„Wo wir waren“ von Norbert Zähringer

Wie jeder Blogger leide ich darunter, noch kein Buch geschrieben zu haben, und mich deshalb auf die Frage, was ich beruflich mache, nicht prätentiös als „Schriftsteller“ oder „Autor“ bezeichnen zu können.

Wobei ich die Frage nach dem Beruf ziemlich übergriffig finde. Ich meine, was geht es vollkommen Fremde an, womit ich kein oder kaum Geld verdiene? Und das Traurige ist: Je nachdem, was ich antworte, behandeln mich die Menschen vollkommen unterschiedlich. Obwohl ich genauso (un)freundlich, (un)lustig, (un)sympathisch und (un)zuverlässig bin, egal ob ich mich als Jurist, als Student oder als Landstreicher vorstelle.

Das ist echt eine verdammt oberflächliche Gesellschaft, wo dich Menschen danach beurteilen, was auf deiner Visitenkarte steht. Naja, wenigstens habe ich überhaupt Visitenkarten. Dieses Mindestmaß an Höflichkeit bei der gegenseitigen Vorstellung kennen ja viele Menschen gar nicht mehr.

Ich sollte mir öfter einen Spaß daraus zu machen, einfach zu lügen und mich als Fußballspieler, Scharfschütze oder Astronaut vorzustellen.

Ach ja, Astronauten, da könnte ich jetzt den Bogen – und zwar einen wunderschön geformten Bogen, so wie die elliptische Flugbahn des Halleyschen Kometen – zu dem in der Überschrift angekündigten Roman „Wo wir waren“ von Norbert Zähringer schlagen. Der beginnt nämlich am 21. Juli 1969, als bekanntlich ein paar kleine Männer auf dem großen Mond landeten.

Aber ich wollte anders zu diesem Thema ein- und hinleiten, und ich lasse mir diese anfängliche Idee nicht durch eine spätere, einfachere Idee zunichte machen. Also: Falls es jemals von mir ein Buch geben wird, dann auf keinen Fall einen Roman. Vielleicht Reiseerzählungen, vielleicht etwas Historisches, vielleicht ein pamphletisches Manifest, vielleicht sogar Witz und Humor, schlimmstenfalls etwas über Verfassungsrecht, aber niemals einen Roman.

Ich kann nämlich keine komplexen Handlungsstränge erfinden.

Meine Erzählungen verlaufen deshalb entweder linear, weshalb sich insbesondere Wanderungen oder Zugreisen als Zeitstrahl eignen, an dem sich meine Beobachtungen entlang hangeln. Oder es sind, was niemanden überraschen wird, der bis hierhin mitgelesen hat, vollkommen unzusammenhängende Bewusstseinsströme, oder vielmehr Bewusstseinssprünge, was mir sogar dann gelingt, wenn ich, wie bei einer Eisenbahnfahrt nach Stockholm, eigentlich über einen linearen Zeit- und Handlungsstrang verfüge. Ein Leser hatte dazu bemerkt, dass er in der Mitte des Artikels nicht mehr wusste, von wo nach wo die Reise eigentlich ging. Ein typisches Beispiel für Kritik, die als Lob missverstanden wurde. Naja, besser so als umgekehrt.

Da fällt mir ein, dass ich endlich „Ulysses“ lesen wollte. Der hatte ja diesen Februar hundertjähriges Jubiläum und hätte sich somit eigentlich für meine kleine Geschichtsreihe „Vor hundert Jahren …“ geeignet. Aber wie soll ich über ein Buch schreiben, das ich noch nicht gelesen habe? Andererseits, bei „Nosferatu“ habe ich es auch so gemacht. Dafür gab es im Februar einen anderen literarischen Leckerbissen.

Wo war ich? Ach ja, bei „Wo wir waren“.

Denn in diesem Roman sind so viele Handlungsstränge auf so elegante und meisterhafte Weise mit- und ineinander verwoben, dass ich aus der Bewunderung gar nicht mehr rausgekommen bin. Es beginnt mit der Mondlandung, geht dann zurück zum Ersten Weltkrieg, dann zur Flucht aus dem Memelland nach dem Zweiten Weltkrieg, immer wieder vor und zurück, nach Italien, in den Vietnam-Krieg, zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, nach Nepal und nach Kasachstan. Ein bisschen wie beim „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und so weiter“, nur nicht linear. Und ernster.

Jede Geschichte hat ihre eigenen Protagonisten, wobei insbesondere die Kinderfiguren echt stark sind. Manchmal ein bisschen zu aufgeweckt für ihr Alter, aber das ist ja immer so bei Kinderfiguren in der Literatur. Eigentlich schon seit Jesus, oder spätestens seit dem „Fänger im Roggen“, wobei ich letzteren irgendwie lockerer fand als ersteren.

Natürlich muss es auch Erwachsene geben, wobei die vorher ebenfalls Kinder waren. Zumindest manche. Manchmal sind sie auch die Eltern der Kinder. Oder die Adoptiveltern. Oder diejenigen, die die Kinder umbringen wollten. Das wissen die dann aber nicht. Oder zumindest nicht gleich.

Wie hier alles mit allem zusammenhängt, aber sich das große Welten-, Familien- und Geschichtspuzzle erst langsam ineinander fügt, das ist brillant.

Und Norbert Zähringer macht das nicht plump oder forciert. Er ordnet das Buch auch nicht diesem Wahnsinnsplan unter. Nein, jede Geschichte für sich allein wäre schon der Hammer. (Wenn Ihr ein bisschen schwach auf der Brust seid, lasst die Vietnam-Geschichte vielleicht aus.) Nur die Silicon-Valley-Story hat mich kalt gelassen. So Tech-Fuzzies und Multimillionäre sind halt einfach langweilig. Das hätte es nicht gebraucht.

Jedenfalls war das endlich mal wieder ein Roman, für den ich ein paar Abende hintereinander sehr lange und sehr gerne wachgeblieben bin. Absolute Empfehlung!

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  • Mehr Buchempfehlungen (und dazwischen ein paar Nichtempfehlungen) sowie meine Wunschliste für weiteren Lesestoff. Ich finde es übrigens unhöflich, wenn Menschen keine Wunschliste haben. Dann vergeudet man als Schenkender wahnsinnig viel Zeit, um sich ein Weihnachtsgeschenk zu überlegen, und dann passt es überhaupt nicht.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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5 Antworten zu „Wo wir waren“ von Norbert Zähringer

  1. Kasia schreibt:

    Danke für die Buchempfehlung. Ich bin ein kritischer Leser, was Literatur betrifft; ich lese gerne Romane, doch die meisten sind mir zu homogen und vorhersehbar. Preisgekrönte Literatur empfinde ich oft als schwere Kost – ja, ich möchte unterhalten werden, aber auf einem hohen Niveau. Und was meine eigene Schreiberei betrifft, so kann auch ich mir keine Erzählstränge ausdenken, da habe ich kein Talent zu. Für einen Reisebericht reicht es, aber Erzählstil allein macht noch lange keinen Autor aus…

    • Andreas Moser schreibt:

      Dann wäre dieses Buch vielleicht etwas für dich.
      Keine schwere Kost, aber auch nicht vorhersehbar. Und durch den Riesenfundus an Personen ist von sympathisch über unsympathisch bis ambivalent alles dabei.

      Ich sehe mich auch eher als am-Lagerfeuer-Geschichten-Erzähler denn als Autor.

  2. Jane schreibt:

    Landstreicher finde ich sehr sympathisch.

  3. Andreas Moser schreibt:

    Wenn mir ein Buch so wahnsinnig gut gefällt wie dieser Roman, dann probiere ich natürlich andere Bücher des gleichen Autors.

    „So“ ist auch ziemlich komplex, mit vielen Personen, die auf die absurdesten Arten miteinander verbunden sind. Aber hier geht Zähringer zu weit. Denn zum Teil verwebt er drei Handlungsstränge in einem Absatz. Zwei Zeilen aus Handlungsstrang 1, zwei Zeilen aus Handlungsstrang 2, zwei Zeilen aus Handlungsstrang 3, ein Dialog aus Handlungsstrang 2, der jedoch auf Handlungsstrang 3 verweist, u.s.w.
    Man kann es auch übertreiben.

    Außerdem mag ich grundsätzlich keine Bücher, in denen ständig gepoppt wird.

    Ich habe bei der Hälfte abgebrochen, obwohl ich natürlich gerne wissen würde, wie der Bankraub ausgeht.

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