Die Würde des Gerichts ist unantastbar.

Die Mandantin muss zum ersten Mal in ihrem Leben vor Gericht.

Sie war ganz besorgt, weil sie kein Kostüm hatte. Und wie sie sich verhalten solle, und ob sie einen Knicks oder eine Verbeugung machen solle. Ich glaube, sie stellte sich das vor wie beim englischen Königshof, mit Talaren und Perücken, mit Hellebarden und Posaunen.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte ich sie. „Wir gehen zum Familiengericht. Da geht es locker zu, richtig familiär.“ Wahrscheinlich heißt es deshalb Familiengericht, fällt mir jetzt erst auf.

Das Gericht ist am Marktplatz von Anklam. Ein schöner Ort. Vor allem an einem sonnigen Oktobertag.

Backsteingotik, Hansestadt, Patrizierhäuser, Rathaus, alles sehr schmuck und hübsch.

Wo hier das Gericht sei, frage ich in die Runde der eisessenden Kinder, der sich sonnenden Rentner und der schwatzenden Hausfrauen. Aber sie haben alle ein gesetzestreues Leben geführt und waren noch nie im Leben vor Gericht. Selig sind die Unwissenden.

Also gehe ich ins Rathaus. Bevor jetzt alle Staatsbürgerkundelehrer aufschreien: Ja, ja, mir ist schon bewusst, dass Exekutive und Judikative etwas anderes sind. Aber trotzdem sitzen im Rathaus kundige Menschen, die meist schon sehr lange in ihrer Stadt leben und die sich auskennen.

Tatsächlich: Im Rathaus sagt man mir: „Direkt gegenüber, einfach über den Markt.“

Direkt gegenüber, einfach über den Markt, steht das hässlichste Gebäude in ganz Anklam.

Der angehende Historiker in mir erkennt sofort die einstige Bombenlücke, die unter Verzicht auf jeglichen ästhetischen oder architektonischen Anspruch gefüllt wurde. Manchmal weiß man echt nicht, was schlimmer war, die Bomben oder die Bausünden.

Einkaufszentren sind die deprimierendsten Orte der Welt, finde ich. Kunstlicht wie in der Klapse. Sumsel- und Säuselmusik wie im Fahrstuhl zum Schafott. Flitter und Tand, den keiner braucht. Gelangweilte Verkäuferinnen. Traurige Männer, die Kalorienbomben verkaufen, weil das der einzige Job ist, der im Zeugenschutzprogramm noch frei war. Eltern, die ihre Kinder aussetzen wollen, diese aber leider von dem unterbeschäftigten Wachmann rechtzeitig aufgegriffen werden. Ballerspielautomaten für die Kinder, Geldspielautomaten für die Erwachsenen. In der Ecke ein Plastikbaum, noch mit dem Schmuck für ein längst vergessenes Fest.

Ehrlich, wenn Ihr mal zu gut drauf seid und so richtig traurig und depri und down werden wollt: Geht in ein Einkaufszentrum.

Noch trauriger sind Einkaufszentren in ostdeutschen Kleinstädten, bei denen die Hälfte der Läden schon seit Jahren leer steht. Wie ein Mahnmal für die enttäuschten Hoffnungen auf Konsum und Kommerz, auf Wirtschaftswunder und Warenverkehrsfreiheit.

Und über die Treppe beim Woolworth sowie um ein paar Ecken geht es zum hochehrwürdigen Gericht. In einer, wenn ich das spontan und subjektiv äußern darf, für ein Gericht etwas unüblichen Umgebung.

Aber da kann das Gericht natürlich nichts dafür. Es ist ja nur Mieter. Und die Eigentümer des Einkaufszentrums, wahrscheinlich irgendwelche steuerabschreibenden Wucherwessis, müssen halt vermieten, egal an wen oder was gerade kommt.

Wobei man sich schon fragt, warum das Land Mecklenburg-Vorpommern nicht in jedem Landkreis ein paar Schlösser oder Burgen requiriert, um darin Gerichte und Behörden stilvoll unterzubringen. Für den Landtag haben sie sich ja auch ein schmuckes Gebäude gekrallt.

Weil manche gefragt haben: Dass der Hinweis auf das Büro der Nazipartei hervorgehoben erscheint, hat nichts zu bedeuten. Die sind einfach erst später eingezogen, deshalb ist die Schrift noch weniger verblasst. Ist ja eigentlich logisch, dass es den Angel-Spezi schon länger gibt. Schließlich war der Fluss bereits vor den Faschisten da. Die Peene wird tatsächlich sehr eifrig beangelt und befischt, von früh bis spät, von jung bis alt.

Wenn man es mal durch das Einkaufszentrum geschafft hat, ist das Gericht ganz gemütlich. Die Verhandlungsführung war sehr freundlich, offen und entspannt, so dass die Würde des Gerichts wieder vollumfänglich hergestellt wurde.

Außerdem habe ich am Ende für meine Mandantin einen Unterhaltsanspruch von 4.000 Euro pro Monat zugesprochen bekommen. Davon lässt es sich leben, würde ich sagen.

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About Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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23 Responses to Die Würde des Gerichts ist unantastbar.

  1. Avatar von Majik Majik sagt:

    My German has left me, Andreas . . . what was the highlighted reference to the office of the Nazi Party? And thank you for the postcard from Saaremaa picturing the beautiful quaint church buildings. We’ll have elections soon in the good ol‘ U.S.A. that you’ve likely heard some talk about. We may be seeking asylum somewhere soon depending how things turn out. I’ll contact you if we do.

    Btw, I only hope that I’m just joking!

    • What a sign of our times, that you are thinking about escaping your country, and I have to explain why in my country – or at least in the city of Anklam – there is an office of the Nazi Party in the same building as the local court. :/

      Officially, of course, they are not called the Nazi Party, but the „Alternative für Deutschland“, an increasingly radical extreme right-wing party. Sadly, they score about 30% in some states, with another 10% going to a pro-Kremlin party.

      If history is about to repeat itself anyway, some people here say, can we please have an Allied liberation again? And that’s why your elections are also a big topic here.

      I have to admit, I am already thinking about places where I could emigrate to. And the Baltic countries, where I was this summer and fall, are high on the list.

  2. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Dear Andreas, no bad feelings, please.

    „Sadly“, you say. I’d say „fortunately“. Wouldn’t have thought, that you stick to the term „Nazi Party“. I’m somewhat, say, disappointed. Could’nt, at first sight, believe that it’s not irony.

    Good wishes to you. Ernst. (100% German, by the way.)

    • 100% deutsch, das hört sich nach einem ebenso langweiligen Stammbaum an, wie ich ihn habe. 😉

      Obwohl, bei mir haben immerhin zwei den Absprung geschafft und sind geflohen: https://andreas-moser.blog/2022/07/06/juni-1922-vogl/

      Und ich selbst habe ja auch lange genug in verschiedenen Ländern gelebt, um zu wissen, dass man die Scholle, auf der man zufällig geboren wurde, nicht mythisch überhöhen muss.
      Vor 1871 war eh niemand deutsch, so wichtig kann es also nicht gewesen sein.

  3. Avatar von hanselmar hanselmar sagt:

    The dignity of the court is untouchable

    Hopefully the verdict is also untouchable. 4000 Euros monthly compensation sounds good. Now I wonder who can afford to pay such a high amount?

    Obviously many readers of this story are not impressed by the dignity of the court, but the surroundings of the courthouse. Now I wonder how much you were paid by Woolworth, Rossmann and Ernest family to promote their business. At a glimpse I discovered the AfD did not support you and that caused you to describe them as a Nazi Party. They, consider themselves a Patriotic Party and they are at least as patriotic as the CDU is christian and the SPD is social.

    • Those alimony judgments are never eternal, always subject to change if and when the underlying situation changes.
      Similarly with custody and visitation.
      When people were happy with their lawyer and they haven’t bothered him for a while, they think: „Honey, why don’t we start a new argument, so that our lawyer will be busy again.“
      And then I need to pull out that old file, of which I had already hoped never to hear again, and there we go again.

      But one nice side aspect of this job is that I get to see towns which I otherwise would have never visited. To be honest, I had never even heard of Anklam before.

  4. Avatar von hanselmar hanselmar sagt:

    You seem to be an extraordinary case yourself. To be honest I never heard of a travelling lawyer who travels nationwide to satisfy the legal requirements of his clients.

    My impression is most lawyers do not like to travel far because it is too time consuming for them. An example out of my experience is my legal case against a company that continuously promised me the payment of a customer lottery draw, but never ever paid me a cent. Even though the address of the company was in the Netherlands I found out the real sender of these notifications was in Offenburg. I was suing this company at their registration courthouse, but my lawyer in Westphalia

    refused to travel as far as Offenburg. He eventually organized a lawyer from Offenburg to represent my case versus this black forest scam enterprise

    • Ah, der gute alte § 661a BGB. Ich hoffe, du hast gewonnen!

      (Ich schreibe jetzt einfach mal auf Deutsch weiter, wenn du schon das deutsche Justizsystem lahmlegst mit deinen landesweiten Forderungen. 😛 )

      Ich wundere mich auch immer, wie örtlich beschränkt die meisten Rechtsanwälte, aber auch viele Mandanten, denken.
      Auch in diesem Fall hatte der Gegner zuerst eine Rechtsanwältin aus Berlin. Als der Fall dann zum Amtsgericht Pasewalk ging, gab sie den Fall an einen örtlichen Rechtsanwalt ab. (Es sind nur 2 Stunden mit einem direkten Zug, also wirklich kein Drama.)

      Manche Mandanten wollen aber auch selbst unbedingt einen örtlichen Rechtsanwalt, damit sie keine Reisekosten zahlen müssen. Dann sparen sie sich 200 Euro, aber nehmen dafür einen Rechtsanwalt, der eigentlich nicht ihre erste Wahl gewesen wäre. Und das in einem wichtigen Prozess, den man einmal im Leben hat. Naja.

      Aber auch von anderen Rechtsanwälten höre ich oft, dass sie nur im eigenen Landkreis, maximal und ausnahmsweise in der Nachbarstadt tätig sind.
      Ich nehme an, die sind so beschäftigt und voll ausgelastet, dass der Gedanke an eine mehrtägige Reise sie eher besorgt als entzückt.

      Bei mir ist es genau andersherum, ich bin immer froh, wenn ich einen Fall vor einem Gericht bekomme, bei dem ich noch nie war. Am liebsten kleine Gerichte in mir bisher unbekannten Städten. Und je weiter weg, umso besser, dann rechtfertigt die Entfernung nämlich ein paar Tage Urlaub. Es gibt ja auch nette Amtsgerichte im Bayerischen Wald, im Erzgebirge oder auf Rügen.
      Ein sehnlicher Wunsch von mir ist, einmal im Leben einen Fall beim Amtsgericht Dippoldiswalde zu haben. Dorthin fährt man nämlich mit der Dampflok.

      Um Mandanten zu besuchen oder um zu recherchieren, reise ich auch gerne international.
      Im internationalen Familienrecht kommt es öfters vor, dass meine Mandanten im Ausland wohnen, aber einen Rechtsanwalt in Deutschland benötigen (zB weil das Kind oder der Gegner in Deutschland wohnen).
      Auch im Erbrecht können im Ausland lebende Mandanten in einen Sachverhalt verwickelt sein, der sich nach deutschem Recht abspielt.
      Und da biete ich manchmal an, persönlich zum Kennenlernen und Besprechen vorbeizukommen. Leider sind heutzutage viele Menschen mit einem Videoanruf zufrieden. :/

      Eigentlich hätte ich gerne im Wilden Westen gearbeitet, als wandernder Rechtsanwalt. Immer für ein paar Tage in einer Stadt. Mit einer Annonce in der Tageszeitung: „Vom 12. bis zum 20. Jänner erfüllt sich der weltberühmte, höchst erfolgreiche und – wie viele Mandanten vom Atlantik bis zum Pazifik, vom Mississippi bis zum Yukon bestätigen – sehr sympathische Rechtsanwalt Andreas Moser einen lebenslangen Wunsch und kommt endlich nach Tombstone, Arizona. Das interessierte Publikum wird ihn im Saloon antreffen, jeweils ab 8 Uhr morgens bis spät in die Nacht. Bei den Beratungsgesprächen darf geraucht werden. Rabatte für Waisen und Witwen. Se habla español.“

  5. Avatar von hanselmar hanselmar sagt:

    Ja, ich habe gewonnen, aber nicht einen Pfennig bekommen. Der Firmengeschaeftsfuehrer war ein polnischer Landarbeiter der in Schottland auf einer Farm arbeitete. Er war die rechtlich verantwortliche Person. Die Firma war in den Niederlanden registriert. Dort haette ich auch den Geschaeftsfuehrer auf die Bezahlung der versprochenen Geldsumme verklagen muessen. In Offenburg habe ich gewonnen, aber der verlogene Geschaeftsfuehrer der echten Versandfirma hat einfach behauptet er habe alles nur im Auftrag der niederlaendischen Firma gemacht. Diese Niederlaendische Firma war ein Briefkasten an einer Apotheke in Enschede. Die dort ankommende Post wurde dann nach Offenburg weitergeleitet. Das habe ich allerdings erst spaeter erfahren. In diesem Fall kann ich sagen ich habe gewonnen, aber nichts bekommen. Zumindestens habe ich gelernt dass es auch tuechtige Schwindler im Schwarzwald gibt und nicht nur in Nigeria wo meine 419scam Freunde beheimatet sind.

    Die Geschichte mit dem reisenden Anwalt in den USA finde ich auch interessant. Ich habe mal gelesen dass man dort sogar sein Anwaltsstudium an einer Fernakademie absolvieren kann. Dann auf in das Land der unbegrenzten Moeglichkeiten. Wieviele Anwaelte dort jaehrlich von ihren unzufriedenen Klienten erschossen werden ist mir allerdings nicht bekannt, aber es soll dort Anwaelte geben die nur bei Erfolg bezahlt werden wollen. Wahrscheinlich wollen sie damit einer Erschiessung zuvorkommen.

    Der wilde Westen hat nun mal seine eigenen Gesetze. Das weis ich seit der Zeit wo ich die Buecher von Karl Mai gelesen habe.

  6. Avatar von danysobeida danysobeida sagt:

    Aceptarías un caso en Cochabamba-Bolivia?

  7. Avatar von danysobeida danysobeida sagt:

    O tal vez una investigación.

  8. Avatar von T.Head T.Head sagt:

    Da hoffe ich aber mal, dass sie bei dem AfD Schriftzug billige Farbe genommen haben

  9. Jetzt weiß ich endlich, warum so viele kleine Kinder in Einkaufszentren verloren gehen. Danke für die Aufklärung😉. Gibt es da nicht sogar teilweise eigene Aufbewahrungsräume mit Bällebad? Wenn man da den Abholzettel vergisst…

    Meine Seele hat eine dunkle Seite.

    • Ich glaube, man fährt dazu besser in ein größeres Einkaufszentrum in einer fremden Stadt.
      Denn in einer Kleinstadt bekommt es ja jeder mit, wenn die Durchsage erfolgt: „Die kleine Schakline will von ihren Eltern abgeholt werden.“ Wenn man dem Kind auch noch solche ‚kreative‘ Namen gegeben hat, weiß ja jeder, wo das Kind hingehört.

      Am besten los wird man Kinder wahrscheinlich im Disneyland.

    • Du kannst ja mal einen Ratgeber dazu verfassen. „Wie werde ich mein Kind los für Dummies. Mit aktueller Rechtslage“.

      Mein Gott, sind wir böse

    • Was viele Eltern gerne früher gewusst hätten:
      Bereits 8 Wochen nach der Geburt kann man sein Kind zur Adoption freigeben (§ 1747 II 1 BGB).

  10. Avatar von Xeniana Xeniana sagt:

    Ich hätte mich damals an dich wenden sollen in Familienfragen:) Jetzt mal ehrlich, beim Anblick dieser trostlosen Einkaufscenter versteht man das Wahlergebnis., die Wahlergebnisse

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