Wer öfter mit dem Zug unterwegs ist, kennt das: Es gibt bestimmte Bahnhöfe, an denen man immer wieder Halt macht, um umzusteigen, aber die dazugehörige Stadt lernt man nie kennen.
So haben ICE-Fahrgäste schon Millionen von Stunden in Fulda oder Kassel zugebracht, sind aber nie über den Bahnhof oder allenfalls die dazugehörige Kneipe hinausgekommen. Man hat meist nur eine Stunde Zeit oder ist auf dem Weg von der Arbeit oder der Fernbeziehung zu müde, um sich historische Altstädte anzusehen. Auf dem Weg von Amberg zur Universität in Regensburg und zurück bin ich hunderte Male in Schwandorf umgestiegen, aber weiter als bis zum Zeitschriftenladen kam ich während der ganzen Zeit nie.
In Rumänien erfüllt der Ort Războieni diese Funktion. Beim Studieren des Fahrplans der rumänischen Eisenbahn fiel mir immer wieder dieser Name auf. Egal ob von Târgu Mureș (deutsch: Neumarkt am Mieresch) nach Cluj (Klausenburg), von Timișoara (Temeschwar) nach Brașov (Kronstadt), von irgendwo sonst nach überallhin, jeder Zug, der das Land durchquert, fährt durch oder endet in Războieni. „Das muss ja eine wichtige Stadt sein“, dachte ich mir und freute mich auf die paar Stunden Aufenthalt, die mir der großzügige Fahrplan dort jedes Mal gwähren würde.
Burgen, Schlösser und Museen erwartend, sprang ich aus dem Zug, rannte durch die Bahnhofshalle und sah – nichts.
Nur Felder, mit Raureif bedeckt. Ein einzelner Feldweg, an dessen Ende in ein paar Kilometern Entfernung ein Dorf lag. Das war also Războieni, der rumänische Eisenbahnknoten. Dass sich der Weg zu den paar Häusern am Horizont nicht lohnen würde, sah ich auch von hier. Ich drehte mich um, wieder dem Bahnhof zugewandt, und bemerkte erst jetzt dessen armseligen Zustand.
Ja, das Foto zeigt den Haupteingang.
Es gab keinen Kiosk, keinen Laden, keinen Getränkeautomaten. Links neben dem Bahnhofsgebäude stand ein Haus, das mal ein Wirtshaus gewesen sein könnte. Es war leer, tot und traurig anzusehen.
Ich ging in die Wartehalle (es war zu kalt, um draußen herumzustehen), wo schon einige Bahnkunden schliefen. Wenigstens hatte ich genug zum Lesen dabei.
Ähnlichen Duchgangscharakter haben Grenzorte. Wenn man von Rumänien nach Serbien fährt, steigt man kurz nach der Grenze in dem serbischen Ort Vršac um, den auszusprechen einem leichter fällt, wenn man sich an dem deutschen Namen Werschetz orientiert. Vršac ist zwar durchaus eine Kleinstadt (35.000 Einwohner), aber weil man nur eine Stunde Wartezeit hat und man dringend nach Belgrad will, hängt man meist am Bahnhof herum.
Dieser ist jedoch um vieles schöner und strahlt den Glanz des Habsburger- oder des jugoslawischen Königreichs aus. Auch tummelt sich hier die internationale Jugend, die ihre Ersparnisse oder ihr BAföG in die Erkundung des Kontinents gut investiert.
Auf der Rückfahrt nach Timișoara traf ich hier zwei Amerikaner, von denen einer kein Hotelzimmer für die Nacht und auch keinen Plan zur Beseitigung dieses Notstands hatte. Da ich schon ein Doppelzimmer gebucht hatte, nahm ich ihn kurzerhand mit und machte dann die ganze Nacht kein Auge zu, weil Tyler aus Tennessee schnarchte wie ein Bär.
Ob dieser Hund, der mein Gepäck beschnüffelte, zur Zollkontrolle gehörte oder einfach nur herrenlos herumspazierte, konnte nicht geklärt werden. Jedenfalls fand er nichts Interessantes.
Außerhalb des Bahnhofs steht die obligatorische alte Diesellok vor dem obligatorischen verfallenden Haus aus besseren Zeiten.
Und dann hingen im Wartesaal noch Bilder von dem gleichen Zweck gewidmeten Orten aus aller Welt an der Wand, wie z.B. das Foto dieser auf den Zug wartende Familie aus Tunesien. Eindrücke aus der weiten Welt in einem verschlafenen Balkanstädtchen, wie wenn der Bahnhofsvorsteher von Vršac ausrufen will: „Wenn Ihr dämlichen Touristen schon keinen Tag in unserer Stadt verbringen wollt, dann hänge ich halt ein paar internationale Fotos auf!“
Und schon kommt der Zug nach Belgrad, und es geht weiter, an die Orte, die es aus einer Laune der Geographie oder der Geschichte zu Hauptstädten und Metropolen gebracht haben.
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Habt Ihr auch so einen Ort, an dem Ihr jeden Tag oder jede Woche umsteigt, eine halbe Stunde verbringt, aber noch nie jenseits des Bahnhofs- oder Flughafengebäudes geblickt habt?