz.

18 Sehr ausführlich zu England, mit Kapiteln zu Schottland, Irland, Wales, der Isle of Man, den Kanalinseln, Schweden, Dänemark, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, dem Deutschen Reich, Österreich, Italien, Russland, Portugal und der Türkei: C. J. Ribton-Turner, A History of Vagrants and Vagrancy and Beggars and Begging, Chapman & Hall, 1887, Nachdruck bei Patterson Smith, 1972.

19 Zurückgehend auf Platons “politeia”.

20 Schröder, S. 58.

21 Schröder, S. 58.

22 Fata, S. 153; ebenso Bogdal, S. 49; Korge, S. 308.

23 Fata, S. 153.

24 Norbert Schindler: Die Entstehung der Unbarmherzigkeit. Zur Kultur und Lebensweise der Salzburger Bettler am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Norbert Schindler: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, 1992, S. 258-313.

25 Althammer, S. 415; Korge, S. 308.

26 Fata, S. 162.

27 Fata, S. 162.

28 Fata, S. 162; Härter, Landstreicherei, 1. Absatz.

29 Boehncke, S. 70.

30 Melville/Staub, Band I, S. 162.

31 Fata, S. 154.

32 Boehncke, S. 70.

33 Boehncke, S. 71; Fata, S. 163.

34 Boehncke, S. 70; Fata, S. 163; Wadauer, Vagabund, 5. Absatz.

35 Althammer, S. 438 f.

36 Behrisch, Sozialdisziplinierung, 1. Absatz.

37 Behrisch, Sozialdisziplinierung, 3. Absatz.

38 Einige mögliche etymologische Erklärungen bei Fings, S. 14.

39 Fings, S. 14.

40 Fings, S. 11.

41 Bogdal, S. 13, 154 ff.; Fings, S. 15 f.

42 Fings, S. 34.

43 Bogdal, S. 30.

44 Fings, S. 36 sowie Karte auf der hinteren inneren Umschlagseite.

45 Fings, S. 18.

46 Bogdal, S. 35; Fings, S. 37.

47 Fata, S. 166; Fings, S. 37.

48 Bogdal, S. 36; Fings, S. 18, 38.

49 Fings, S. 39.

50 Fings, S. 39.

51 Bogdal, S. 54 f.; Fings, S. 18.

52 Bogdal, S. 55.

53 Fings, S. 31.

54 Bogdal, S. 49; Fings, S. 38.

55 Bogdal, S. 49.

56 Bogdal, S. 44, 47.

57 Bogdal, S. 13.

58 Fings, S. 19.

59 Beispiele bei Fings, S. 19, aber vor allem bei Bogdal S. 87 ff., 177 ff.

60 Fings, S. 26.

61 Fings, S. 43.

62 Bogdal, S. 48; Fata, S. 163 f.

63 Bogdal, S. 56; Fata, S. 166.

64 Fata, S. 166; Fings, S. 41.

65 Bogdal, S. 44.

66 Bogdal, S. 44.

67 Bogdal, S. 44 f., 47.

68 Fings, S. 45.

69 Bogdal, S. 56.

70 Bogdal, S. 122; Fata, S. 169, Fings, S. 49 ff.

71 Fata, S. 169; Fings, S. 50.

72 Bogdal, S. 30; Fings, S. 40 f.

73 Fings, S. 62 ff.

74 Fings, S. 107.

75 Letzteres in der Tschechischen Republik bis 2012 praktiziert.

76 § 361 I Nr. 3 StGB-BRD in der bis 1974 geltenden Fassung: “Mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Deutsche Mark oder mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen wird bestraft, wer als Landstreicher umherzieht.”

77 § 249 I StGB-DDR in der bis zum Ende der DDR geltenden Fassung: “Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.”

78 Zur praktischen Relevanz der “Asozialen”-Verfolgung in der DDR siehe Markovits, S. 155-163.


Literatur

Beate ALTHAMMER: Der Vagabund. Zur diskursiven Konstruktion eines Gefahrenpotentials im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in Härter/Sälter/Wiebel, S. 415-453.

Lars BEHRISCH: Sozialdisziplinierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Stand vom 1. Juni 2022.

Heiner BOEHNCKE: Bettler, Gaukler, Fahrende. Vagantenreisen, S. 69-74 und Fußnoten auf S. 362, in: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, herausgegeben von Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff, C. H. Beck, 1991.

Klaus-Michael BOGDAL: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Suhrkamp, 2014.

Márta FATA: Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit, UTB [Vandenhoeck & Ruprecht], 2020.

Karola FINGS: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, C. H. Beck Wissen, 2019 (2. Auflage).

Karl HÄRTER: Landstreicherei, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) online, Stand vom 23. November 2017.

Karl HÄRTER, Gerhard SÄLTER, Eva WIEBEL: Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit, Vittorio Klostermann, 2010.

Marcel KORBE: Unterstützung, Abweisung, Sanktionierung. Vom genossenschaftlichen Umgang mit arbeitslosen Gesellen in vorindustrieller Zeit, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4/2022, S. 301-314.

Inga MARKOVITS: Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, C. H. Beck, 2014.

Gert MELVILLE, Martial STAUB: Enzyklopädie des Mittelalters, Band I, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008.

Rainer SCHRÖDER, Rechtsgeschichte, Alpmann & Schmidt, 1992 (4. Auflage).

Winfried SCHULZE: Einführung in die Neuere Geschichte, UTB [Ulmer], 2010 (5. Auflage).

Günter VOGLER: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1650, UTB [Ulmer], 2003.

Sigrid WADAUER, Vagabund, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Stand vom 31. Dezember 2020.


Und jetzt seht Ihr hoffentlich ein, dass schnoddrig schon besser ist.

Standes- und studentengemäß bin ich zu und von dem Landstreicherseminar übrigens per Anhalter gefahren. – Ich weiß nicht, ob ich je zum zweiten und dritten Teil dieser Anhaltersaga komme. Leider habe ich mir damals keine Notizen gemacht, und so langsam verblassen die Erinnerungen. Schade eigentlich, es waren wirklich tolle Begegnungen dabei!

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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12 Antworten zu Nichtsesshafte Randgruppen – am Beispiel von Vagabunden und Roma

  1. festus schreibt:

    Die Jenischen gehören für Dich zu den Roma? Ich habe sie immer als ursprünglich aus dem schwäbisch/schweizerischen Raum stammende Fahrende begriffen (Als Westfale ist das für mich genauso grauenerregend)

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich habe die Jenischen eigentlich nur mit aufgezählt, um zu zeigen, dass es ganz unterschiedliche Gruppen gibt, und wollte damit keine Zuordnung vornehmen.
      Als Außenstehender (und vielleicht nicht einmal als Angehöriger) würde ich mir niemals anmaßen, eine Gruppe apodiktisch einer anderen zu- oder unterzuordnen.

      Immerhin gibt es einen eigenen Zentralrat der Jenischen in Deutschland:
      http://www.zentralrat-jenische.de/

      Der Kollege Ralf Grabuschnig hat die Jenischen besucht und einen Podcast darüber gemacht: https://ralfgrabuschnig.com/jenische-geschichte/

    • ralfgrabuschnig schreibt:

      Danke für die Empfehlung 😉 Und ja, ist schon getrennt zu betrachten, wobei natürlich die sozioökonomischen Hintergründe für die Wanderung bei all den genannten Gruppen sehr ähnlich waren

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich fand auch gut bei deinem Podcast, dass du den Kontext zwischen Armut und Wanderung herausgearbeitet hast und dass eine Gruppenidentität dann teilweise erst mit der Zeit entsteht, weil einen die Mehrheitsgesellschaft verstößt.

      Man trifft ja sonst immer noch oft auf kulturelle Deutungen wie „die sind halt so“ oder „Die wollen einfach ständig rumziehen, die können gar nicht an einem Ort bleiben.“

    • chrisbaumgarten schreibt:

      @Andreas: Bei den Jenischen ist es wissenschaftlicher Konsens, dass sie keine Rom-Ethnie sind. Das ist also keine Frage deiner Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur Gruppe.

      Geht man nach Eigenzuordnung, kann es immer wieder mal problematisch werden. Hier ein Beispiel aus dem Balkan, das passenderweise eine Romani-Ethnie betrifft: https://balkanstories.net/2020/08/11/the-time-of-the-gypsies-or-not/

  2. hanselmar schreibt:

    Ich erinne mich daran dass man in Deutschland als Person ohne festen Wohnsitz eine Haftstarfe bis zu 6 Wochen wegen Landstreicherei bekommen konnte. Das fanden meine britische Freunde eigenartig denn dort gab es keine Meldepflicht, aber viele Irish Travellers. So nennt man die Leute ohne festen Wohnsitz im Vereinigten Konigreich.

    • Andreas Moser schreibt:

      Genau so war die Rechtslage in Westdeutschland bis 1974.

      Wobei es in Großbritannien auch ein Gesetz gegen Landstreicherei und Bettelei gibt, den „Vagrancy Act“. Noch immer in Kraft, aber nur mehr selten angewendet.

      Vor kurzem war ich in Ungarn und bin beim Wandern unter einem Baum eingeschlafen. Ein paar Tage später habe ich erfahren, dass das höchstgefährlich war, weil es in Ungarn strafbar ist, draußen einzuschlafen: https://detektor.fm/gesellschaft/gesetz-gegen-obdachlose-ungarn

      Allerdings war es sowohl in der BRD als auch in Großbritannien und wohl auch in Ungarn so, dass all diese Gesetze ziemlich diskriminierend gegen ethnische Minderheiten angewendet wurden und werden. (Was in Deutschland besonders pikant war, weil es die Fortsetzung der nationalsozialistischen „Zigeuner“-Politik war, oft durch die gleichen Polizisten: https://www.polizei.bayern.de/aktuelles/pressemitteilungen/021327/index.html )
      Wenn ein weißer Mann wie ich, der sich eloquent auszudrücken vermag und notfalls darauf verweist (egal ob es stimmt), dass er nur aus Abenteuerlust im Park schläft, der hat in der Realität kaum etwas zu befürchten. Ein erkennbar Angehöriger einer ethnischen Minderheit oder jemand, der nicht um seine Rechte weiß und sich nicht artikulieren kann, der wird vielleicht erschossen.

  3. H. Wilker schreibt:

    Bin von hier in den „Aufruf zum Mord?“-Artikel gestolpert. Danke für die ausdauernde Geduld beim Umgang mit den „Schlussstrich“-Kommentatoren (eher keine :innen, denke ich). Ich könnte dabei nicht so höflich bleiben.

    Danke auch für die schönen Artikel. Das sowieso.

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank!!

      Ich glaube, das ist der Vorteil eines kleinen, unbekannten Bloggers: Ich bekomme nicht Hunderte an Kommentaren, so dass ich mich um jeden einzelnen sachlich und meist höflich, oder allenfalls humorvoll, kümmern kann.
      Und ich denke mir immer: Auch wenn die Argumente bei demjenigen nicht durchdringen (da mache ich mir kaum Illusionen), so dienen sie wenigstens der allgemeinen Erkenntnis oder Unterhaltung.

    • Andreas Moser schreibt:

      Oh, und vielen herzlichen Dank für die Erhöhung deiner Steady-Unterstützung!!

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