Vor hundert Jahren wanderten zwei Männer aus dem Bayerischen Wald in die USA aus – Juni 1922: die Gebrüder Vogl

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In der Migrationsforschung unterscheidet man, um der Motivation von Auswanderern oder Flüchtenden näher zu kommen, zwischen Push- und Pull-Faktoren. Die ersteren stellen den Anreiz dar, sich von einem Ort aufzumachen und wegzugehen. Häufige Ursachen sind Armut, Krieg, politische oder religiöse Unterdrückung. Die letzteren versuchen zu erklären, warum sich Migranten einen bestimmten Ort als Ziel aussuchen. Das können wirtschaftliche Möglichkeiten oder ein präferiertes politisches System sein, aber auch sprachliche oder kulturelle Nähe, mehr Sonnenstunden oder bereits im Ausland lebende Familienmitglieder.

Aus eigener Erfahrung möchte ich einen oft übersehene Grund hinzufügen, nämlich das Gefühl, dass einem zuhause die Decke auf den Kopf fällt. Oder, um es positiver zu formulieren: Neugier. Abenteuerlust. Fernweh.

Für mich war es immer ganz selbstverständlich, mehr von der Welt sehen zu wollen. Schon als Kind blickte ich sehnsuchtsvoll auf die Weltkarte über meinem Bett, verschlang Reisebücher (damals gab es noch kein Interweb und insbesondere nicht so tolle Weltreiseblogs wie diesen), sammelte Briefmarken aus aller Welt, schlug die Orte im Atlas nach, und lebte jedes Mal auf, wenn ich im Radio oder auf der Straße Fremdsprachen hörte.

Die Unsitte, ein ganzes Leben an einem Ort zu verbringen, erscheint mir angesichts der Vielfalt der Welt widersinnig, ja geradezu unnatürlich. Vielleicht war das noch verständlich zu Zeiten, als die Lebenserwartung 30 magere Jahre betrug, so dass einem nach Abitur, Wehrdienst, Studium und Promotion nur mehr zwei Jahre bis zum Tod blieben. (Wenn man ganz großes Pech hatte, fielen die 30 Jahre auch noch in den Dreißigjährigen, Achtzigjährigen oder Hundertjährigen Krieg.) Aber jetzt werden wir alle 80, 90 oder 100 Jahre alt. Da muss man doch, wenn man nicht vor Langeweile versauern will, spätestens alle sieben Jahre in ein anderes Land ziehen!

Leider hat mich das grausame Schicksal nicht nur in ein kleines, langweiliges Dorf in Bayern, sondern in eine etwas provinzielle Familie verschlagen, für die es überhaupt nicht in Frage kam, mehr als 10 km vom Geburtsort wegzuziehen. Jenseits des nächsten Landkreises war für sie schon Ausland, und Ausland war böse. Selbst Sommerurlaube fanden streng in den Grenzen des Deutschen Bundes bzw. in denen der ersten Strophe des Deutschlandliedes statt.

Ich wollte da immer weg. Wahrscheinlich war es aus dem Motiv der Gegenidentifikation, dass ich zum Weltenbummler und Weltenbürger wurde. Insofern kann ich gut verstehen, dass – um endlich zur eigentlichen Geschichte zu kommen – mein Urgroßonkel Josef Vogl vor genau einhundert Jahren, im Juni 1922, von diesem Bauernhof im Bayerischen Wald in die USA auswanderte.

Das war zwar kein Ereignis der Weltgeschichte, wie es sich die bisherigen Folgen dieser kleinen aber feinen Geschichtsreihe vorgenommen haben. Aber ich möchte Euch trotzdem damit behelligen. Denn zum einen bilden die unzähligen Fälle dieser und ähnlicher Auswanderungen zusammen eben doch Weltgeschichte, im konkreten Fall die millionenfache Auswanderung Deutscher in alle Welt. Zum anderen würde ich Euch gerne mit auf die Spur der Recherche nehmen, denn es würde mich nicht wundern, wenn sich auch in Eurer Familiengeschichte bisher unbekannte Migrationshintergründe verbergen. (Allein in den USA geben 45 Millionen Menschen ihre Hauptabstammung mit „Deutsch“ an, und auch in Kanada, Australien, Südafrika und Lateinamerika trifft man immer wieder auf Leute mit erstaunlich deutsch/österreichisch/schweizerisch klingenden Namen.)

Bei mir begann die Neugier mit zwei Fotos, aufgenommen etwa um 1960, die meinen Vater (der Elvis-Verschnitt), meinen Onkel (der Junge, dem man eine Hitler-Frisur verpasst hatte), den Rest der Großfamilie und einen offensichtlich im Mittelpunkt des Interesses stehenden Mann zeigen.

„Das war der Frank aus Amerika“, sagt mein Vater und spricht den Namen wie „Fränk“ aus. Eigentlich hieß er Franz. Franz Vogl, der jüngere Bruder von Josef Vogl. Beide seien in die USA ausgewandert. Josef sei nach dem Zweiten Weltkrieg einmal zu Besuch gekommen, Franz/Frank zweimal. Jeweils zu Pfingsten, da gibt es in Kötzting immer eine Mordsgaudi. So etwas wie das Oktoberfest, nur mit Pferden.

„Und es gab mordsmäßige Räusche“, erinnert sich mein Vater, „denn der Frank, der hatte Dollar.“

Vielleicht lag es an ebendiesen Räuschen, aber mehr war aus meinem Vater und meinem Onkel nicht herauszubekommen. Sie wussten nicht, wo in den USA ihre Großonkel gelebt hatten. Sie wussten nicht, wann und warum sie ausgewandert waren. Sie wussten – über die auf dem Foto abgebildete Ehefrau von Franz Vogl hinaus – nichts von etwaigen Familien, Nachkommen und damit möglichen Cousins und anderen Verwandten. Sie wussten nicht, ob sie Republikaner oder Demokraten waren. Sie wussten nicht, was sie im Zweiten Weltkrieg gemacht hatten. Gar nichts.

Irgendwann in den 1960er Jahren war der Kontakt abgebrochen.

In unserer Familie gilt als suspekt, wer sich von der heimischen Scholle entfernt und in die weite Welt geht. Reisen gilt als Frivolität, als ketzerischer Versuch, den gottgegebenen Platz auf Erden zu verlassen. Wie gesagt, ich kann schon verstehen, dass der Josef und der Franz weg wollten. Und so bin ich der einzige, der sich für diese Geschichte interessiert. Aber auch bei mir geriet sie in Vergessenheit.

Bis ich mal wieder in New York war und mit der Fähre zur Freiheitsstatue fuhr. Das ist diese Frau mit der Fackel, die ein Gedicht aufsagt, das unter anderem den Aufruf enthält: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen.“

Der Spruch passt ganz gut, denn die Freiheitsstatue war tatsächlich das erste, was die meisten Einwanderer sahen, die mit dem Schiff in die USA kamen. Bevor sie ins Land durften, landeten sie jedoch auf einer Nachbarinsel von Liberty Island, nämlich Ellis Island, wo sich bis 1954 die zentrale Immigrantensammelstelle der USA befand.

Jetzt ist der ehemalige Wartesaal für Einwanderer ein Museum. Man erfährt hier, wie sich die Einwanderungspolitik im Laufe der Zeit gewandelt hat, welche Voraussetzungen die Einwanderer erfüllen mussten, wie die medizinische Untersuchung und die Quarantäne ablief. Ich spazierte durch die Ankunftshalle, die Arztzimmer und die Schlafsäle, in denen meine Verwandten nach der Überfahrt zum ersten Mal wieder festen Boden unter den Füßen spürten.

Übrigens: Bitte unbedingt darauf achten, dass Ihr statt der Fähre nach Liberty Island oder Ellis Island nicht aus Versehen die nach Rikers Island nehmt! Da kommt Ihr nämlich nicht mehr so schnell weg.

Auf Ellis Island gab es auch so neumodische Computerterminals, in denen man nach seinen Verwandten – und eigentlich nach jedem – suchen konnte. Praktisch wie ein Archiv, nur ohne die Romantik des stundenlangen Blätterns in dicken Büchern. Ich wusste herzlich wenig, außer dass es zwei Brüder waren, die Franz und Josef Vogl hießen. Mal sehen, was sich damit finden ließe.

Zuerst erfuhr ich, dass Vogl ein Allerweltsname ist: 827 Treffer. (Meine Urgroßonkel hatten einen anderen Nachnamen als ich, weil sie einer großmütterlichen Linie entstammen und weil die Frauen in meiner Familie bisher nicht emanzipiert genug waren, ihre Nachnamen trotz Heirat zu behalten. Mit meinem eigenen Nachnamen, Moser, gibt es 6377 Treffer. Darunter sogar 9 Andreas Moser, die zwischen 1866 und 1936 in die USA auswanderten. Ach, hätte ich doch nur zufällig einen von denen vor der Abfahrt in der Hafenkneipe getroffen. Dann hätte ich ihnen das Ticket abluchsen können.)

Wenn man das Geburtsjahr, das Auswanderungsjahr oder sonstige Informationen hat, kann man die Suche eingrenzen. Ebenso kann man nach Heimatort und Geburtsort filtern. Warum letzteres keinen Sinn macht, zeige ich aber gleich. Die beiden kamen aus Kötzting im Bayerischen Wald, aber Kötzting ergibt keine Treffer. Ebensowenig Koetzting. Und Kotzting auch nicht. Also muss ich die Liste doch manuell durchsehen und finde die beiden schließlich. Sie haben nicht, wie ich es in New York machen würde, die nächste Stadt, sondern den Namen ihres Dorfes angegeben: Traidersdorf.

Da haben wir sie also: Josef Vogl, ausgewandert 1922, und sein jüngerer Bruder Franz Vogl, ihm nachgefolgt 1923. (Die letzte Spalte enthält den Namen des Schiffes, auf dem sie reisten.)

Ihr könnt diese Suche übrigens nachverfolgen oder nach eigenen Verwandten forschen, denn die Datenbank ist online zugänglich. Sogar kostenlos. (Man muss sich nur registrieren, um alle Funktionen nutzen zu können.)

Wir nehmen uns zuerst Josef Vogl vor, weil der vor genau 100 Jahren den Anlass für das heutige Jubiläum gesetzt hat.

Sofort finde ich heraus, dass er 1893 geboren wurde, dass er am 30. Juni 1922 im Alter von 29 Jahren auf dem Schiff „President Taft“ in New York ankam, und dass er in Bremen in See gestochen war. (Nach zwei Atlantiküberquerungen wurde die „President Taft“ in „President Harding“ umbenannt, lasst Euch von den Bildunterschriften also nicht verwirren.)

Das ist schon ein ziemlich flottes Schiff, nicht mehr so knarzende Windjammer, von denen die Hälfte unterging. 18 Knoten schnell. Platz für 644 Passagiere, jeweils die Hälfte in der ersten, die Hälfte in der dritten Klasse. Das Schiff wurde erst 1922 in Betrieb genommen, wahrscheinlich roch der Lack noch frisch, die Messinggeländer glänzten, und weil es Sommer war, hatte niemand Angst, Eisberge, Eisbären oder Eisbecher zu rammen.

Ich könnte jetzt viel erzählen über den hart umkämpften Markt der Amerika-Auswanderungen, die Kartelle der Reedereien, die Auswanderer-Agenten, die über Land zogen und in Wirtshäusern – bevorzugt in den armen Gegenden Europas – von blühenden Landschaften im Osten und dem Goldrausch im Westen sprachen, ganz so wie wenn es schon 1990 wäre.

Ich könnte davon erzählen, was allein die Reise nach Bremen für jemanden bedeutete, der bis dahin wahrscheinlich nur das nahe Umfeld des elterlichen Bauernhofes im Bayerischen Wald kannte. (Das war vor der Zeit, wo deutsche Männer dank der Wehrmacht die ganze Welt bereisten.) Eigentlich ist es ja nicht weit. Ein oder zwei Tage mit dem Zug, kostet nur 9 Euro. Aber ich glaube, bis heute bin ich der einzige aus der Großfamilie, der es seit den Auswandererbrüdern nach Bremen geschafft hat.

Ich könnte erzählen über die Bedingungen an Bord, die Unterschiede zwischen erster und dritter Klasse, die ruhige See im Sommer, die stürmische See im Winter und die Freude über ein paar Wochen ganz ohne Internet und Fernsehen.

Ich könnte erzählen, dass Josef Vogel beileibe nicht der einzige war, der aus seinem Dorf ausgewandert ist. Es war eine ganze Gruppe von jungen Männern und Frauen, die gemeinsam das Weite suchten.

Aber ich will hier kein Buch schreiben und nicht allzu sehr ausufern, sondern Euch schnurstracks ans andere Ufer, nach New York mitnehmen. Dort wurde an jenem 30. Juni 1922 eine lange Liste aller Neuankömmlinge aufgenommen, an deren Platz 1 unser Josef Vogl steht. Ob das bedeutet, dass er ganz prominent und selbstbewusst als erster von Bord ging, oder ob er von allen am seekränksten war, oder ob es Zufall war, ich weiß es nicht.

Was man erfährt, ist, dass er 1,67 m groß war, helle Haare, graue Augen und 50 Dollar in der Tasche hatte. Das entspräche heute etwa 800 Dollar, kein wahnsinniger Reichtum. Er musste sich wohl bald eine Arbeit suchen.

Eine sehr interessante Spalte ist die der ersten Anlaufstelle, wohin sich der Einwanderer wenden will, bis er auf eigenen Beinen steht. „Friend Josef Sturm – Carroll JA“ steht da. Zum einen legt der Name nahe, dass es sich um einen Freund aus Deutschland handelt. Das wäre zu erwarten, denn die deutschen Einwanderer blieben gerne unter sich. Sie hatten deutsche Schulen, deutsche Kirchen, deutsche Vereine und hunderte deutschsprachiger Zeitungen. In den Städten gab es deutsche Viertel und auf dem Land deutsche Städte, von Bismarck bis Germantown.

Deutsche Zeitungen in Nordamerika

Aus „Carroll JA“ wurde ich nicht schlau, bis ich darauf kam, dass das J ein I sein soll: Carroll, Iowa. Von Traidersdorf nach Carroll, das ist echt vom Regen in die Traufe. Beziehungsweise vom Regen in den Wasserturm, das stolze Wahrzeichen dieser Kleinstadt auf dem arg flachen Land. Na gut, wenn es nicht so flach wäre, bräuchte man ja auch keinen Wasserturm, um den notwendigen Druck auf die Wasserleitungen zu bekommen. Auf dem Bauernhof im Bayerischen Wald kam übrigens noch zu meiner Kindheit (1970er und 1980er Jahre) das eiskalte Wasser aus dem Brunnen vor dem Haus.

In dieses sicher auf seine Weise sympathisches Städtchen müsste ich jetzt reisen, um Archive zu wälzen, alte Zeitungen zu durchforsten und auf dem Friedhof nach Grabsteinen zu suchen, wenn ich die Spur meines Urgroßonkels Josef Vogl aufnehmen wollte.

Müsste ich. Wenn wir es hier nicht mit einem klassischen Fall der Kettenmigration zu tun hätten. Denn Josef holte bald seinen jüngeren Bruder Franz nach. Franz kam, auch das erfahre ich im Online-Archiv von Ellis Island, am 6. Juli 1923 im Alter von 26 Jahren in New York an. Auch er war in Bremen losgefahren, und zwar auf genau demselben Schiff wie sein älterer Bruder, das mittlerweile „President Harding“ hieß. (Dass der 6. Juli mein Geburtstag ist und dass ich mich über jede Unterstützung für diesen Blog freue, sei hier nur ganz leise erwähnt.)

Auch für ihn wurde fein säuberlich alles notiert (Zeile 9). Man merkt, dass es die Zeit der Wirtschaftskrise und Inflation in Deutschland war, denn er hatte nur mehr 20 Dollar bei sich. Dafür gab er an, dass sein Bruder die Überfahrt für ihn bezahlt hatte. Das war nett. Würde ich für meinen Bruder und meine Schwester auch jederzeit machen, wenn sie es zuhause nicht mehr aushalten.

Aber das hilfreichste an diesem Dokument ist die Adresse, die Franz Vogl 1923 als das Ziel seiner Reise angab: „Brother Josef Vogl, 2301 17th Avenue, Altoona PA.“

Volltreffer! Noch bevor ich mich durch alte Kisten im Archiv von Carroll, Iowa, wühlen muss, weiß ich jetzt, dass Josef innerhalb eines Jahres nach Altoona, Pennsylvania, gezogen war und sein jüngerer Bruder Franz ihm dorthin folgte. Altoona ist übrigens auch eine von diesen deutschen Städten; es ist die amerikanisierte Schreibweise von Altona bei Hamburg. Hier gibt es sogar Berge, die Allegheny Mountains.

Außerdem gibt es ganz viel Eisenbahn und Lokomotivfabriken. Als ich das meinem Vater berichte, fällt ihm ein, dass Franz/Frank bei seinem Besuch in Deutschland erzählt hatte, dass er bei der Eisenbahn arbeite. Ihr seht: Es ergibt also durchaus Sinn, auch schon während der Recherche Zwischenergebnisse zu teilen, weil dann den Familienangehörigen doch wieder etwas einfällt, von dem sie gar nicht mehr wussten, dass sie es wissen. Diese „Unknown Knowns“ hat sogar Donald Rumsfeld übersehen.

Aber der größte Fortschritt ist, dass wir nicht nur die Stadt, sondern die exakte Adresse haben. Mehr Bingo geht gar nicht! Und weil die Amerikaner 1775 gegen die Datenschutzgrundverordnung revoltiert haben, wird in den USA jetzt jede Straße fotografiert, gefilmt, von der NSA abgehört und ins Interweb gestellt. Hier ein aktuelles Foto:

Der Kommunistenstern über der Veranda deutet tatsächlich auf eine verwandtschaftliche Verbindung hin. Andererseits sieht das Haus nicht nach den 1920er Jahren aus. Vielleicht sah die Gegend damals ganz anders aus? Vielleicht war die 17th Avenue vor 100 Jahren in einem anderen Teil der Stadt? Vielleicht hat sich jemand bei der Adresse verschrieben?

Um all das herauszubekommen, werde ich einfach mal einen Brief an diese Adresse schreiben. Oder nach Altoona fahren, um vor Ort zu recherchieren. Oder darauf hoffen, dass sich auf die englische Fassung dieses Artikels jemand aus den USA meldet.

Natürlich könnte ich auch in den ganzen Datenbanken suchen. Aber erstens mache ich es lieber zuerst auf die ganz altmodische Art. Und außerdem soll ja noch etwas übrig bleiben für zukünftige Artikel auf der Suche nach den bisher unbekannten Verwandten.

Und Ihr könnt jetzt auch zu recherchieren beginnen! Denn wie Ihr gesehen habt: Selbst wenn man glaubt, die Familie ist sowas von langweilig und lebt seit der Völkerwanderung immer am gleichen Ort, ein paar Verwandte mit Migrationshintergrund verstecken sich in fast jeder Familie.

Aber vertraut der künstlichen Intelligenz nicht allzu sehr! Ihr müsst etwas kreativ in alle Richtungen detektivieren. Ein Beispiel: Erst auf den dritten oder vierten Blick fiel mit bei dem Dokument vom 30. Juni 1922 auf, dass in der Spalte „vorheriger Aufenthalt in den USA“ der Zeitraum 1914-1921 angegeben war.

Nanu? Sollte Josef zum ersten Mal schon 1914, also als 21-Jähriger ausgewandert sein? Ich suchte und suchte, aber konnte keinen Eintrag in der Ellis-Island-Datenbank finden. Der Verzweiflung nahe, erinnerte ich mich daran, wie dumm Computer und wie schlau Menschen sind, suchte nur nach dem Nachnamen, und tatsächlich: Hier steht er als Joseph, nicht als Josef. Und der Geburtsort ist als „Fraidersdorf“ falsch transkribiert worden.

Damals fuhr er von Antwerpen, mit einem Schiff der Red Star Line, in deren einstigen Hafenanlagen jetzt ein Auswanderermuseum ist. Wie es der Zufall so will, war ich auch dort schon.

Aber auch 1914 zog es Josef Vogl schon nach Carroll, und zwar zusammen mit vier anderen Auswanderern zum Neffen von jemandem, dessen Namen ich nicht entziffern kann. Aber es bedeutet, dass er dort womöglich wesentlich länger gelebt hat, als ich bisher annahm. Nun muss ich also doch auch zum Archiv in Carroll, Iowa.

Was besonders interessant wäre: Wie hat er die Zeit des Ersten Weltkriegs verbracht? Mit dem US-amerikanischen Kriegseintritt 1917 machte sich eine antideutsche Stimmung breit. Ob er als junger Mann in eines der Internierungslager verbracht wurde?

German internment WW1

Dass die Auswanderer nach einigen Jahren wieder zurück in ihre Heimat kehrten und später erneut auswanderten, war übrigens nichts Besonderes. Seit die Dampfschiffe die unsicheren Segelschiffe abgelöst hatten und die Reise relativ planbar, sicher und gemütlich geworden war, kehrten Auswanderer immer wieder nach Europa zurück. Zum Heiraten. Um ein Erbe anzutreten. Oder um mit dem ersparten Geld ein Geschäft zu eröffnen. Josef hielt es nur ein Jahr in Deutschland, von 1921 bis 1922.

1924, ein Jahr nach der Migration von Franz Vogl, verschärften die USA die Einwanderungsregeln drastisch und setzten Quoten für bestimmte Herkunftsländer fest. Damit war die massenhafte Zuwanderung beendet. Gut, dass Josef und Franz es rechtzeitig geschafft haben. So blieb ihnen zumindest der Nationalsozialismus erspart.


Ich mache mich jetzt auch aus dem Staub, und zwar nach Rumänien. Dort, genau genommen in Alba Iulia, wird nämlich die Folge für Oktober 1922 spielen. Und dafür scheue ich keine Mühen. Schließlich ist das hier nicht nur ein Geschichts-, sondern auch ein Reiseblog.

Aber in der Zwischenzeit würde ich gerne von Euren eigenen Recherchen nach der Familiengeschichte hören!

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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33 Antworten zu Vor hundert Jahren wanderten zwei Männer aus dem Bayerischen Wald in die USA aus – Juni 1922: die Gebrüder Vogl

  1. Pingback: Vor hundert Jahren … | Der reisende Reporter

  2. richards-fotoseite schreibt:

    Ein spannender Bericht. Ich wünsche Dir alles Gute zum Geburtstag 🙂

  3. sinnlosreisen schreibt:

    Coole Recherche!
    In meiner Familie hat mal jemand einen Stammbaum erstellt. Da waren auf Generationen nur unspektakuläre Verhältnisse zu sehen. Und leider kein ausgewanderter Verwandter, den ich mal besuchen könnte. Schade.

  4. chrisbaumgarten schreibt:

    Wieder mal ausnehmend interessant.

    Was mich daran erinnert: Hab ja auch in der Familie einige Auswanderer und Zeitweise-Auswanderer: Zwei Großtanten von mir – jeweils eine Schwester meiner Großmütter – sind in die USA ausgewandert, zwei Großonkel, Brüder meines Großvaters väterlicherseits, nach Australien. Die Großtanten hab ich noch kennengelernt, die Großonkel nicht, aber einige von ihren Nachkommen bei einem Österreich-Besuch.

  5. chrisbaumgarten schreibt:

    Und natürlich: Alles Gute zum Geburtstag.

  6. festus schreibt:

    Alles Gute zum Geburtstag. Das Risiko Rikers-Island-Fähre ist vernachlässigbar. Ein Jahr nach meiner Geburt eröffnet eine Brücke. Mit Buslinie, zu Fuß geht aber auch. Beide Großfähren vom Staten Island-Typ wurden als schwimmende Knäste benutzt und 2003 verschrottet. Die Kleinfähre nach Hart Island läuft Rikers Island nicht mehr an, Armenbestattungen werden seit einem Jahr oder so von einer Firma erledigt.

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank!
      Das ist aber verdächtig, wie gut du dich mit Gefängnisinseln auskennst. Bist du Profi-Ausbruchshelfer?

    • festus schreibt:

      Ichsammle einfach gerne Informationen. Im Unterschied zu Dir will ich aber nicht zwingend hin.

    • Andreas Moser schreibt:

      Du wärst also der klassische Telefonjoker.

    • festus schreibt:

      Ich hasse telefonieren, aber ansonsten ja (außer Sportfragen). In alten Jugendarbeitstagen galt „Eine Mannschaft ich- die andere alle andern“ als einigermaßen faire Mannschaftseinteilung für Quizfragen.

  7. Kasia schreibt:

    Ach, das erinnert mich an Zeiten, als ich mit meinem Opa an der verstaubten Kiste mit alten, vergilbten Bildern saß und mir geisterhafte Gestalten aus den Tiefen der Vergangenheit entgegen blickten. Leider wusste mein Opa nicht viel genaues. Ein Ur-ur-ur… Großvater hatte einen deutsch klingelnden Nachnahmen („Hoch“) und andere Verwandte eine ukrainische Abstammung. Ein Familienzweig habe sich nach Australien abgesetzt. Es ist schon spannend, wo überall auf der Welt die eigenen Wurzeln verstreut liegen, wenn man so anfängt zu graben…

    • Andreas Moser schreibt:

      Und erst die Unmengen an Reise- und Besuchsmöglichkeiten, die solche Familiengeschichten bieten! 😉

    • Kasia schreibt:

      Das ist wahr. Mein Onkel hat mit seinen Kindern vor ein paar Jahren diejenigen Gebiete der Ukraine besucht, wo Oma und Opa vor dem Wolyn Massaker lebten. So entdeckten sie, welch liebenswertes Land die Ukraine ist und besuchten sie von da an mehrmals. Spurensuche in der eigenen Geschichte ist immer spannend.

    • Andreas Moser schreibt:

      Das Entdecken von solch historischen Zusammenhängen und von Gegenden, in die man sonst vielleicht nie käme, ist für mich auch die Hauptmotivation hinter dieser Spurensuche. Viel mehr als, dass ich vielleicht irgendwelche Cousins siebten Grades finde.

  8. danysobeida schreibt:

    Casualmente mi hija se propuesto la búsqueda de las hermanas y madre de su abuelo paterno. El dato sobre los registros del ingreso de frontera le será útil, en el caso de que aquí en Bolivia todavía se guarden los registros o al menos se hayan digitalizado.
    En relación a Alba lulia creo que me encantaría una postal que como te dije no debes enviar por correo porque nuestro sistema es ineficiente.
    Y respecto a Ammerthal, en el sur de Bolivia existe una creencia popular que dice que debes recibir „orejazos“ el número de años cumplidos para tener mejor suerte el próximo año de vida, una costumbre que se esta perdiendo. Finalmente y aunque un poco tarde Feliz cumpleaños.

  9. Henning Haarhaus schreibt:

    Halb Amerika kommt aus der Oberpfalz/ dem Fichtelgebirge.

  10. Nadine Lachmann schreibt:

    Du siehst deinem Vater aber sehr ähnlich, Wahnsinn!

  11. Pingback: One Hundred Years Ago, two young Men left Bavaria for the United States – June 1922: the Vogl Brothers | The Happy Hermit

  12. eimaeckel schreibt:

    Als ich Kind war, gab es vom Hörensagen einen „Onkel aus Amerika“ in unserer Familie. Ich stellte ihn mir wie einen Cowboy vor, der gleichzeitig steinreich sein musste. Oft phantasierte ich über die tollen Sachen, die er mir mitbringen würde, wenn er einmal zu Besuch käme. Viel später sah ich ihn wirklich einmal. Er war der Mann einer entfernten Tante, die nach dem zweiten Weltkrieg vor der Enge und Armut in unserem Städtchen in die USA geflohen war. Kein Cowboy, sondern ein kleiner Angestellter aus Florida. Ich werde deiner spannenden Suche gerne weiter folgen.😊

    • Andreas Moser schreibt:

      Wenn wir in Deutschland von amerikanischen Verwandten alle die gleichen Klischees haben, wirft das die Frage auf, welche Klischees die amerikanischen Verwandten von uns haben.
      Ich bin mir fast sicher, dass Lederhosen und Bier eine große Rolle dabei spielen.

  13. benwaylab.com schreibt:

    Ellis Island fand ich auch sehr interessant. Ich hätte dort mehrere Tage verbringen können. Als ich da war, gab es eine Ausstellung mit kolorierten Portraitfotos, die bei der Einreise von den Immigranten gemacht wurden: dort waren die Menschen in ihren Volkstrachten abgebildet: Chinesinnen in ihren Kleidern aus Szechuan, eine italienische Frau in der Tracht aus Kalabrien, ein Grieche in der Fustanella. Wirklich faszinierend.
    Aber das Motte des Gedichtes auf der Freiheitsstatue ist ziemlich verlogen: wer bei der Einreise alt, schwach, krank aussah oder nur die leisesten Anzeichen einer Geisteskrankheit aufwies wurde gnadenlos wieder zurückexpediert.

    • Andreas Moser schreibt:

      Guter Hinweis darauf, dass es nicht um humanitäre Einwanderung oder die Aufnahme von Flüchtlingen ging (wie man später bei der Abweisung von Schiffen voll fliehender Juden sah), sondern um Arbeitskräfte.
      Wahrscheinlich kein Zufall, dass die Immigration in die USA erst so richtig nach der Abschaffung der Sklaverei in Fahrt kam.

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