Nachdem ich während der letzten Nebelwanderung in Ungarn eine römische Ruinenstadt entdeckt hatte, mache ich mich am nächsten nebligen Novembertag wiederum auf den Weg, ganz gespannt, was ich diesmal entdecken würde. In Székesfehérvár (deutscher Name der Stadt: Stuhlweißenburg) nehme ich den Bus Nr. 32 bis zum letzten Halt an der Stadtgrenze und gehe dann einfach nach Osten, wo ja angeblich die Sonne aufgeht.
Ich entdecke: Nichts.
Zumindest anfänglich. Der Nebel ist so dicht, wenn ich nicht grundsätzlich ein Frühaufsteher wäre und die Uhrzeit ungefähr an meinem Hungergefühl ablesen könnte, ich hätte keine Ahnung, ob es Vormittag oder Nachmittag wäre oder ob die Sonne schon endgültig ihren Geist aufgegeben hat und wir nur noch ihre letzten Strahlenzuckungen mitbekommen.
Die einzigen Vögel, die ich höre, sind Krähen. Krähen, die höhnisch krächzen, als sie sehen, dass da jemand in sein Verderben marschiert. Tote Bäume ragen aus dem Moor wie die Arme von versunkenen Moorleichen. Schreien sie um Hilfe, oder wollen sie mich warnen?
Den grünen Wagen habe ich wohl bemerkt, aber nachsehen will ich lieber nicht. Wer hier wohnt und schon seit Jahren keinen anderen Menschen mehr gesehen hat, überreagiert vielleicht, wenn es plötzlich an der Tür klopft.
Einen Kilometer weiter glimmt ein Feuer, und ich sehe ein paar Männer im Nebel verschwinden. Wahrscheinlich Torfstecher, die sich für den kommenden Winter eindecken. Es wird ein harter Winter, sagen die Leute.

Auch hier tue ich so, wie wenn ich nichts gesehen habe. Nicht, dass sie mich für den Gutsverwalter oder den Komitatspolizisten halten und auf mich schießen.
Schafe stehen am Wegrand, aber nicht fröhlich kauend und mäh-mähend wie sonst. Nein, ganz apathisch starren sie mich an. Wie wenn sie verhext sind. Oder mich davor warnen wollen, selbst verhext zu werden.
Vielleicht wohnt in dem Holzwagen der Schäfer? Oder die Torfstecher waren Wilderer? Warum dann das Feuer? Warum ist hier alles so unheimlich? Wo bleibt die Sonne?
Ich mag die Natur gerne, wirklich. Aber wenn man lange genug in der Natur war, dann freut man sich auch wieder über ein Stück Zivilisation. In diesem Fall sind es die Eisenbahnschienen, denen ich erleichtert zu folgen beschließe.

Die müssen ja zurück nach Székesfehérvár führen. Oder in eine andere Stadt. Und wenn ich Glück habe, was normalerweise der Fall ist, kommt ein Zug, sieht mich rechtzeitig und lässt mich einsteigen, anstatt mich zu überfahren.
Aber anscheinend ist heute Eisenbahnerstreik, denn es kommt kein Zug.
Als ich schließlich den nächsten Bahnhof zu Fuß erreiche, merke ich, dass dieser auch bestreikt wird. Und zwar schon seit dem Zweiten Weltkrieg, wie es aussieht.
Aber was ist das?!
Nein, ich meine nicht die zwei Reiter der Apokalypse, die grußlos an mir vorüber galoppieren, ihre Köpfe in Kapuzen gehüllt, der eine mit einem Gewehr über der Schulter, der andere mit einem toten Schaf über dem Sattel.

Ich meine das hier:
Zwischen den Bäumen, mitten auf einer großen Lichtung, lugt aus dem noch immer dichten Nebel ganz zaghaft ein Gebäude hervor, das zwei Hörner zu tragen scheint. Und kein normales Gebäude, sondern ein Schloss! Was auch immer das hier zu suchen hat.
Ich bin heilfroh, dass ich alleine unterwegs bin. Denn jede Begleitung würde spätestens jetzt sagen: „Andreas, lass uns abhauen!“ Und ich gebe ja zu, die Rufe der Krähen, die Toten im Moor, der dichte Nebel, die Torfstecher, das Feuer, die Reiter, die mehr wie Gespenster als wie Menschen aussahen, das alles ist ein bisschen unheimlich.
Aber auch verlockend. Oder nicht?
Für mich jedenfalls gilt: Wenn irgendwo eine Burg oder ein Schloss (oder ein geheimes militärisches Objekt) herumsteht, dann sehe ich mir das aus der Nähe an. Schöner Landsitz, mit einem großen Park. Sogar ein Brunnen ist noch zu sehen.
An der Tür steht eine Warnung vor Stromschlägen für ungebetene Eindringlinge. Nicht sehr gastfreundlich. Aber beim Umrunden des Schlosses ist mir ein offenes Kellerfenster aufgefallen.
Noch während ich mich so geschickt durch das offene Fenster fallen lasse, dass es wie ein Unfall aussieht, denke ich: „Hoppla, wie soll ich da je wieder rauskommen?“ Manchmal wäre es eben doch besser, zu zweit unterwegs zu sein.
Vor allem, weil das Innere des Schlosses nicht mehr ganz stabil ist. Und weil ich ein paar Mal fast durch die Decke krache.
Ups, das war knapp.
Tja, was man nicht so alles auf sich nimmt, um den Innenarchitekturfans unter Euch exklusive Aufnahmen mit aus dem Urlaub zu bringen.
Und der Rückweg ist auch gesichert, wie Ihr seht. Mit den Balken, die da herumliegen, lässt sich mit handwerklichem Geschick, das ich mir noch irgendwie aneignen muss, eine Leiter bauen. Denn ohne Leiter, das habe ich schon gemerkt, komme ich aus dem Keller nicht wieder ins Freie. Ich hoffe nur, dass diese Holzpfeiler nicht wichtig sind, um den Bau zu stützen. Also fange ich an, zu ziehen und zu schleppen, während das Schloss ächzt und wackelt. Hoffentlich hört und sieht das von draußen niemand.
Apropos draußen: Die Sonne setzt sich langsam durch. Es wird wärmer, fröhlicher, und mit dem dadurch gewonnenen Mut ändere ich meinen Plan und springe beherzt vom Balkon, um die mich sowieso schon langweilende Heimwerkerei abzukürzen.

Und siehe da: In der Zeit, die ich in den Katakomben verbracht, mich im Schloss verlaufen und an meinen Ausbruchplänen getüftelt habe, ist es tatsächlich schön geworden.
Im Vergleich zu den schaurigen Nebelbildern von nur wenigen Stunden zuvor ist das jetzt richtig kitschig, oder?
Noch kitschiger wird es beim nächsten Schloss, nur wenige Stunden später. Aber dazu mehr in einem anderen Artikel.

Erst später habe ich von Gräfin Báthory gehört, die Hunderte von jungen Frauen ermordet hat, um in deren Blut zu baden. Aber damit will ich Euch jetzt nicht behelligen, schließlich wollt und sollt Ihr das Schloss unvoreingenommen besuchen.
Praktische Tipps:
- Ihr könnt auch mit dem Bus Nr. 718, 8010 oder 8013 ganz in die Nähe des Schlosses fahren. Haltestelle ist Csala Alsó. Die Fahrt von Székesfehérvár kostet 400 Forint (= 1 Euro). Der Bus fährt etwa jede Stunde, auch am Wochenende.
- Wenn Ihr meinem Weg folgen wollt, nehmt Ihr vom Bahnhof in Székesfehérvár den Bus Nr. 32 bis zur letzten Haltestelle, Kassai utca / Nagyszombati utca, und geht von da immer nach Osten, einfach dem Feldweg entlang. Einmal müsst Ihr einen Fluss durchqueren, aber der ist nicht tief, keine Sorge. Am Ende von Bild Nr. 5 biegt Ihr nach Norden/links ab, und dann seht Ihr bald das Schloss. Der Spaziergang dauert maximal eine Stunde.
- Wenn Ihr wesentlich länger unterwegs seid und kein Schloss seht, dann habt Ihr Euch verlaufen. Tut mir leid!
Links:
- Mehr Berichte aus Ungarn findet Ihr hier.
- Architekt des Kégl-Palasts war Alajos Hauszmann, der bei der Ausgestaltung seiner Paläste gerne über die Stränge schlug.
- Wenn Ihr Schösser mögt, gefällt Euch vielleicht auch meine Burgenwanderung.
- Und natürlich meine Wanderung zu den bayerischen Königsschlössern Hohenschwangau und Neuschwanstein.
- Auch auf Sizilien habe ich mitten im Nebel ein kleines Schlösschen entdeckt.
Schön spukiger Text & tolle Fotos!
Vielleicht machen wir dahin mal einen Ausflug. Is ja nicht weit.
Und es sind noch eine ganze Menge weiterer Schlösser in der Umgebung.
Hier nur ein paar Beispiele:
https://en.wikipedia.org/wiki/Fej%C3%A9r_County#Gallery
Estaba conteniendo la respiración … hasta que el sol por fin … que manera de relatar tus andanzas.
Pues, solo era un pequeno paseo por la manana.
Diese Gegend ist viel zu unbekannt für uns. Warum lässt man uns dort nicht Urlaub machen?
Einfach machen!
Es ist gar nicht so weit, und für über 65-Jährige aus EU-Staaten sind Züge, Busse, Straßenbahnen u.s.w. sogar gratis.
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Sicher hat die Sache einen Haken. Ach ja, stimmt – ich hab das Alter noch nicht.
Dieses Problem wird sich schneller von alleine lösen als uns lieb ist. 😐
Einfach toll geschrieben… komme gerne mal mit 😊
Die knorrigen Äste der Bäume sind die abgestorbenen und vertrockneten Gliedmaßen derer, die die Hexe verflucht und ins Moor gesperrt hat, wusstest du das nicht? Ich vermute hier die blutsaugende Gräfin, die sich im und ums Anwesen herumtreibt und sich im dichten Nebel verbirgt. Vermutlich bist du bei deinem Sprung in den Keller versehentlich auf die Hexe getreten und hast sie so umgebracht, anders kann ich es mir nicht erklären, wie sich so plötzlich der Nebel aufgelöst haben konnte.
Du schaffst es tatsächlich, einem ein Land wie Ungarn (=habe bisher nix Interessantes darüber gehört oder gelesen außer bei dir im Blog) zur ungemütlichsten Jahreszeit schmackhaft zu machen, alle Achtung 🙂
Das wäre tatsächlich eine Erklärung für den plötzlichen Wetterumschwung!
Und es bedeutet, dass es jetzt sicher ist, und alle hinwandern und sich das Schloss ansehen können. (Außer die dubiosen Gestalten auf den Pferden treiben noch immer ihr Unwesen.)
Der November in Ungarn war so schlecht, ein nebliger Tag war einfach um Längen besser als ein regnerischer Tag. 😉 Also habe ich mir gedacht: Den Tag nutze ich!
Aber es war wirklich spukig. Wenn da ein Kobold vorgeigehoppelt wäre, hätte mich das auch nicht mehr gewundert.
Vielleicht braucht es auch so Orte wie Székesfehérvár, wo nicht gerade der Bär steppt, um neue Dinge zu entdecken. Wenn man in Paris oder in Barcelona wohnt, fährt man wahrscheinlich nie mit dem Bus zur letzten Haltestelle und geht dann einfach über die Felder ins Unbekannte.
Die geisterhaften Reiter hatte ich ganz vergessen! Ich vermute, das war die Leibgarde der Hexe. Und während die mit dem Ausnehmen des Schafes beschäftigt waren, hattest du in der Zwischenzeit ungeschickterweise die Hexe getötet. Tja, die werden sich jetzt rächen wollen, ich würde nicht mehr hin fahren.
In Barcelona oder Paris nimmt man sich kaum Zeit für Abenteuer, weil es so viel „Must See“ zu sehen gibt, dass die Zeit wohl zu „schade“ ist. Am besten sind immer noch Orte, wo man nicht weiß, was einen erwartet. Es ist schön, sich überraschen zu lassen.
Na ja, aber von Ungarn erwarte ich jetzt Nebel, Kobolde, Spukschlösser und tote Hexen 😉
Jetzt, wo ich mir die Geschichte dieses Schlosses durch den Kopf gehen lasse, wird mir auch klar, warum kein Auto angehalten hat, als ich zurück nach Szekesfehervar trampen wollte. (Denn zweimal bei den Schafen und Torfstechern vorbeizugehen erschien mir als wirklich dämliche Herausforderung des Schicksals.)
Naja, nach 10 Minuten kam dann eh ein Bus, der mich netterweise in der Nähe des zweiten Schlosses rausgelassen hat.
Und ich glaube, im Sommer hat Ungarn schon Sonne und warme Tage. Um den Balaton/Plattensee sah zumindest alles nach Badeurlaub aus, mit vielen Strandbädern, Eisdielen u.s.w. Aber das sieht im Herbst/Winter so richtig traurig-verwaist aus, da hätte ich eigentlich auch irgendwo einsteigen und fotografieren sollen.
Ich mag mittlerweile so kleine Orte mehr, weil ich da nicht wie „erschlagen“ bin von all den Möglichkeiten. Und dazu kommt, dass der Aufenthalt in Ungarn wieder ein Housesitting war, ich also den konkreten Ort gar nicht selbst ausgewählt habe. Ich wusste vorher echt gar nichts über die Gegend, hatte auch keine riesigen Erwartungen. Umso größer dann die Überraschung.
Pingback: The Castle in the Fog | The Happy Hermit
Die Fotos sind aber sehr schön, aber hallo!
Ob ich mit dir spazieren gehen würde, weiß ich noch nicht so recht. Irgendwie hast du einen Hang zu ungemütlichen Orten 🙂
Ich war auch wirklich froh, die Kamera eingepackt zu haben. Denn spätestens als da dieses Schloss aus dem Nebel auftauchte, da wusste ich: Ohne Fotos glaubt mir das keiner.
Und ich war selbst ganz hin und weg und kam aus dem bewundernden Staunen nicht mehr raus.
Immer, wenn ich eine Freundin hatte, gab die bald auf, mich zu begleiten und traf sich lieber am Abend in einem gemütlichen Café mit mir, wo ich dann mit durchfrorenen Fingern von der Wanderung erzählen sollte.
Und ich weiß gar nicht, ob ich so viel entdecken würde, wenn ich nicht überwiegend allein unterwegs wäre.
Na, du traust dich was! Schön geschrieben.😉 Gut, dass du nicht bis Mitternacht geblieben bist, und mit dem Geist der Blutgräfin (so heißt der Spielfilm über die Gräfin) czardas tanzen musstest.
Pass auf dich auf.
Ne, das wäre dann echt zu spukig!
Außerdem wäre es kalt geworden, und ich hätte niemanden mit einem Feuer auf mich aufmerksam machen wollen.
Und dazu kommt, dass ich nicht einmal tanzen kann. 😦
Um Mitternacht war ich schon wieder sicher zuhause, bzw. beim Housesitting mit den kuschelnden Katzen.