Immer wieder hört man, dass Leute ominös von den „dunklen Jahren zwischen 1933 und 1945“ sprechen, wie wenn bis 1932 alles super gelaufen wäre und ab dem 8. Mai 1945, pünktlich mit dem Abendbrot, alle Deutschen zu Demokraten wurden. Auch die Schlussstrich-Fraktion weist gerne darauf hin, dass „diese 12 unseligen Jahre“ keinesfalls die deutsche Geschichte bestimmen dürfen.
Nun, zum einen kann im Leben eines Landes, genauso wie im Leben eines Menschen, eine bestimmte Dekade wichtiger, bedeutender, bestimmender sein als die zuvor und danach. Zum anderen finden historische Zäsuren bei weitem nicht so trennscharf statt, wie man im Nachhinein feststellt. Große Ereignisse haben Vorgeschichten und Nachwirkungen.
Um zu zeigen, wieviel Vorwarnzeit vor den Nationalsozialisten es gegeben hätte – sowohl in Deutschland als auch international -, sehen wir uns heute die ersten Presseberichte über einen gewissen Adolf Hitler an, die im November 1922, mithin vor genau 100 Jahren erschienen.
Während heute bei einer Quizfrage nach Diktatoren des 20. Jahrhunderts der Name Hitler der meistgenannte sein dürfte, so wurde er 1922 noch hauptsächlich als eine billige, ja lächerliche Kopie ausländischer Staatsführer gesehen. So z.B. in einem Bericht des 8-Uhr-Abendblattes vom 11. November 1922, dessen Autor das „Hauptquartier des bayerischen Mussolini“ besuchte.
Lächerlich sind auch die Versuche, den Nationalsozialismus aufgrund des Namens in die sozialistische Ecke zu stellen, wie es die Vorsitzende einer Stiftung für politische Bildung tut. Da hat wirklich jemand den Bock(mist) zur Gärtnerin gemacht.

Schon 1922 durchschaute der Reporter diesen Versuch, den eigentlich niemand mehr unternehmen sollte, der weiß, dass Sozialisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten unter den ersten Opfer der Nazis waren. Übrigens ebenfalls lange vor 1933.
… Partei, die sich nationalistische Arbeiterpartei nennt, aber mit Sozialismus und Arbeiterschaft sehr wenig zu tun hat und eher hypernational als national ist.
Ebenso durchschaute er den wahren Zweck der angeblichen politischen Abendschulung, wo die jungen Männer vielmehr „die Handhabung von Schusswaffen und Handgranaten sowie Gummiknütteln“ erlernten. Ob das bei der oben genannten Stiftung der AfD ebenso ist? Man kann nur hoffen, dass sich die heutigen jungen Menschen nicht aus Versehen für das falsche Erasmus-Stipendium bewerben und anstatt in Wien oder Warschau bei der Wehrsportgruppe landen. Obwohl, früher oder später wollen die ja auch nach Wien und Warschau.

Aber was erfuhr nun der Reporter von dem „Plakatmaler und Bohème dritter Garnitur“?
Aus seinen Worten spricht ein ideenloser, leerer Schlagwortmensch, der sich auf dem Wege politischer Demagogie […] eine Position verschaffen will.
Aber eines wurde schon bei der ersten Begegnung deutlich:
Sein Programm ist der krasseste Antisemitismus. Judenhass als Weltanschauung. Judenhass als Weltpolitik. Judenhass, und nichts weiter.
„Der Jude ist die Pest“, fuhrt Hitler fort. […] „Ich kämpfe für die Rassereinheit des deutschen Volkes und der ganzen Welt.“
Also, wenn Euch die Großeltern sagen, sie hätten von nichts gewusst und Herrn Hitler nur gewählt, weil er gegen die Vermögenssteuer war, dann würde ich das nicht glauben. Ganz abgesehen davon, dass es dämlich ist, wenn sich Reihenhausbesitzer von BlackRock, Carsten Maschmeyer oder in deren Diensten stehenden Politikern einreden lassen, die Millionärssteuer würde genau auf sie abzielen.

Hitler kündigt sodann gegen die Sozialisten „einen Terror [an], wie ihn die Welt noch nie gesehen hat“, beschwichtigt aber: „Wir wollen die Juden nicht ausrotten,“ sondern ihnen „nur“ alle staatsbürgerlichen Rechte entziehen. Außerdem sollten alle „Fremden“ Deutschland verlassen müssen. (Hitler hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht die deutsche Staatsbürgerschaft!)
Wie zerfressen von Hass und Antisemitismus Hitler bereits 1922 war, wird auch deutlich, als er die christliche Kirche als „verjudet“ bezeichnet, weil diese das Alte Testament – „ein verbrecherisches Werkzeug jüdischen Geistes“ – lehre. Ebenso seien Papst Alexander VI., Kaiser Wilhelm II. und König Edward VII. Juden (gewesen). Jesus hingegen war laut Hitler Germane.
Das ausdrückliche Verdikt des Reporters:
Die Nationalsozialisten sind lächerlich.
Er bedauert, dass man diese 4000 bis 5000 „Desperados“ überhaupt ernst nehme.
Ein Besuch bei Herrn Hitler musste mich davon überzeugen, dass er von beiden Seiten mächtig überschätzt wird,
schließt der Autor des Abendblattes und sollte sich damit mächtig irren. Nur ein Jahr später, im November 1923, unternahm Hitler seinen ersten gewaltsamen Putschversuch. Aber dazu gibt es in einem Jahr wahrscheinlich einen eigenen Beitrag in dieser kleinen Geschichtsreihe.

Auch die internationale Presse nahm bereits elf Jahre vor der Machtübernahme von Herrn Hitler Notiz. So brachte die New York Times am 21. November 1922 folgende Geschichte:
Dieser Artikel fokussiert sich auf die Disziplin seiner kampfbereiten Anhänger. Auch der offene Antisemitismus wird angesprochen, allerdings dramatisch unterschätzt.
But several reliable, well-informed sources confirmed the idea that Hitler’s anti-Semitism was not so genuine or violent as it sounded, and that he was merely using anti-Semitic propaganda as a bait to catch masses of followers and keep them aroused [and] enthusiastic.
Demnach bestätigten mehrere zuverlässige und gut informierte Quellen, dass Hitlers Antisemitismus nicht so aufrichtig oder gewaltsam war, wie er geäußert wurde, und dass er die antisemitische Propaganda lediglich als Köder nutze, um die Scharen seiner Anhänger bei der Stange und in Stimmung zu halten.
Dabei schreibt der Reporter der New York Times auch, dass sich Juden bereits Unterschlüpfe in den bayerischen Bergen gesucht hätten, wohin sie ihre Familien in Sicherheit bringen könnten, wenn es zu einer „antisemitischen Bartholomäusnacht“ käme. Die Bartholomäusnacht von 1572 war ein Pogrom gegen französische Protestanten, die Hugenotten, gewesen.

Wie man die Furcht vor einem Pogrom äußern, aber gleichzeitig den aggressiven Antisemitismus der Nazis herunterspielen kann, das geht mir nicht ganz ein. Wie wir wissen, kam es im November 1938 tatsächlich zu gesteuerten Pogromen in ganz Deutschland und Österreich.

Aber vom Parteinamen ließ sich auch der amerikanische Korrespondent nicht täuschen:
There is nothing socialistic about National Socialism.
Der Artikel in der New York Times hat jedoch einen anderen Fokus, weniger einen programmatischen, fast einen folkloristischen: Hitler und die Nationalsozialisten werden als eine bayerische Regionalpartei präsentiert. Ich finde es zwar grundsätzlich nicht falsch, vor der Gefahr bayerischer Provinzparteien zu warnen, insbesondere vor denen, die sich wie die NSDAP oder die Hisbollah einen bewaffneten Arm leisten. Aber die Wahlen würden bald zeigen, dass der Nationalsozialismus keine bayerische Besonderheit war.

Anders als in anderen Teilen Deutschlands wurde die NSDAP in Bayern vor der (schon nicht mehr freien) Reichstagswahl 1933 niemals stärkste Partei.

Aber für den Mann von der New York Times sind die Nazis ein rein bayerisches Phänomen. Und ein rein städtisches:
Hitler’s movement is essentially urban in character. It has not yet caught a foothold among the hardy Bavarian peasantry and highlanders, which would make it really dangerous.
Die Bewegung Hitlers habe demnach einen städtischen Charakter. Unter den zähen bayerischen Bauern und Bergbewohnern habe sie noch nicht Fuß fassen können. Aber wenn dieser Zeitpunkt je käme, ja, dann würden die Nazis richtig gefährlich.
Da triefen die Bratwurstfettklischees auf die Lederhose. Und die Warnung vor den „Bavarian highlanders“ ließ bei Lesern in aller Welt wahrscheinlich solche Vorstellungen aufkommen:

Ich frage mich, was mein Urgroßonkel, der einige Monate zuvor aus den „Bavarian highlands“ in die USA ausgewandert war, sich dachte, als er am 21. November 1922 die New York Times las. Aber wahrscheinlich las er auch in den USA nur deutschsprachige Tageszeitungen, davon gab es nämlich hunderte.
Den Hitler-Putsch vom November 1923 habe ich oben schon angesprochen. Der Putschversuch scheiterte jämmerlich. Hitler wurde zu 5 Jahren Haft verurteilt, aber im Dezember 1924 nach nur neun Monaten Haft entlassen.
Auch dazu gibt es einen kurzen Beitrag in der New York Times vom 21. Dezember 1924 mit der Überschrift „Hitler durch Gefängnis gezähmt.“
Laut dem Bericht verließ Hitler das Gefängnis in geknickter, aber geläuterter Stimmung. Es habe sich gezeigt, dass weder er, noch seine Bewegung eine ernsthafte Gefahr darstellen. Und dann der letzte Satz, so einfach, knapp und kurz, dass man ihn immer wieder lesen und sich einen Alternativverlauf für das 20. Jahrhundert ausmalen will:
It is believed he will retire to private life and return to Austria, the country of his birth.
Also:
Es wird davon ausgegangen, dass sich Hitler ins Privatleben zurückziehen und in sein Geburtsland Österreich zurückkehren wird.
Tja. So kann man sich täuschen.
Als Ausländer hätte Hitler nach § 9 II 1 Hs. 2 Republikschutzgesetz (und erst recht entsprechend seinen eigenen politischen Forderungen) nach Verbüßung der Strafe ausgewiesen werden müssen.
Aber derjenige, der stets lautstark getönt hatte, dass man alle „Fremden“ aus dem Reich entfernen müsse, weil diese Deutschland wie ein Krebsgeschwür unterwanderten u.s.w., wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Abschiebung. Mit Erfolg. Zehn Jahre später, im Februar 1932, erhielt er sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. Das war kurz vor knapp, denn da war Hitler schon Kandidat für die Wahl zum Reichspräsidenten im darauffolgenden Monat. (Das ist die Wahl, bei der die Hohenzollern eine sehr unrühmliche Rolle spielten.)
Hitler hatte die Zeit in der Haft genutzt, um das Buch „Mein Kampf“ zu schreiben. Er wollte das mit der Weltherrschaft, dem Antisemitismus und der Unterjochung Osteuropas klar und deutlich publizieren, damit die Deutschen nach 1945 nicht alle behaupten könnten, sie hätten „von nichts gewusst“. Haben sie dann aber trotzdem gemacht.
Ich bin immer noch schockiert, wenn ich auf meinen Reisen in aller Welt, von Albanien bis Bolivien, von Isfahan bis Istanbul, dieses Buch in unkommentierter Ausgabe auf Flohmärkten oder in Buchhandlungen entdecke.

Wirklich, Leute, abonniert lieber diesen Blog, wenn Ihr Euch für Geschichte interessiert! Da gibt es im Rahmen der Reihe „Vor hundert Jahren …“ jeden Monat mindestens einen Beitrag, der meist den ganz großen Bogen vom Damals zum Heute zu spannen versucht.
Oder Ihr lest Romane aus jener Zeit. Die sind nämlich oft erstaunlich weitsichtig und prophetisch, zum Beispiel „Die Stadt ohne Juden“, in der Hugo Bettauer bereits 1922 die Rassengesetze, die Ausweisung der Juden, die Begeisterung darüber bei den Christen und die Weltwirtschaftskrise vorwegnimmt. Oder „Das Spinnennetz“, in dem Joseph Roth schon 1923 über die Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung, den Aufstieg Hitlers und der NSDAP und deren Verbindungen zu Adel und Reichswehr schreibt.
Links:
- Alle Folgen aus der Reihe „Vor hundert Jahren …“. Wenn Ihr Vorschläge zu Themen habt, die 1923 passiert sind und nächstes Jahr ihr Hundertjähriges feiern, nur her damit!
- Mehr Geschichte.
- Und mehr Berichte aus Deutschland, aus Österreich, aus Bayern und speziell über die Nazis.
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Vielen Dank für die Aufklärung.
Schönen 1. Advent
Jakob
Dankeschön!
@andreas der Jakob, da oben, will nur ein billigen backlink auf seine Spamseite haarschneider-testsieger.de setzen.
Oh, danke für den Hinweis! Ich habe den Link entfernt.
Aber da du den Link genannt hast, drehen wir uns jetzt im Kreis. 🙂
Jedenfalls ist das deprimierend. Da schreibt man über Geschichte, ganz ernsthaft, fundiert und recherchiert, und Leute kommen nur auf meinen Blog, weil ich so heiße wie eine Haarschneidemaschine.
Ich kannte die übrigens gar nicht, bis ich im Iran war und mich viele Leute fragten, ob ich der von dieser Haarschneidemaschinenfirma sei.
In Süditalien fragten mich alle, ob ich aus der norditalienischen Fahrradrennfahrer- und Sportfahrradherstellerfamilie sei.
Und vor 30 Jahren wurde ich in Deutschland noch oft gefragt, ob ich mit dem Schauspieler Hans Moser verwandt sei. Das hat sich aber gelegt, weil den jetzt niemand mehr kennt.
Am liebsten bin ich in Österreich oder der Schweiz, wo jeder weiß, dass Moser einfach ein Allerweltsname ist und dass es genauso doof wäre, da irgendwelche Verbindungen zu konstruieren, wie wenn man jede Frau Schmidt fragen würde, ob sie mit dem Bundeskanzler verwandt sei.
Jedenfalls habe ich tatsächlich einige Jahre so eine Haar- und Bartschneidemaschine benutzt, aber da wurden die Haare immer so dämlich kurz und gar nicht elegant. Aber da ich ständig in anderen Ländern lebte, wo ich die Sprache nicht konnte, hatte ich große Furcht davor, zum Friseur zu gehen und einem Missverständnis aufzusitzen und mit lila Glatze oder so rauszukommen.
Aber als ich in Targu Mures in Rumänien lebte, sah ich im Fenster des Friseurs ein Schild, dass der Haarschnitt nur 9 Lei, also nur 1,80 Euro kosten würde. Da dachte ich, das riskiere ich mal. Die Friseuse konnte Rumänisch und Ungarisch, ich nichts davon, aber sie hat dann einfach signalisiert, dass ich auf denjenigen der im Salon anwesenden Kunden zeigen sollte, dessen Schnitt ich in etwa haben wollte.
Das Ergebnis war besser als meine eigenen Schnitte, und ich ließ die Haarschneidemaschine (und noch allerhand andere praktische Dinge, unter anderem einen Laserdrucker und Winterklamotten) für den Vermieter zurück, als ich nach Brasilien zog. Seither gehe ich trotz allen Fremdsprachenbarrieren weltweit zum Friseur.
Mein Tipp ist: Immer die am billigsten aussehende Bude wählen – so wie diese in Kiew: https://andreas-moser.blog/2020/01/02/kiew-tag-18-21-friseur/ -, da kommen die Friseure gar nicht auf die Idee, irgendwelche Experimente an einem zu statuieren.
Den günstigsten Haarschnitt (1,50 Euro) bekam ich in San José de Chiquitos im bolivianischen Chaco, wo zwei Jungs in einer offenen Garage saßen und ihr Nintendo-Spiel unterbrachen, um als Friseure zu agieren. Dieser Chaco ist übrigens auch, wo Hans Kundt und Ernst Röhm in den 1930ern Krieg gegen Paraguay führten, um hier endlich wieder zur Geschichte zurückzukehren. Aber da schreibe ich mal einen gesonderten Artikel, spätestens zum hundertjährigen Jubiläum in 10 Jahren. Obwohl, wenn ich das Jubiläum schon so rechtzeitig auf dem Schirm habe, könnte ich eigentlich auch ein Buch darüber schreiben.
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