Und damit habt Ihr den 371. Grund, endlich mal Rumänien zu besuchen: Timișoara wird eine der Europäischen Kulturhauptstädte 2021. Wie alles im multilingualen Rumänien hat auch Timișoara einen deutschen Namen: Temeschwar, Temeswar oder Temeschburg.
Obwohl ich ein Jahr in Rumänien gewohnt habe, habe ich keine eigene Fotos von Timișoara, wie ich gerade feststelle. Ich habe die Stadt im äußersten Westen Rumäniens nur zweimal auf dem Weg nach und von Belgrad kurz besucht, wollte immer wieder zurückkommen, und habe es dann – hauptsächlich weil Rumänien viel größer ist als ich es mir vorstellte – nie geschafft. Also auch für mich ein Grund, mal wieder nach Rumänien zu fahren.
Das erste Mal kam ich an einem kalten Oktobertag nach einer langen und quälend engen Busfahrt in Timișoara an. Es regnete in Strömen. Ich musste den Nachmittag totschlagen, bis ich abends bei Elena unterkommen konnte, die mir über Couchsurfing eine Übernachtung angeboten hatte. Die Straßen in der ganzen Innenstadt waren aufgerissen für irgendwelche Kanalarbeiten, und im Regen watete ich durch den Schlamm, während mir von Stunde zu Stunde kälter wurde.
Und dennoch gefiel mir die Stadt. Timișoara war mal ungarisch, mal osmanisch, mal österreichisch, für kurze Zeit serbisch gewesen und jetzt natürlich rumänisch. Die Stadtviertel heißen noch immer Josefstadt, Elisabethstadt oder Freidorf. Die Innenstadt ist eine typische Stadt im Habsburgerstil, und lange vor der Krönung als Kulturhauptstadt konnte ich mich an eine Menge Buchläden, Gallerien und ein umfangreiches Theaterprogramm in rumänischer, ungarischer und deutscher Sprache erinnern.
Der Siegesplatz hingegen wird von rumänischer Architektur, insbesondere der rumänisch-orthodoxen Kathedrale der heiligen drei Hierarchien mit den märchenschlosshaften Türmen, der Handelskammer und dem Nationaltheater dominiert.
Couchsurfing-Gastgeber sind meist sehr freundlich und hilfsbereit, aber das umfangreiche Essenspaket, das mir Elena am nächsten Morgen mitgab, hatte ich wirklich nicht erwartet. Sie packte mir genug Sandwiches, Obst und Kohlrouladen ein, um während der gesamten Zugfahrt nach Belgrad zu essen, mich dort in einen Park zu setzen um weiterzuessen, und den Rest, den ich in jener Woche unmöglich noch verschlingen konnte, mit einem Obdachlosen zu teilen.
Zwei Wochen später, auf dem Rückweg von Belgrad nach Timișoara traf ich im Zug auf Tyler, einen jungen Mann aus Tennessee in den USA. Er hatte ein Jahr lang wie wild geschuftet, war wieder bei seinen Eltern eingezogen, ging nicht mehr aus, weil er alles für eine einjährige Weltreise sparen wollte. Er wollte über Rumänien und Bulgarien nach Istanbul und war von Europa höchst angetan. „Wenn das so weitergeht wie bisher, kann ich sogar drei Jahre lang reisen. Ich gebe viel weniger Geld aus als geplant, weil ich ständig von Mädchen eingeladen werde, ein paar Wochen in ihrem Strandhaus zu wohnen“, wunderte er sich über kontinentale Gastfreundschaft, und ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass das hauptsächlich daran lag, dass er aussah wie Brad Pitt.
Tyler hatte allerdings zuviel Vertrauen in die Pünktlichkeit der rumänischen Bahn, und dachte deshalb, dass einige Minuten Aufenthalt in Timișoara genug wären, um den Nachtzug nach Bukarest zu erwischen. Die rumänische Staatsbahn CFR garantiert jedoch bei jeder Fahrt eine Mindestverspätung von 30% oder 2 Stunden, je nachdem was länger ist. Da ich ihn nicht auf dem Bahnhof erfrieren lassen wollte und da ich zufällig ein Hotelzimmer mit zwei Betten gebucht hatte, nahm ich ihn einfach mit und ließ mir dafür ein Abendessen (wieder Krautrouladen) spendieren. Die ganze Nacht lag ich dann wach und bereute meine Gastfreundschaft, weil Tyler schnarchte wie ein Bär. Aber ich gleite ab in persönliche Anekdoten, wenn ich doch eigentlich über Timișoara schreiben will.
Ich finde die Wahl vor allem deshalb verdient, weil Timișoara in der Geschichte des Falls des Ostblocks eine Rolle spielt, die nur deshalb vergessen wurde, weil 1989 überall auf der Welt so viel passierte, dass niemand den Überblick behielt. Dass die rumänische Revolution im Dezember 1989 in Timișoara begannen, war vielleicht kein Zufall. Dort, an der Westgrenze des Landes, konnte das jugoslawische und ungarische Fernsehen empfangen und von den Angehörigen der serbischen und ungarischen Volksgruppen im Banat verstanden werden. Die Banater Schwaben waren über familiäre Kontakte über das Ende der DDR unterrichtet. Die Berliner Mauer war zu dem Zeitpunkt schon offen, ebenso der Eiserne Vorhang zwischen Ungarn und Österreich. So fügte sich ein Gesamtbild von den Umwälzungen in Osteuropa, das die Rumänen motivierte, mit dem verhassten Diktatorenehepaar Ceaușescu Schluß zu machen. Das wurde dann allerdings blutiger als in allen anderen europäischen Staaten. Zehn Tage lang tobten die Kämpfe.
Vielleicht wie keine andere Stadt ist Timișoara deshalb dazu geeignet, sich der Fortschritte bei der Einigung zwischen Ost und West in Europa bewußt zu werden. Vor 27 Jahren Bürgerkrieg und Massaker, seit 9 Jahren EU-Mitgliedschaft und jetzt eine der Städte Europas mit der niedrigsten Arbeitslosenquote. Hier gedeiht nicht nur die Kultur, sondern auch Unternehmen aus aller Welt siedeln sich an. Der Boom zeigt auch dergestalt Wirkung, dass ich 2014 keine erschwingliche Wohnung in Timișoara fand und stattdessen nach Târgu Mureș ziehen musste.
Die weiteren Kulturhauptstädte 2021 werden noch zu bestimmende Städte in Griechenland und in Montenegro sein (ich hoffe auf Cetinje), so dass sich eine große Balkantour anbietet. Es gibt jedoch keinen Grund, damit noch fünf Jahre zu warten.
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