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Bei Debatten um Migration geht es oft darum, ob diese gut oder schlecht sei. Ich finde hingegen, dass Migration als etwas ganz Normales angesehen werden muss. Migration ist ein fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte.
Deutschland bzw. das, was später Deutschland werden sollte, war dabei über Jahrhunderte weniger ein Einwanderungs- als vielmehr ein Auswanderungsland. (Auch die aktuelle Auswanderung aus Deutschland dürfte von den meisten unterschätzt werden. Und dabei ist die Statistik ganz sicher zu niedrig angesetzt, weil sich viele Auswanderer aus Deutschland nicht abmelden.)
Vergangenes Wochenende besuchte ich an der Fernuniversität in Hagen ein Seminar über „Deutsche Auswanderung in die USA von 1815 bis 1914“. Am interessantesten fand ich dabei nicht die Zahlen (es waren Millionen) oder die Migrationsgründe (hauptsächlich die Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserung, aber auch die Vorstellung von einem freieren Land), sondern Fragen der Integration bzw. Assimilierung der Deutschen in den USA.
Integrationsweltmeister waren die Deutschen nämlich keineswegs. Schon 1753 beschwerte sich Benjamin Franklin über die deutschen Einwanderer, „die niemals unsere Sprache und Gewohnheiten übernehmen werden, sondern uns germanisieren werden“. Im 19. Jahrhundert, als etwa 5 Millionen Deutsche in die USA auswanderten, wurde das nicht besser. Sie konzentrierten sich in einigen Bundesstaaten und in einigen Städten, betrieben deutsche Schulen, hielten deutschsprachige Gottesdienste ab und hatten deutsche Zeitungen. Eine Parallelgesellschaft.

In Wisconsin, Minnesota und Illinois waren noch 1900 mehr als ein Fünftel der Einwohner deutsch oder deutschstämmig. Überfremdung würden das manche nennen. Selbst in Berlin-Kreuzberg liegt der Ausländeranteil heute niedriger als in der US-amerikanischen Durchschnittsstadt um 1870.
Von den alteingesessenen US-Amerikanern wurden die Deutschen misstrauisch beäugt, zum einen weil etwa die Hälfte von ihnen katholisch war. Dass jemand, der anderer Religion als man selbst ist und die Gottesdienste in anderer Sprache zelebriert, der gleichen Nation gegenüber loyal sein könnte, übersteigerte das Vorstellungsvermögen – und tut es bei vielen immer noch. Wie es Professor Hochgeschwender im Spiegel-Gespräch sagt:
Den deutschen Katholiken wurde nachgesagt, religiöse Fanatiker zu sein. Sie müssen in antikatholischen Texten des 19. Jahrhunderts nur das Wort ‚katholisch‘ durch das Wort ‚muslimisch‘ ersetzen, und Sie haben die heutige antimuslimische Propaganda: Die Einwanderer seien illoyal und einer fremden Macht verpflichtet. Sie wollten die Verfassungsordnung unterhöhlen, sie rammelten wie die Karnickel, um mit ihren Nachkommen die Aufnahmegesellschaft zu überfluten.
Die Lebensweise der Deutschen wurde als verstörend wahrgenommen. Sie errichteten Biergärten, tranken Unmengen an Alkohol – vor allem am heiligen Sonntag! – und sangen lautstark „Die Wacht am Rhein“. Nach der Reichsgründung 1871 hissten sie schwarz-weiß-rote Fahnen vor ihren Häusern. Integrationsverweigerung würde man das heute nennen.
Eine interessante Quelle, die wir im Seminar behandelten, sind Briefe deutscher Auswanderer. In dem Buch Briefe aus Amerika stellen die Herausgeber 20 Briefserien deutscher Landwirte, Arbeiter und Dienstbotinnen vor, die übrigens nicht nur für die Migrationsforschung interessant sind, sondern überhaupt einen seltenen Einblick in das Leben der deutschen Unterschicht im 19. Jahrhundert bieten. Wenn diese Menschen nicht ausgewandert wären, hätten sie kaum ausführlich über ihr Leben geschrieben, und wir hätten nur schriftliche Quellen aus der Mittel- und Oberschicht.
In den Briefen ging es viel um Löhne, Grundstückspreise und um die Weizenernte. Die Zurückgebliebenen wollten immer wieder wissen, ob sie nachreisen sollten. Die Auswandererbriefe dürften diese Entscheidungen weit mehr beeinflusst haben als die Reklame der Reedereien und Auswanderungsagenturen.

Auch über kulturelle Unterschiede berichteten die Auswander nach Hause, zum Beispiel schrieb der Landwirt Christian Lenz im Januar 1868 an seinen Bruder:
wer seine Frau in Deutschland gerne schlägt der bleibe beser in Deutschland hir geht das nicht oder er hat balt keine Frau mir
und zum Thema Alkohol
das sind fast ale Deutsche die die Saufhäuser haben und ich sage Dir es sind Teufelshäuser
Es ist zwar ein Klischee, aber das Bier war für die Deutschen anscheinend wirklich wichtig. Und genauso für die anti-deutsche Propaganda. Es wurde die Befürchtung geschürt, dass bei Wahlen Einwanderstimmen mit Freibier (bei Deutschen) bzw. Whiskey (bei Iren) erkauft würden.

Als 1855 der Bürgermeister von Chicago den Bierausschank am Sonntag verbot, kam es zu Straßenschlachten, die sich so ähnlich auch in anderen Städten abspielten. In Louisville stürmte im gleichen Jahr ein protestantisch-nativistischer Mob das deutsche Viertel, deutsche Kneipen und eine deutsche Kirche. 20 Menschen wurden getötet. Mehr als 10.000 Einwohner flohen aus der Stadt.
Eine einschneidende Wende brachte der Erste Weltkrieg und insbesondere der Kriegseintritt der USA 1917. Plötzlich waren alle Deutschamerikaner Feinde, Spione und Saboteure. Wer sein Deutschtum nicht 100% aufgab und hinter sich ließ, wurde mit äußerstem Argwohn, ja gar mit Verachtung, betrachtet. Wenn man sein Land verlassen hatte, wieso wollte man noch Deutsch sprechen oder Beethoven hören? Deutschamerikaner waren keine richtigen Amerikaner. Alles Argumente, an deren Qualität sich bis heute nichts verbessert hat, was leider nicht zu ihrem Verschwinden führt.

Amerikanische Schulen strichen Deutsch aus dem Stundenplan, obwohl es bis dahin die beliebteste Fremdsprache gewesen war. Es gab eine regelrechte anti-deutsche Hysterie. Sauerkraut wurde in liberty cabbage umbenannt, aus dem Hamburger wurde das liberty steak, Straßen und Geschäfte wurden umbenannt, deutsche Komponisten nicht mehr gespielt. Deutsche Bücher wurden öffentlich verbrannt. In South Dakota war es verboten, Telefongespräche auf Deutsch zu führen. Deutsche wurden geteert, gefedert und aus der Stadt gejagt. Robert Prager, ein dreißigjähriger Bergarbeiter aus Dresden, wurde 1917 von einem Mob gehängt. Mehr als 2.000 deutsche Zivilisten wurden bis zum Kriegsende in zwei Lagern interniert.

Eine Privatorganisation aus etwa 200.000 Amateuerdetektiven und Möchtegern-Blockwarten, die American Protective League, spionierte deutschen Nachbarn und Kollegen nach, um mögliche Spione zu enttarnen. Deutschamerikaner wurden aufgefordert, ihre Loyalität zu den USA zu beweisen, indem sie Kriegsanleihen zeichneten und die Nationalhymne sangen. Der Druck zum öffentlichen Singen kommt uns doch bekannt vor.

Differenziert wurde nicht. Wer nicht für die USA und deren Kriegseintritt war, war ein Verräter. So traf der Hass sogar die Mennoniten, aus Russland eingewanderte deutschsprachige Pazifisten, die mit dem preussischen Militarismus nun wirklich nichts am Hut hatten.
Die Zeit des Ersten Weltkriegs baute einen enormen Assimilationsdruck auf, so dass innerhalb weniger Jahre nach Kriegsende die meisten deutschen Zeitungen und andere Einrichtungen geschlossen hatten und die Deutschamerikaner weitgehend im US-amerikanischen Völkergemisch aufgingen. 1931 schrieb der Arbeiter Ludwig Dilger an seinen Bruder in Deutschland:
Wie ich den Zeitungen ersehe, wollen die Europäischen Mächte ihre Schulden nicht bezahlen, sie schulden uns 11 Billionen Dollar, haben aber stets Geld für Kriegsvorbereitung. Deutschland schuldet den Ver. Staaten 2 1/2 Billionen Dollar, die es für Kriegsentschädigung geborgt hat. Warum sollen wir doppelte Steuern bezahlen, um die Europäer zu helfen einen neuen Krieg anzufangen.
Hier erkennt man schon die Identifikation mit dem Aufnahmestaat (und ein treffendes Gespür für die Entwicklung in Europa). Andererseits gab es natürlich auch in den USA eine Menge begeisterte Nazis.
Die deutschen Biergärten, die einst so viel Anstoß erregten, werden mittlerweile weltweit als Kulturgut geschätzt. Wenn heute Abgeordnete mit Namen wie Fleischmann oder Sensenbrenner im Parlament der USA sitzen, bezweifelt niemand deren Loyalität. Und Amerikaner mit deutschen Vorfahren nützen diese Tatsache gerne, um eine begehrte EU-Staatsbürgerschaft zu erlangen. So gibt es eine generationenübergreifende Rückwanderung, allerdings zahlenmäßig auf weit geringerem Niveau. Von den europäischen Auswanderern im 19. Jahrhundert kehrte noch etwa ein Drittel wieder zurück, vor allem seit die Einführung der Dampfschiffe die Fahrt schneller, günstiger und weniger angsteinflößend machte.
Links:
- Mehr Artikel über mein Studium an der Fernuniversität.
- Mehr Artikel über Migration, Auslandsdeutsche und über den Ersten Weltkrieg.
- Die Qual der Wahl: das Seminarangebot des Historischen Instituts der Fernuniversität.
- Das beste Buch zu dem Thema ist Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart von Klaus Bade.
- Speziell zur deutschen Migration gibt es einen Band in der Reihe C.H.Beck Wissen von Dirk Hoerder.
- Eine Auswahl deutscher Auswandererbriefe mit guter Einführung findet sich in dem Buch Briefe aus Amerika: Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830-1930.
- Die Sammlung der Auswandererbriefe.
Ist zwar ein schöner Artikel, noch mehr Spaß macht er aber, wenn man nur einzelne fettgedruckte Wörter liest: Parallelgesellschaft! Überfremdung! Intergrationsverweigerung! Also mir ist egal, was die Deutschen da in Amerika wirklich gemacht haben. Ich habe jetzt Angst.
Aber es gab auch gute Deutsche, zB Dr Schultz aus „Django Unchained“.
Einzelfälle!
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Was ist hier nun die Schlussfolgerung? Dass wir Deutschen nun ebenfalls eine Überfemdung verdient haben? Oder dass zahlreiche Einwanderung mit schlechter Integrationsmoral etwas negatives ist?
Oder dass man einfach locker bleiben sollte, weil sich Integration spätestens in der zweiten Generation durch das Schulsystem und dann durch gemischte Beziehungen/Ehen von ganz allein einstellt. (Ausnahmen sind vor allem die sich selbst so bezeichnenden „Expats“, meist Angelsachsen und Deutsche, die sich beharrlich jeder Integration verweigern.)
Außerdem kann man aus dieser Geschichte lernen, dass Neuankömmlinge fast immer Objekte vollkommen überzogener Befürchtungen sind.
„durch das Schulsystem und dann durch gemischte Beziehungen/Ehen von ganz allein einstellt“ Oder durch gesetzlichen Zwang, sozialen Druck und Grundsatzentscheidungen pro/contra Heimat und Aufnahmeland, wie im beschriebenen Beispiel seit 1917. Vielleicht hat auch die Säkularisierung und die Normalisierung von Katholiken als Amerikanern zur Integration beigetragen.
Danke für diese ausführliche historische Einordnung. Du sagtest es bereits: Einbürgerung, Integration ist kein Tagwerk. Und Wanderungsbewegungen gibt es, seit es Menschen gibt. Deutsche sind nicht in Deutschland aus dem Boden gewachsen, sie sind eingewandert. Und Aber-Millionen sind wieder ausgewandert.
Ähnlich wie in den USA haben in Brasilien heute etwa 10% der Bevölkerung deutsche Vorfahren, die hauptsächlich im 19. und 20. Jahrhundert aus sozialen und ökonomischen Problemen nach Brasilien kamen. Und aus Abenteuerlust. Auch bei Denen hat es Generationen gedauert, bis sie integriert waren. Sie sind heute Brasilianer mit deutscher Kultur.
Klar kann man Angst haben vor dem Anderen, vor dem Fremden. Vor neuen Sachen hat jeder seinen Bammel, der eine mehr, der andere weniger. Das Gefühl beruhigt sich, lernt man sich kennen. Andererseits bringen diese Kulturen auch nette Sachen mit. Zum Beispiel Döner.
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